Christian Wersonik
© Christian Wersonik

Sechs auf allen Seiten

Bei Tarifverhandlungen geht es nicht nur um Entgelterhöhung und Rahmenbedingungen, sondern auch um Widerspiegelung von gegenseitiger Wertschätzung und Respekt. Der Abschluss ist am Ende transparent und wird publiziert, aber der Weg dorthin bleibt geheim. Oder doch nicht?

Christian Wersonik, Deutschland
Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE)

Ankommen

Ankunft im Bäder Park Hotel mit einer stylisch eingerichteten Hotelhalle: Es begrüßt uns eine nette Stimme an der Rezeption. Es duftet nach ätherischen Ölen. Vorbereitet sind zwei Räume, die an den Türen mit Bannern der IG BCE flankiert sind. Die Räume füllen sich mehr und mehr. Nur nicht den falschen Raum erwischen! Ich werde dem Verhandlungs­leiter der Arbeitgeberseite vorgestellt. Dieser begrüßt mich freundlich und erklärt mir, dass es ihn freue, mich als Beobachter dabei zu haben, denn sie seien durchaus stolz darauf, wie die Tarifverhandlungen ablaufen.

Der Kontakt mit dem Verhandlungspartner erfolgt erst nach der Vorbesprechung. Eine Anspannung unter den Verhandlungs­teilnehmern ist spürbar. Erst als der Verhandlungs­leiter der Arbeitnehmerseite seine Grußworte zur Eröffnung der Vorbesprechung spricht, verstummt das rege Gemurmel. Dieser Verhandlungsleiter wurde von der Tarifkommission nominiert.

Die Tarifkommission setzt sich mehrheitlich aus ehrenamtlichen Vertrauens­leuten und einem geringen Anteil an Haupt­amtlichen (Gewerkschafts­funktionärInnen) zusammen. Sie bilden den Verhandlungspartner auf Landes- oder Bundesebene für Arbeitnehmer­Innen und stehen dem Verhandlungs­team der Arbeitgeber­Innen gegenüber. Der Verhandlungs­leiter trägt die Verantwortung nach innen und außen. Er wurde aufgrund seiner Erfahrung und seines rhetorischen Geschicks auserwählt und ist die zentrale Figur im Verhandlungs­prozess.

Grundsätzlich ist es üblich, sich vor dem Verhandlungs­beginn noch einmal abzusprechen und die Strategie zu wiederholen. In der Verhandlung sollte jeder seine Rolle kennen und die Argumentationen verinnerlicht haben. Die Argumentationen werden vor der Verhandlung in der Tarif­kommission abgestimmt und auch beschlossen. 

Kontakt

Martin Pakarinen  

martin.pakarinen@akwien.at

Banu Celik 
banu.celik@akwien.at

AK Wien - Bildungszentrum 
Theresianumgasse 16-18
1040 Wien

Zusammenkommen

Es wird in einen anderen Raum gewechselt. Der Raum, in den wir jetzt kommen, ist halbseitig gefüllt. Auf Arbeitgeberseite sind bis auf den letzten Platz alle besetzt, und die Herren haben sich bereits eingerichtet. Rege Diskussion unter den HR Managern und Geschäftsführern, die üblicherweise die Vertretung der Arbeitgeber übernehmen, werden geführt. Die restlichen Teilnehmer sind vertieft in ihre Arbeiten an den Tablets und Laptops. Ein freundliches Händeschütteln bei Betreten des Raumes entfällt. Lediglich prüfende Blicke gleiten durch den Raum. Wer wird dieses Jahr für das Gegenüber antreten? Kurz herrscht Hektik, aber nur so lange, bis jeder seinen Platz gefunden und sich eingerichtet hat. Abwartende Stille. 

