Stephan Leicht
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Brexit: Danger ahead!

In Irland wird es eine Grenze geben – die Wirtschaft könnte crashen… der Friede auch?

Stephan Leicht, Irland
Services, Industrial, Professional and Technical Union (SIPTU)

Als einziges Land der EU hat die Republik Irland eine Festlandgrenze zum United Kingdom, nämlich zu Nordirland.

Ich berichte vom Hineinwirken der konfliktreichen irischen Geschichte in das heutige Irland, vom Bundeskongress der irischen Gewerkschaften, welcher im Zeichen des Brexits stand, und über die soziale und ökonomische Bedeutung des Brexit. Und wie mir klar wurde, warum der Brexit ein Bauchthema ist …

Die irische Geschichte …

„Kennst du die Geschichte Irlands?“ Mit dieser rhetorischen Frage eröffnen viele irische GewerkschafterInnen, NGO-MitarbeiterInnen und PolitikerInnen ihre Gespräche mit mir. Auf meine Antwort kommt es nicht an, zu sehr wollen sie mir ihre Geschichte als IrInnen erzählen:

Wir schreiben das Jahr 1916. Irland existiert noch nicht als selbständige Republik, sondern ist Teil des Commonwealth (Staatenbund unter dem United Kingdom). Soeben haben 7 Iren die Oster-Proklamation – die irische Unabhängigkeitserklärung - unterzeichnet. Einer der Unterzeichner ist der irische Gewerkschafter James Connolly.

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Die Proklamation wurde in der Liberty Hall angebracht, jenem Gebäude, in dem ich während meines Auslandspraktikums bei der irischen Gewerkschaft SIPTU arbeite. James Connolly wird angeschossen und schwer an den Beinen verwundet. Weil er wegen seiner Verletzungen bei seiner Exekution nicht stehen kann, wird der Verletzte an einem Stuhl festgebunden und hingerichtet… Dieser barbarische Akt der Kolonialmacht United Kingdom gilt als einer der Kernauslöser für den irischen Unabhängigkeitskrieg (1919 bis 1921).

Wesentlich dabei ist: Die irische Gewerkschaftsbewegung und die Entstehung der irischen Republik sind eng miteinander verbunden. Der Sitz der Gewerkschaft SIPTU ist jene geschichtsträchtige Liberty Hall, die zu gleich das höchste Haus im Zentrum Dublins ist(!).

Zurück zur Geschichte: Der Süden Irlands erhält nach den Unabhängigkeitskriegen den Status eines Freistaates innerhalb des Commonwealth. 1949 tritt die Irische Republik aus dem Commonwealth aus, was jedoch nicht für die nordirischen Provinzen gilt.

Die systematische Besiedelung der nördlichen Provinz Ulster durch protestantische Engländer und Schotten beginnt ab 1606. Diese Besiedlung, Plantation of Ulster genannt, führt innerhalb relativ kurzer Zeit zur Enteignung der irischen Bevölkerung zugunsten der neuen Siedler. Verschiedene Aufstände brachten jedoch keine Verbesserung, sondern führen zur weiteren Entrechtung der katholischen Einwohner Irlands.

Der Nordirlandkonflikt beherrscht die nordirische Politik von 1969 bis 1998. Die Konfliktparteien sind die englisch- und schottischstämmigen unionistischen Protestanten, die die Vereinigung mit dem United Kingdom wollen. Die radikalen UnionistInnen werden auch als LoyalistInnen bezeichnet. Die überwiegend irischen KatholikInnen, die den Anschluss an die Republik Irland anstreben, werden als Republikaner bezeichnet.

1998 beendet das Karfreitagabkommen den gewaltvollen Nordirlandkonflikt. Es ist eine Übereinkunft zwischen der Republik Irland, dem United Kingdom und den Parteien Nordirlands.

