Florian Guggenbichler
© Florian Guggenbichler

Viel Innovation und wenig Altbewährtes

Florian Guggenbichler, Deutschland
Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG)

Mitgliederschwund bei der Deutschen Eisenbahnergewerkschaft… Ist Innovation die Lösung für das Problem?! Gelingt der Umbruch? Die Politik gibt Rückenwind und springt auf den Zug auf…

„Das wichtigste an einer Gewerkschaft sind die Interessen der Mitglieder, denn ohne ausreichende Vertretung dieser Interessen, gibt es keine Mitglieder und somit auch keine Gewerkschaft mehr.“  Leiter der Tarifpolitik (EVG)

Die Eisenbahnerverkehrsgewerkschaft kurz EVG, hat mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie auch jede andere Gewerkschaft in Europa: Mitgliederschwund und Überalterung der Mitglieder. Dennoch konnte die EVG in den letzten zwei Jahren eine Verjüngung erzielen, auch wenn diese Verjüngungskur sehr bescheiden ausfällt. Die Zahlen belegen dies schwarz auf weiß: 100.000 aktiven Mitgliedern stehen 90.000 nicht-aktive (pensionierte) Mitglieder gegenüber, man steht vor einem demografischen Problem. Die EVG muss sich wandeln, um auch in Zukunft bestehen zu können.

Die Eisen­bahn­verkehrs­gewerkschaft

Die EVG ist mit 32 Geschäftsstellen und 2 Hauptbüros in Deutschland vertreten. Sie findet sich unter dem Dach des Deutschengewerkschaftsbundes und zählt zu den kleineren Gewerkschaften des Dachverbandes. Bei der Gründung von Verdi war eine Fusionierung mit der EVG angedacht, diese wurde aber damals von der EVG-Führung abgelehnt. Dabei wurden die Vorteile einer kleinen Gewerkschaft in den Vordergrund gestellt.

Im Vergleich zu den anderen Verdi ca. 2 Mio. Mitglieder und IGM ca. 2,3 Mio. Mitgliedern mit mehreren Berufsgruppen vertritt die EVG die Berufs-Gruppe der Eisenbahner mit ca. 190.000 Mitgliedern. Dadurch ist der Umgang mit Ressourcen nicht so komplex wie bei den anderen Gewerkschaften, die viele Berufsbilder abdecken müssen. Für die EVG ist eine viel stärkere Fokussierung auf das Berufsbild der EisenbahnerInnen gegeben.

Kontakt

Martin Pakarinen  

martin.pakarinen@akwien.at

Banu Celik 
banu.celik@akwien.at

AK Wien - Bildungszentrum 
Theresianumgasse 16-18
1040 Wien

Innovation = Zukunftswerkstatt

Seit zwei Jahren geht die EVG einen neuen Weg der Mitbestimmung. Eine moderne, zeitnahe Gewerkschaft muss sich ihren Mitgliedern öffnen; nur so kann sie bestehen. Die EVG bereitet die Einkommensrunde/Tarifrunde mit der Deutschenbahn (DB) AG sehr lange und intensiv vor. Diese Verhandlungen sind deshalb so wichtig, da die umgesetzten Forderungen bei der DB AG mit großer Wahrscheinlichkeit auch bei den bevorstehenden Tarifverhandlungen mit den anderen Eisenbahnunternehmen aufgenommen werden.

Das Zauberwort heißt „Zukunftswerkstatt“ - dort werden Innovationen geformt und geschmiedet. Eine Zukunftswerkstatt besteht aus 6 regionalen Aktionsteams, die mit Funktionären, Hauptamtlichen, Betriebsräten und einfachen „wildentschlossenen“ Mitgliedern besetzt sind. Einfache Mitglieder deshalb, weil diese erfahrungsgemäß nochmal einen anderen Blickwinkel haben und tolle neue Ideen liefern. Gemeinsam werden in mehreren Workshops Themen diskutiert und daraus Forderungen für die Tarifverhandlung entwickelt. Am Ende dieser Workshops (Dauer: 3 x 2 Tage mit 100 Beteiligten) werden Kernforderungen herausgearbeitet. In einem Kernteam, das aus Experten besteht, werden die ausgearbeiteten Kernforderungen auf Umsetzbarkeit geprüft und danach festgelegt.

