100.000 Mitglieder mehr in 4 Jahren

Wie Unionen den Turnaround schaffte

Wolfgang Führer, Schweden
Unionen

Um den ersten Mai herum war ich richtig geschockt. Ich las, dass unsere Gewerkschaften seit 1990 rund 400.000 Mitglieder verloren haben – das war mir eigentlich bewusst, ich hatte es aber verdrängt. Den Turnaround haben wir ja bekanntlich geschafft. Aus Schweden möchte ich ein paar Ansätze mitbringen, wie man 100.000 Mitglieder in 4 Jahren organisiert.

Soviel vorweg: Nicht alles ist übertragbar, nicht alles wollen wir im selben „mindset“ umsetzen, aber einiges war wirklich inspirierend.

„Marketing is everything, good organizing for the win“: Ein alter aber richtiger Spruch! Sowohl für Marketing als auch Vertrieb sind die gemeinsame Entwicklung von „unique selling positions“, also Alleinstellungsmerkmalen der Produkte, entscheidend. Für die Kundenbindung spielt CRM (Kunden­bindungs­management) durch Nähe zum Kunden eine wesentliche Rolle. In Schweden hat man das erkannt und umgesetzt.

Marketing

Kommunikation mit unseren Mitgliedern ist essentiell, um unsere Mitglieder zu begeistern und unsere Vision und Services für neue Mitglieder in einem attraktiven Schaufenster zu arrangieren. Oft ist es nur das Schaufenster, das unsere zukünftigen Mitglieder davon abhält, einen genaueren Blick in unsere Organisation zu werfen und zu erkennen: „Ja, da will ich dabei sein!“

Kontakt

Martin Pakarinen  

martin.pakarinen@akwien.at

Banu Celik 
banu.celik@akwien.at

AK Wien - Bildungszentrum 
Theresianumgasse 16-18
1040 Wien

Unionen hat vor einigen Jahren erkannt, dass nur eine langfristige, konsequente Strategie zum Ziel führen kann. Irgendwann war der Punkt erreicht, wo man entschied: „etwas wagen oder untergehen“.

Der neue Leitgedanke: „Together we are the leading force to create success, security and satisfaction in working life.”

Die Marketingvision: Unsere Mitglieder sind Superheroes der Arbeit. Sie sind selbstbewusst, arbeiten gerne und sehen sich als Gestalter.

Wir unterstützen sie dabei, noch besser zu werden und ihr Arbeitsumfeld nach ihren Wünschen zu gestalten. „You can always do better“ ist ein weiterer Leitsatz, sowohl für die Kundenebene als auch innerhalb der Gewerkschaften selbst.

Das Ganze geschieht mit Augenzwinkern und viel Humor, denn über Humor bleibt man im Gedächtnis. Unionen wirbt auf allen Ebenen: von TV-Spots, über Plakate, in sozialen Netzwerken bis hin zur Broschüre.

Hat das Wirkung gezeigt? Oh ja! Unionen ist eine der bekanntesten Marken in Schweden.

Hierzu ein beispielhaftes Video zum Thema Digitalisierung, äußerst sehenswert, wirklich lustig:


Grafik


Ein paar Worte zur Grafik:

  • Auf der ersten Stufe der Leiter hin zum loyalen Mitglied werden potentielle Mitglieder über TV oder Plakatwerbung
    angesprochen. Sie müssen von „Ich bin uninteressiert, kenne Unionen nicht oder sehe die Gewerkschaft in einem negativen Bild“ zu dem Punkt bewegen werden, an dem sie Unionen kennen und interessiert sind, mehr zu erfahren.

  • In einem zweiten Schritt werden die „Interessierten“ hin zu einer Mitgliedschaft bewegt. Dies erfolgt hauptsächlich über Social media, virales Marketing und in persönlichen Gesprächen, denn erst die „Interessierten“ sind auch bereit, in einem persönlichen Gespräch überzeugt zu werden bzw. einer Organisation auf Social media Aufmerksamkeit zu schenken. Hier werden den potentiellen Mitgliedern Produkte und Services vorgestellt, und sie werden mit dem Spirit der Organisation vertraut gemacht.