Entgegenkommen

Marc Welters, der Verhandlungsleiter auf Arbeitnehmerseite, beginnt mit seiner netten Begrüßung und steigt sofort in die Thematik ein. Das Schlüsselwort heißt „6“. Ein 6er-Träger mit deutschem Bier und der Aufschrift „Tarifrunde Kautschuk 2018“ wird dem Verhandlungsleiter der Arbeitgeberseite übergeben.  Wir sehen einen riesengroßen, symbolischen Würfel – 6 Augen auf jeder der 6 Flächen – das Spiel kann beginnen, wir können alle gewinnen.  

Marc Welters versucht die Situation auf eine Ebene zu bringen, in der eine gute Atmosphäre herrscht. Tarifverhandlungen sollten auf einer sachlichen Ebene geführt werden, dennoch darf die persönliche Ebene nicht ganz fehlen.

Zuerst werden vorsichtige Statements der beiden Verhandlungsführer abgegeben, in denen jeder seinen Standpunkt klarlegt. Danach folgen Präsentationen mit Zahlen und Fakten, die europäische und deutsche Wirtschaft und die Arbeitnehmer betreffend, aus Sicht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber.

Werner Voß, zuständiger Industriegruppen-Sekretär für Kautschuk, Glas und Mineralöl in Deutschland, startet seine Präsentation. Als erstes wird die wirtschaftliche Lage Deutschlands klar dargestellt. Die Präsentation ist nicht nur inhaltlich, sondern auch optisch gut auf die Tarifrunde Kautschuk zugeschnitten. Zum Punkt „Alter – Arbeitszeit reduzieren“ erscheint auf der Leinwand die Karikatur eines springenden Menschen, der Jugend und Vitalität vermittelt. Eine weitere Karikatur ist eine erhobene Faust. Sie erinnert an den Gruß von Nelson Mandela, hier ist sie ein Symbol für mehr Fairness. Es wird gefordert „weg mit der Mauer – Arbeitszeit auf ein Niveau“. Dies soll auch ein Hinweis auf den Unterschied zwischen Ost- und West-Deutschland sein. Die nächste Darstellung für die Forderung von mehr Geld ist leicht verständlich: 6 % mehr Gehalt. Eine weitere Karikatur steht für „mehr leben“: Familienförderung in der Kautschukindustrie wird dargestellt mit einer Familie, die voll Freude die Freizeit genießt.

Mit diesen einprägenden Karikaturen werden die einzelnen Präsentationsseiten dargestellt. Die Bilder sind nur eine Umrahmung, die sich über sämtliche weiteren Präsentationen der Arbeitnehmerseite hindurchzieht und immer wieder indirekt auf die einzelnen Forderungen hinweist. Doch zum Großteil besteht diese Wirtschaftspräsentation aus Zahlen, Daten und Fakten zu Europa und Deutschland: 2,2 % Steigerung des Bruttoinlandsprodukts, 87,5 % Auslastung, Beschäftigung auf Rekordniveau und regional sogar Vollbeschäftigung, Reduktion der Arbeitslosenquote auf ein niedriges Niveau von 5,8 % und einen Beschäftigungszuwachs von 641.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland. Diese und ähnliche Zahlen laufen über den Bildschirm und zeichnen ein positives Bild der Wirtschaftslage.

Bekommen

Nach Beendigung seiner Präsentation übergibt Werner Voss das Wort an die Arbeitgeberseite. Der Verhandlungsführer ergreift das Wort und, wie sollte es anders sein, sehen die eben präsentierten positiven Effekte für die Arbeitgeber nicht ganz so positiv, eher ein wenig subpositiv, aus. Die Zahlen werden zwar nicht infrage gestellt, aber ein wenig anders dargestellt.  So hat z. B. der Dieselskandal beziehungsweise die Thematik des Dieselmotors und die Reduktion von Abgasen weltweit in Verbindung mit Dieselmotoren einen Schatten auf Deutschlands Wirtschaft geworfen. 