Nach diesem Prozess lässt die EVG alle Mitglieder über fünf Kernforderungen online oder per Brief abstimmen. Die drei Kernforderungen mit den meisten Stimmen bilden die Hauptforderungen seitens der Arbeitnehmerschaft in der großen Tarifverhandlung mit der DB AG. Dieser neue Weg der EVG bringt mehr Mitbestimmung innerhalb der Gewerkschaft mit sich – etwas, das ich beachtlich finde und absolut für anwendbar bei den österreichischen Gewerkschaften halte. 

Durch diesen Prozess konnten folgende Tarifverträge entstehen

Tarifvertrag 4.0

Dieser Tarifvertrag bildet einen Grundstein für die zukünftige Arbeitswelt. Ich nahm selbst bei einem Workshop teil, bei dem die Arbeitgeberseite AGV Move und die Arbeitnehmerseite EVG vertreten waren. Gemeinsam tasteten sie sich an das Thema Zukunft heran und diskutierten wichtige Themen. Überraschenderweise betrachteten sie vieles aus dem gleichen Blickwinkel. „Wie stellen wir die Weichen für den Eisenbahnverkehr der Zukunft, sodass MitarbeiterInnen nicht auf der Strecke bleiben?“ Diese Veranstaltungen dienen dazu, den Tarifvertrag 4.0 laufend weiterzuentwickeln. 

Der Tarifvertrag 4.0 setzt auf folgende Schwerpunkte:

  • Vorgehensmodell zur Einführung von Prozessen zur Digitalisierung der Arbeitswelt
  • Kriterien zur Bewertung der Auswirkungen von digitalen Innovationen auf die Arbeitswelt
  • Verfahren bei Veränderung von Berufsbildern und Tätigkeiten
  • Mobile Arbeit/Rufbereitschaft
  • Teilhabe an Produktivitätssteigerung, Beschäftigungsfähigkeit und Beschäftigungssicherung
  • Ständige Evaluierung des TV Arbeit 4.0

Es ist absolut begrüßenswert, dass die EVG entschieden hat, sich aktiv an dem Veränderungsprozess Arbeit 4.0 zu beteiligen. Passend dazu ein schon oft gehörter Satz und mittlerweile auch Leitmotiv der EVG: „Wir müssen uns auf allen Ebenen stark machen für die Mitgestaltung - sonst sehen wir nur noch die Rücklichter des Schnellzuges 4.0.

Demografie-Vertrag

Dies ist ein Tarifvertrag, der die Mitarbeiter der DB AG vom Berufseinstieg bis zur Pensionierung begleitet. Die Arbeit muss den individuellen Bedürfnissen und einer größeren Vielfalt von Lebensstilen angepasst werden, auch bei der DB AG. Dafür setzt sich die EVG ein, denn die Arbeitswelt verändert sich ständig. Der Tarifvertrag wurde erstmals 2013 verhandelt und abgeschlossen. Es wurde vereinbart, dass der Tarifvertrag jährlich neu verhandelt wird. 

Wichtige Themenfelder des Tarifvertrages: 

  • Beschäftigungssicherung: Die Beschäftigungssicherung gilt unbefristet. Bei betriebsbedingten Kündigungen, egal, ob ein Arbeitsplatz durch Rationalisierung wegfällt oder durch Ausschreibungsverlust verloren geht, greifen die vereinbarten, Schutzmechanismen, insbesondere bei Leistungsverlust durch verlorene Ausschreibungen im Öffentlichen Straßenpersonennahverkehr.
  • Qualifizierung: Es besteht Anspruch auf Qualifizierungs- und Entwicklungsgespräche sowie auf finanzielle und zeitliche Unterstützung für freiwillige berufliche Weiterbildung.
  • Schutz bei Krankheit: Eine krankheitsbedingte Kündigung wegen Tauglichkeitsverlust oder anderen Erkrankungen ist ausgeschlossen. Es gilt das gleiche Verfahren wie bei rationalisierungsbedingtem Arbeitsplatzverlust.
  • Bildungsurlaub: Es wurde ein genereller Anspruch auf fünf Tage Bildungsurlaub pro Kalenderjahr festgeschrieben, unabhängig von den gesetzlichen Regelungen der Bundesländer.
  • Ausbau Langzeitkonten: Es soll ein neues langfristiges Anreizsystem entwickelt werden, damit auch Jüngere Langzeitkonten nutzen, um in der Phase vor dem Renteneintritt die Arbeitszeit absenken zu können.
  • Beruf und Familie: Die Balance von Beruf, Familie und Privatleben soll durch mehr Förderung von Teilzeitmodellen und Unterstützung bei Kinderbetreuung und Pflege verbessert werden. So kann auch Familienpflegezeit in Anspruch genommen werden.
  • „Besondere Teilzeit im Alter“: Verfügbar für Beschäftigte, die das 59. Lebensjahr bis spätestens 31. Dezember 2018 vollenden, zu diesem Zeitpunkt eine Betriebszugehörigkeit von mindestens 20 Jahren haben und zuletzt mindestens 10 Jahre in Wechsel- und Nachtschicht oder Rufbereitschaft tätig waren.
  • Telearbeit und alternierende Telearbeit: Telearbeit ist freiwillig von ArbeitnehmerInnen zu wählen und ermöglicht ihnen einen selbst disponierten Arbeitsort. Im Unterschied dazu wird bei alternierender Telearbeit vorrangig in der häuslichen Wohnung und teilweise im Betrieb gearbeitet. Das bedarf eines schriftlichen Antrages des Arbeitnehmers/der Arbeitnehmerin und bei Verständigung eine Nebenabrede zum Arbeitsvertrag.