  • Wir haben nun also ein neues Mitglied geworben, aber wie machen wir sie zu loyalen aktiven Mitgliedern unserer Organisation?
    Hier ist das Customer relationship management, kurz CRM entscheidend. Das einzelne Mitglied ist nun in Kontakt mit seiner Gewerkschaft und bewegt sich irgendwo zwischen den Polen „Ich möchte mich engagieren“ und „ich brauche Services“. Erweisen sich diese Möglichkeiten nicht als unmittelbar und leicht zugänglich, springt das mühsam und teuer gewonnene Mitglied wieder ab.

  • Ganz toll wäre natürlich, wenn unsere jetzt bereits loyalen Mitglieder zu Multiplikatoren oder Betriebsräten werden. Bindet man die Mitglieder in unsere Organisation ein und lässt sie unsere Gewerkschaft aktiv gestalten, werden sie sich mit uns identifizieren und ganz automatisch unsere Ideen weitertragen.

Hier mögliche Beispiele:

  • Ein(e) direkte(r) AnsprechpartnerIn, wenn es darum geht: „Ich als Mitglied möchte etwas bewegen, wer hilft mir dabei?“

  • Veranstaltungen mit Kabarettisten oder ein Theaterstück mit anschließenden Gesprächen mit dem Thema „Wie soll Gewerkschaft in Zukunft aussehen, was sind deine Ideen?“

  • Wo drückt der Schuh? Wo in deinem Betrieb können wir mitgestalten und mit dir dein Arbeitsumfeld verbessern?

Marktanalysen sind ein systematisch und konsequent umgesetzter Teil der Arbeit. Unionen hat folgendes evaluiert:

„Wir sprechen nur die an, die Probleme am Arbeitsplatz haben oder unzufrieden sind, das sind 5-10 % unserer potentiellen Mitglieder. Wir lassen also 90 % unseres Potentials liegen.“

90 % sind also mit ihrem Arbeitsplatz grundsätzlich zufrieden und wünschen sich Weiterentwicklung und Unterstützung auf ihrem Karriereweg oder eine Verbesserung ihres Arbeitsumfeldes.

Die nächste Frage, die sich Unionen gestellt hat, war also: „Mit welchen Services und Ideen sprechen wir potentielle Mitglieder an, die mit ihrer beruflichen Situation grundsätzlich zufrieden sind, gerade neu im Job sind oder sich bzw. ihr Arbeitsumfeld weiterentwickeln möchten?“

Ein Beispiel, bei dem anhand von zwei typischen Mitgliedern die Strategie verdeutlicht werden soll:

  • Wunsch: „Ich bin gerade auf der Suche nach meinem ersten Job und möchte wissen, was ich bei der Gehaltsverhandlung verlangen kann.“ 

    Produkt: Eine Datenbank, in der Neueinsteiger ihr erziehltes Gehalt eintragen können; alle Mitglieder können diese Datenbank nutzen um herauszufinden, was andere für eine ähnliche Tätigkeit bezahlt bekommen.
  • Wunsch: „Ich bin zufieden mit meinem Job, möchte mich aber weiterentwickeln. Was könnt ihr mir als Gewerkschaft anbieten?“
     
    Produkt: Wir bieten unseren langjährigen Mitgliedern 1.300 Euro für ihren Weiterbildungsbedarf.

In der folgenden Grafik sieht man den Ansatz hierfür: Es werden die verschiedenen Wünsche (Sicherheit, Angebot etc.) in spezifischen Lebensituationen (neu im Job, ich möchte mich weiterentwickeln etc.) „gematched“ und Argumente/Produkte auf dieser Basis entwickelt.

Grafik


Organizing

Zeitgleich mit dem Aufbau des Marketing erfolgte auch der Aufbau einer leistungsstarken Abteilung die sich ausschließlich um das Werben von Mitgliedern kümmert.

Hierzu ein kleiner Exkurs. Die enge Verzahnung von Marketing, Mitgliederwerbung und CRM (Customer relationship management) ist extrem wichtig:

  • Die Marketingabteilung kümmert sich, wie bereits beschrieben, nicht nur um Werbung und Kommunikation, sondern auch um Marktanalysen, fragt also: „Was wünscht ihr euch?“
  • Die Abteilung „Mitgliederorganisation“ entwickelt auf dieser Basis spezifische, auf die Kundengruppe zugeschnittene Produkte.
  • Das CRM rollt diese Produkte aus.
  • Der Rahmen: Ziele werden so gesteckt, dass sie messbar sind; ist ein Ziel nicht messbar ist es nicht adäquat.