Es werden ganze Standorte aufgezeigt, die aufgrund dieser Thematik in die Problemzone rutschen, da der Output des Standorts zu einem hohen Prozentsatz auf Diesel zugeschnitten ist. Und die weltweite Konkurrenz der Kautschukindustrie darf auch nicht vergessen werden. Es wird erklärt, dass es Länder gibt, die am Energie- und Rohstoffsektor bessere Voraussetzungen haben und man sich auf die gute Konjunktur, die zurzeit vorherrscht, nicht verlassen kann. Alles in allem stellt sich eine nicht ganz so positive Stimmung der Wirtschaft in Deutschland ein.

Nach dieser Präsentation ereignet sich etwas, das für mich sehr verwunderlich ist: Auf der Arbeitnehmerseite werden von verschiedenen Vertrauenspersonen und/oder BetriebsrätInnen aus den hier versammelten Unternehmen, die aktiv an Tarifverhandlungen beteiligt sind, Darstellungen geliefert.

Eine Spannung zwischen den einzelnen Vertretern wird spürbar, fast greifbar.

Ich bewundere die offene und ehrliche Darstellung beider Verhandlungsseiten. Auf einem sehr sachlichen Niveau ohne Emotionen werden verschiedenste Thematiken angesprochen: das Ost-West-Gefälle, Fehler des Managements an Standorten, Fehlentscheidungen bei Investitionen, Ausrichtungen einzelner Standorte auf die Zukunft und die klare und deutliche Sicht der Belegschaft beziehungsweise der Vertrauenspersonen oder BetriebsrätInnen.

Marc Welters, Verhandlungsführer der Arbeitnehmerseite zieht nach dieser Runde ein Resümee. Es wird nochmals explizit auf die Forderungen eingegangen. Mehr Geld heißt für uns 6 %. Der Wirtschaft geht es gut, und das gilt auch für die Kautschukindustrie. Hervorragende Umsatz- und Ergebniszahlen spiegeln sich in den Planungen für 2018 wider, und wir wollen unseren gerechten Anteil davon. Die Ausbildungsvergütung soll einheitlich erhöht werden. Eine Aufbesserung im 4. Ausbildungsjahr wird gefordert. 

„Mehr leben“ durch angepasste Arbeitszeiten wird gefordert, denn unterschiedliche Lebenslagen erfordern angepasste Arbeitszeiten. Die Arbeitszeitverkürzung für Ältere war ein richtiger und wichtiger Schritt, denn es gilt auszubauen. Aber auch die Betreuung von Kindern und die Pflege von Angehörigen müssen in der Arbeitswelt einen Platz finden.

Mehr Fairness ist ebenso ein Ziel, und die Unterschiede zwischen Ost und West müssen beseitigt werden. Die Mauer fiel vor fast 30 Jahren, doch in der Tariflandschaft gibt es noch immer deutliche Unterschiede. Dies gilt es zu bewältigen, damit zusammenwächst, was zusammengehört.

Die Spannung im Raum baut sich auf, denn Marc stellt die entscheidende Frage: Wie sieht die Arbeitgeberseite diese Positionen bzw. wie steht sie dazu? Ist diese Basis bei den Arbeitgebern angekommen?

Meinem Empfinden nach wirkt das Gegenüber etwas unabgestimmt, ja, vielleicht sogar etwas überrascht von diesen Forderungen. Eine klare und definitive Entscheidung, in welche Richtung weiterverhandelt werden kann bzw. ob eine Verhandlungsbasis gefunden wurde, kann aus den Reaktionen nicht klar herausgelesen werden.

Lediglich ein klares Statement wird von Arbeitgeberseite abgegeben: 6 % Tariferhöhung sind definitiv zu viel der Forderung. Auf die Frage hin, ob die Arbeitnehmerseite diese revidieren will, kam ein klares Statement dieser, dass 6 % die Ausgangssituation der Verhandlungen seien.

Entkommen

Man sieht in fragende Gesichter gegenüber. Es ist bereits 12:00 Uhr mittags, und die Arbeitgeber machen den Vorschlag, sich jetzt zu beraten und nach der Pause, die zur Einnahme eines Essens genutzt wird, einen ersten Vorschlag abzugeben.