Und nicht zu vergessen: das berühmte „EVG-Wahlmodell“

Das Wahlmodell - auch Cafeteria-Modell genannt - hat der EVG einen flächendeckenden Durchbruch ermöglicht. Anfangs wurde das Forderungspacket im Jahre 2016 bei der DB AG durchgesetzt und seither bei fast allen Eisenbahnverkehrsunternehmen und Bahnen, die nicht zum DB AG Konzern gehören. Es sieht danach aus, als hätte die EVG den Nerv der Zeit getroffen. Viele Menschen sind begeistert von den zeitgemäßen Forderungen der EVG. Einige Fernsehsender wie RTL und ARD begeisterten sich für dieses Modell so sehr, dass sie Beratung bei der EVG suchten, um eine Umsetzung des Modelles in ihren Organisationen zu erreichen. Das Wahlmodell sorgte für einen starken Mitgliederzuwachs und zunehmende Popularität der Gewerkschaft EVG.  

Inhalt des EVG Wahlmodelles:

Einmalzahlung:

  • für die Monate Oktober 2016 bis März 2017 in Höhe von 550 EUR
  • die Auszahlung erfolgt im Januar 2017

Lineare Erhöhung:

  • ab 01.April 2017 2,5 Prozent mehr Entgelt
  • ab 01. Januar 2018 Wahlmodell in Wert von 2,6 Prozent 

EVG Wahlrecht:

ab 01. Januar 2018 kann der Mitarbeiter frei wählen zwischen:

  • einer Erhöhung des Entgeltes von 2,6 Prozent
  • oder 6 Tagen zusätzlichen Erholungsurlaubs (rechtlicher Anspruch wie gesetzlicher Urlaub)
  • oder Arbeitszeitverkürzung von 1 Stunde pro Woche

MitarbeiterIn bestimmt mit!!!

Das Attraktive an dem Wahlmodell ist, dass MitarbeiterInnen indirekt in den Forderungsprozess miteingebunden sind. Dem Mitarbeiter/der Mitarbeiterin wird Mitbestimmung ermöglicht, man kann selbst wählen, individuell auf seinen Lebensstil angepasst. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die erneute Wahlmöglichkeit: MitarbeiterInnen dürfen alle 2 Jahre neu wählen zwischen mehr Geld oder Urlaub, oder Arbeitszeitverkürzung. Dies verkompliziert die Gehaltstabellen-Gestaltung, aber bringt noch mehr Flexibilität und Mitbestimmung mit sich. 

Die Auswertung über das EVG Wahlmodell hat ergeben:

  • 58,4% der Mitarbeiter wählten 6 Tage mehr Urlaub
  • 39,8% der Mitarbeiter wählten 2,6% mehr Gehalt
  • 1,8% der Mitarbeiter wählten 1 Stunde pro Woche Arbeitszeitverkürzung

Persönlich betrachte ich das Wahlmodell als fortschrittliche Forderung und an die Zeit angepasst Entgegen der Einschätzung von Experten haben sich. auch viele junge Menschen für mehr Freizeit entschieden. Wie schon gesagt: die EVG hat in vielen Dingen den Nerv der Zeit getroffen. Es wurden viele Innovationen in Hinblick auf Arbeitsmodelle, Tarifverträge und Mitbestimmung auf Schiene gebracht. 