Im Wesentlichen entspricht das der Idee des Inbound Marketing. Die folgende Grafik soll verdeutlichen, was das ist:

Grafik



Mit welchen Instrumenten wird das einzelne Mitglied geworben?

Verkauft wird am Telefon, im Betrieb mit Hilfe der BetriebsrätInnen. Bis hinauf in die Führungsebene wird ein Satz gelebt: „Always ask: Are you a member?“.

Wie bereits in groben Zügen erwähnt: 
Man bietet eine breite Produktpalette von Zusatzversicherungen bei Arbeitslosigkeit und Pension. Bis zu hochklassigen Schulungen für die Karriereentwicklung, die die Mitglieder selbst am Markt wählen. Klar – so etwas ist nicht so leicht umsetzbar. Insbesondere wird man nicht über Nacht zum Versicherer. Im Fall von Unionen existiert die Versicherungsebene seit 10 Jahren. Sie sind aber meiner Meinung nach das Verkaufsargument bzw. die „unique selling position“ schlechthin. An so etwas könnten wir arbeiten.

CRM am Puls der Zeit (hochgradig digitalisiert und vernetzt) bindet Mitglieder nur, wenn man nahe an den Wünschen der Mitglieder ist und der Service unserer Zeit entsprechend unmittelbar und möglichst barrierefrei erfolgt. CRM ist somit ein wesentliches Mittel zur Kundenbindung und ermöglicht effizientes Handeln.

Organisationsentwicklung

Die Entwicklung einer schlagkräftigen, flexiblen betrieblichen Organisationsstruktur mit klar definierten Prozessen und Zielen von der Führungsebene über die Abteilungsebene bis hin zum einzelnen Mitarbeiter stellt die Basis für effektives Handeln dar.

Die HR-Abteilung spielt hierbei eine zentrale Rolle - Personalentwicklung ist der Schlüssel. Schnelles Wachstum auf Mitgliederebene stellt sowohl das Recruiting als auch die Organisationsentwicklung vor große Herausforderungen.

By the way: Unionen steht auf Rang 4 der beliebtesten Arbeitgeber in Schweden. Nur eine Belegschaft, die von den Werten der Organisation überzeugt ist und sich vor allem wohlfühlt, arbeitet an einem gemeinsamen Ziel.

Wichtig ist, dass die Führungsebene diese Reorganisationsprozesse voll unterstützt und sich den neuen Leitgedanken verpflichtet fühlt.

Welches Fazit hat Unionen aus diesen Veränderungsprozessen gezogen?

  • Imageaufbau über konsequentes und finanzstarkes Marketing

  • Frage deine Mitglieder was sie sich wünschen. Das ist die Grundlage der Produktentwicklung und des Angebots.

  • Identifikationsmöglichkeiten entlang der gelebten Arbeitsrealität unserer Mitglieder bilden. Nichts fordern, das wir nicht liefern können.
     
  • Fokussieren auf Mitgliedergewinnung und Aufbau einer effektiven Organizing-Abteilung
     
  • Mitgliedergewinnung geht nicht ohne BetriebsrätInnen, sie sind das Rückgrat unserer gewerkschaftlichen Arbeit. Dafür müssen wir den notwendigen Rahmen schaffen. Erstens benötigen die BR Zeit für die Mitgliedergewinnung, zweitens sie müssen auch den Willen haben, für uns zu werben (Stichwort: Loyalität und Identifikation über Marketing, Produktportfolio und Servicenähe).

  • Permanente Messung der Ergebnisse anhand der gesteckten Ziele. Ist ein Ziel nicht messbar, ist es nicht adäquat.

Fazit

In Teilen berechtigt ist aus meiner Sicht die Kritik an Unionen, nur noch ein „ÖAMTC“ der Gewerkschaftsbewegung zu sein, also die politische Dimension der Gewerkschaftsarbeit völlig auszublenden und nur noch serviceorientiert und unternehmerisch zu handeln. Aber wir müssen uns nicht alles abschauen, nur das, womit wir gut leben können und was aus meiner Sicht Gewerkschaft und das ganze Leben ausmacht: Nur gemeinsam sind wir stark!

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