… lebt im Hier und Jetzt, vor allem in Nordirland

Ich reise gerade zum Bundeskongress der irischen Gewerkschaften in die nordirische Stadt Derry. Auf meiner Reise fallen mir die zahlreichen britischen und irischen Fahnen auf, welche vor etlichen Häusern angebracht sind. Sie bringen die politische Gesinnung ihrer BewohnerInnen zum Ausdruck. Während die Landkarte die Stadt Derry als Londonderry bezeichnet, besteht wirklich jede Irin und jeder Ire darauf, dass kein London in Derry ist.

Am Bundeskongress der irischen Gewerkschaften fällt mir auf, wie viele britische Gewerkschaften vertreten sind: Unite und Unison beispielsweise. Auch wird mir mitgeteilt, dass die britischen Gewerkschaften in der Republik Irland stark vertreten sind und Mitglieder werben. Ich werde gefragt, ob in Österreich deutsche Gewerkschaften vertreten sind, was ich verneine.

Ich denke, dass man an diesem Beispiel den Einfluss des United Kingdom auf die Republik Irland sehr stark nachvollziehen kann.

Warum ist der Brexit in Irland ein Bauchthema?

Der Bundeskongress der irischen Gewerkschaften in der nordirischen Stadt Derry beginnt mit dem Hauptthema: einem Expertenvortrag zum Thema Brexit.

Hauptbotschaft des Vortrages ist, dass Güter und Dienstleistungen, welche die Zollschranke der EU überqueren, verzollt werden. Nach dem Brexit wird diese Zollbarriere zwischen Nordirland und der Republik Irland verlaufen. Völlig ungeklärt ist die Frage, ob Personenfreizügigkeit gewährleistet sein wird. Der Experte erläutert die möglichen Szenarien, die alle eine weiche/offene Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland vorsehen, räumt jedoch ein, dass diese offene Grenze vor allem wegen der Verzollung technisch kaum möglich sein wird.

Doch damit nicht genug: Während Nordirland zu 58 Prozent gegen den Brexit gestimmt hat(!), koalieren die zwei größten Parteien Nordirlands Sinn Fein (Partei der irischen RepublikanerInnen) und die DUP (Partei der United Kingdom - UnionistInnen) seit zwei Jahren nicht. Alle wesentlichen Entscheidungen werden demnach in London getroffen werden.

Mit anderen Worten: Nordirland läuft führungslos in den Brexit.

Einige GewerkschafterInnen treten nach dem Experten ans RednerInnenpult und verweisen darauf, dass das Karfreitagabkommen, welches den Frieden in den letzten 20 Jahren in Nordirland gewährleistet hat, ohne Regierung völlig ungeschützt ist. Sie verweisen darauf, dass es nicht nur um die Frage einer offenen oder einer geschlossenen Grenze geht, sondern um Krieg oder Frieden. Sie rufen sichtlich tief bewegt dazu auf, dass alle irischen Gewerkschaften, egal ob sie britisch oder republikanisch irisch sind, in folgendem Punkt geeint sein müssen: Ohne Regierung in Nordirland sind die geeinten Gewerkschaften die stärkste politische Kraft, um das Karfreitagabkommen zu schützen und den Frieden zu gewährleisten.

Am Abend gehe ich mit einigen GewerkschafterInnen in ein Pub. Viele von ihnen erzählen mir, dass sie während des Nordirlandkonflikts Gefangene des United Kingdom waren, weil sie politisch den Anschluss an die Republik Irland angestrebt hatten. Teilweise wohnen sie in Nordirland und wissen nicht, ob sie nach dem Brexit weiterhin IrInnen in Nordirland bleiben können, oder entweder Briten werden oder ihre Heimat verlassen müssen… was für sie nicht in Frage kommt.


Eines wird mir durch diese Gespräche klar: Eine Harte/geschlossene Grenze ohne Personenfreizügigkeit zwischen Nordirland und der Republik Irland ist eine Art nationales Trauma. Mehrmals vergewissere ich mich bei verschiedenen GesprächspartnerInnen und erlange bald die traurige Gewissheit, dass ich das richtig verstanden habe.