Die Politik springt auf den Zug auf und gibt Rückenwind

Der Koalitionsvertrag von SPD und Union wurde seitens der EVG genau unter die Lupe genommen und in Bezug auf Schienenverkehr und Beschäftigungsbedingungen geprüft. Offenbar haben sich Union und SPD endlich dafür entschieden, der Schiene mehr Rückenwind zu geben, denn ohne Schienenverkehr wird es nicht möglich sein die Klimaschutzziele zu erreichen. Es hat ein Umdenken stattgefunden in Richtung des „Masterplans Verkehr“ der EVG, der doppelt so viel Fahrgäste und eine Steigerung des Gütertransportes bis 2030 vorsieht.

Auch die ArbeitnehmerInnen dürfen Gutes erwarten. Es wird eine Rückkehr von Teilzeit auf mehr Vollzeit angestrebt, eine langjährige Forderung des DGB. Auch eine Stabilisierung des gesetzlichen Rentenniveaus und die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung sind Teil des Koalitionsvertrages und absolut zu befürworten.

Positive Punkte aus dem Koalitionspapier

Aus verkehrspolitischer Sicht:

  • Wir wollen für alle Menschen eine moderne, saubere, barrierefreie und bezahlbare (Zugtickets sind vergleichsweise zu Österreich sehr teuer) Mobilität organisieren und dabei die gesellschaftlichen Herausforderungen meistern.
  • Privatisierungsverzicht, volkswirtschaftliche Ausrichtung der DB AG (nicht die Maximierung des Gewinnes, sondern die sinnvolle Maximierung des Verkehres auf der Schiene soll bei der DB AG im Vordergrund stehen)
  • „Schienenpaket 2030“ = Verdoppelung der Reisendenzahlen bis 2030
  • Ausbau des Güterverkehrs und kombinierten Ladungsverkehres

Aus arbeitsrechtlicher Sicht:

  • Einschränkung der sachgrundlosen Befristung (Arbeitgeber mit mehr als 75 Beschäftigten dürfen max. 2,5 % der Belegschaft sachgrundlos befristen)
  • Einschränkung von „Ketten-Arbeitsverträgen“
  • Erleichterung bei Gründung und Wahl von Betriebsräten („vereinfachtes Wahlverfahren“ = eindeutiges Bekenntnis zur Mitbestimmung im Betrieb)

Aus sozialpolitischer Sicht:

  • Die Parität bei den Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung wiederherstellen (Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung werden wieder in gleicher Höhe von AG und AN bezahlt)
  • Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen, Rechtanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter
  • Weiterentwicklung der gesetzlichen Unfallversicherung und des Berufskrankheiten-Rechts
  • 2021/2022 mindesten zwei Milliarden Euro für den sozialen Wohnbau

„Miteinander statt Gegeneinander“

Viele dieser Punkte im Koalitionsvertrag sind nur zustande gekommen, weil die SPD und die Gewerkschaften sich wieder für eine Zusammenarbeit entschieden haben. Die Zusammenarbeit wurde im Jahre 2015 wieder aufgenommen, ist aber immer noch stark zerrüttet und stellt sich sehr schwierig dar. Der Sozialabbau unter Rot/Grün in den Jahren 2000-2005 hatte ein starkes Misstrauen zwischen den Gewerkschaften und der SPD begründet. 

Fazit

Zusammengefasst: Die Sterne für die Eisenbahn- und Verkehrsgewerk-schaft EVG stehen gut. Viele Probleme wurden vorzeitig erkannt, und es wurden Maßnahmen eingeleitet, um ein starkes Fortbestehen der Gewerkschaft zu garantieren. Auch die Politik mit ihrem deutlichen Ausspruch für mehr Eisenbahn und Eindämmung der Privatisierung gibt zusätzlichen Aufwind. Vor allem die Mitbe-stimmung in Form von Zukunftswerk-stätten hat mich begeistert. In dieser Zeit bei der EVG wurde mir noch mehr bewusst, wie wichtig dieser ständige Austausch mit anderen Gewerkschaften ist. In einer stark vernetzten und globalisierten Welt können ArbeitnehmerInnenrechte nur grenzübergreifend geschützt werden.

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