Die Pause wird genutzt, um am Buffet die liebevoll zubereiteten und leckeren Speisen zu konsumieren. Der Raum duftet nach verschiedensten Gewürzen und Speisen. Aufgrund der Bauweise ist der Raum sehr hell und vermittelt eine angenehme Atmosphäre. Auffallend ist, dass auch nach circa 30 Minuten nur ganz wenige Vertreter der Arbeitgeberseite diesen Raum aufsuchen.

Die Bauweise des Gebäudes und die großzügig ausgeführten Glasbereiche an mehreren Seiten des Speisesaals geben einen tollen Ausblick auf den gesamten Parkplatz dieses Hotels. Mir fällt auf, dass bereits einige Arbeitnehmervertreter das Hotel und mit ihren Autos ebenso das Gelände verlassen. Warum? Um positiv zu denken, finde ich die Erklärung darin, dass es sicher einige Geschäftsführer oder Personalvertreter gibt, die nachmittags wichtige Termine eingetragen haben und dadurch nicht weiterverhandeln können. Nachdem die Arbeitgeberseite allerdings anzahlmäßig ziemlich gleich besetzt ist wie die Arbeitnehmerseite, denke ich, dass die Abwesenheit einiger 

weniger nichts für den weiteren Verlauf der Verhandlungen zu bedeuten hat.

Zeitgleich in der Pause passiert aber Folgendes: Der Verhandlungsführer der Arbeitgeberseite trifft sich mit dem Verhandlungsführer der Arbeitnehmerseite und unterbreitete diesem, dass es an diesem Tag keine weiteren Verhandlungen mehr geben wird, was gleichzeitig bedeutet, dass es auch kein Angebot von der Arbeitgeberseite geben wird. Für die Herren der Arbeitgeberseite ist diese erste Verhandlung abgebrochen.

Weiterkommen

Beim Betreten des Raumes nach der Mittagspause blicke ich in entsetzte Gesichter. Den Arbeitnehmervertretern ist anzusehen, dass sie nicht wissen, was sie von dieser Reaktion halten sollen.

Sind den Arbeitgebern die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tatsächlich so wenig wert? Nämlich so wenig, dass ihnen die Zeit zum Diskutieren zu schade ist?

Ist das ihr Stil mit unterschiedlichen Ansichten umzugehen? Indem man sich ohne sich zu verabschieden verabschiedet?

Ist es nicht so, dass die Belegschaft im abgelaufenen Geschäftsjahr wesentlich zum Ergebnis beigetragen hat?

Ist das die Wertschätzung, die den Erfolgsträgern entgegengebracht wird?

Lässt man die Chance ungenutzt, konstruktive Gespräche zu führen und sich Diskussionen zu stellen?

Ja!

Die Arbeitgeberseite weigert sich, ein Gegenangebot vorzulegen, verhandelt nicht und verlässt den Verhandlungsort. Eine offizielle Verabschiedung steht nicht auf der Tagesordnung.

Die gesamten Arbeitnehmervertreter sind sich einig: Diese Art des Beendens der Verhandlungen zeigt eine Respektlosigkeit gegenüber den Beschäftigten, die durch die Bundestarifkommission vertreten werden. Offenbar ist keine zügige Verhandlung gewollt.

Abschließend werden weitere Schritte und Maßnahmen in den einzelnen Betrieben, sowie eine Aussendung der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie besprochen und vereinbart.

Die Schlussworte hat natürlich der Verhandlungsführer Marc. Er fordert die Arbeitgeberseite auf, ein klares Statement abzugeben.

Ich bin mir sicher, dass nicht nur die Mitglieder der Tarifkommission, sondern alle Beschäftigten stinksauer über so ein Verhalten sind. Die Arbeitgeber werden die Auswirkungen an ihren Standorten spüren. 

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Banu Celik

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martin.pakarinen@akwien.at

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