Wirtschaftlicher Ausblick: Es wird abwärts gehen …

Vor allem drei Szenarien gelten als wahrscheinlich, wobei es eine politische Übereinkunft gibt:

  • keine Harte Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland im Falle keines wie auch immer gearteten Handelsabkommens
  • keine Harte Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland im Falle eines wie auch immer gearteten Handelsabkommens
  • keine Harte Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland im Falle eines umfassenden Freihandelsabkommens

Die politischen Verhandlungsführer haben sich vorerst darauf geeinigt, keine geschlossene Grenze einzuführen, doch wie oben erwähnt, scheint es technisch schwierig eine offene Grenze zu gestalten, weil Güter und Dienstleistungen bezollt werden, sobald sie die Zollbarriere zur EU überqueren. Tritt das United Kingdom aus der EU aus, tritt mit ihm auch Nordirland aus der EU aus. Die Zollbarriere verläuft also auf der irischen Insel zwischen Nordirland und der Republik Irland.

Beide Wirtschaftssysteme sind stark voneinander abhängig.

Speziell für Nordirland wird der Effekt des Brexit groß sein, da es keine globalisierte Ökonomie ist: zwei Drittel der Waren und Dienstleistungen bleiben innerhalb Nordirlands. Nur ein Drittel wird exportiert. Ungefähr 20 Prozent des Exports gehen in das United Kingdom und 14 Prozent in die Republik Irland.

Als exportstärkster Wirtschaftssektor Irlands gilt der Landwirtschaftssektor. Landwirtschaftsunternehmen beginnen oft ihre Produkionszyklen beispielsweise in der Republik Irland, fertigen ihre Produkte in einem zweiten Schritt in Nordirland und exportieren dann von der Republik Irland aus. Bei Dienstleistungen sind die Wirtschaftssysteme um nichts weniger miteinander verwoben. Die Frage, wie diese Produktionszyklen geregelt werden können, ist völlig ungeklärt. Laut der Gewerkschaftszeitschrift Liberty (Vgl.: Vol. 17 No. 1 Seite 12) sehen die Prognosen düster aus:

2,5 Prozent Rückgang der ökonomischen Aktivitäten in einem Zeitraum von 15 Jahren im Falle eines Handelsabkommens; nach einem Handelsabkommen wie zwischen EU und Norwegen 8 Prozent Rückgang der ökonomischen Aktivitäten, sollte es ein Handelsabkommen, nach dem Beispiel EU-Kanada (im Wesentlichen ein bilaterales Handelsabkommen bez. Waren und Dienstleistungen, ohne Harmonisierung der unterschiedlichen Reglements) geben, 12 Prozent Rückgang der ökonomischen Aktivitäten, wenn es kein Handelsabkommen geben sollte.

Auch wenn die Szenarien, die Handelsabkommen inkludieren, halb so wild aussehen, wird der Brexit die irische Wirtschaft kurz- bis mittelfristig hart treffen. Denn Handelsabkommen brauchen lange Verhandlungen, um eingeführt werden zu können. Auch wird nicht die Republik Irland mit dem United Kingdom ein eventuelles Handelsabkommen verhandeln, sondern die EU wird dies tun. Doch wird die EU ein Interesse daran haben, einem Mitglied, welches austritt, attraktive Handelsbedingungen zu gewähren? Würde das nicht potentielle Nachahmer geradezu motivieren auch auszutreten?

In einem Interview mit Marie Sherlock, der leitenden Ökonomin der größten irischen Gewerkschaft SIPTU, wollte ich wissen, ob der Brexit nicht auch positive Auswirkungen auf die Republik Irland haben könnte. Immerhin verlegen aktuell zahlreiche Unternehmen ihre Headquarters von Nordirland und auch von Großbritannien in die Republik Irland, um in der EU bleiben zu können. Beispielsweise expandiert der Dubliner Hafen gerade enorm, weil vor allem die Handelsunternehmen den EU-Binnenmarkt weiterhin zollfrei bedienen wollen. In dem Punkt war sich Marie Sherlock ganz sicher und sagte mir: „Es wäre aber falsch, nur auf die positive Seite zu schauen. Verschafft man sich einen Überblick, welcher positive Gewinne und negative Verluste beinhaltet, überwiegen die Verluste enorm.“

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