AK Infobrief 2|25 | Henriquez Blauth: Das deutsche Schuldenpaket und die EU-Industriepolitik
AK Infobrief 2|25 | Henriquez Blauth: Das deutsche Schuldenpaket und die EU-Industriepolitik © AK WIEN
Juni 2025

Staatsinterventionen fürs Kapital? Das deutsche Schuldenpaket und die EU-Industriepolitik 

Der Bruch mit dem Prinzip der Fiskaldisziplin, besiegelt durch die Reform der Schuldenbremse im März 2025, steht, genauso wie die Hinwendung zu aktiver Industriepolitik, in deutlichem Widerspruch zur wirtschaftspolitischen Tradition der BRD. Die Überwindung marktliberaler Wirtschafts- und restriktiver Fiskalpolitik birgt zwar progressives Potential für Deutschland und die EU. Eine planvolle Abkehr von ordo- bzw. neoliberalen Politikkonzepten zum Wohle der Vielen zeichnet sich aktuell jedoch nicht ab. 

Autor: Bastian Henriquez Blauth 

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Die „höhere Weisheit“ ordoliberaler Politik 

Lars Feld, der ehemalige Vorsitzende des „Rates der Wirtschaftsweisen“ und Adept des Ordoliberalismus Freiburger Schule zeigt sich, ob der von CDU, CSU, SPD und Grünen beschlossenen Lockerung der Schuldenbremse wenig erfreut. Der einflussreiche Ökonom, den der damalige Finanzminister Christian Lindner 2022 als Chefvolkswirt ins Finanzministerium holte, warnt davor, dass eine Rückkehr zu einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftspolitik mit dem Schuldenpaket unwahrscheinlicher geworden ist. Kerngedanke des Ordoliberalismus, der sich als „deutsche Variante“ des Neoliberalismus charakterisieren lässt, ist es, die Wirtschaftspolitik vor der Macht wirtschaftlicher Interessensgruppe zu schützen. Ähnlich wie die angelsächsischen Laissez-faire-Verfechter sind auch Ordoliberale strikt dagegen, dass der Staat „dem Markt“ die Hände bindet. Der Ordoliberalismus vertritt allerdings die Überzeugung, dass sich Unternehmertum und vollständige Konkurrenz nicht von selbst entfalten. Der Wirtschaftspolitik komme somit die Aufgabe zu, einen ordnungspolitischen Rahmen zu schaffen, um eine auf Wettbewerb basierende Marktwirtschaft durchzusetzen. Von hoher Bedeutung ist dabei eine „regelgebundene“ Auslegung von Wirtschafts- und Finanzpolitik bzw. eine hohe Skepsis gegenüber diskretionärer Politikausgestaltung. 

Die politisch vorgegebenen Regeln sollen die Wirtschaft, als ein sich vermeintlich selbst stabilisierender Mechanismus, vor staatlichen Interventionen schützen, bzw. diese überflüssig machen. Diese Selbstdisziplinierung und vorgebliche Entpolitisierung der Wirtschaftspolitik entspricht, gemäß Christian Lindner, einer „höheren Weisheit“ und zwingt die Politik, die „richtigen Prioritäten zu setzen“. Daraus ergibt sich nicht nur eine scharfe Frontstellung gegen keynesianische Vorstellungen einer aktiven Wirtschaftspolitik (die mittels staatlicher Interventionen konjunkturelle Schwankungen glätten und Vollbeschäftigung gewährleisten soll), sondern ganz allgemein die Prämisse: „so viel Wettbewerb wie möglich, so viel Staat wie nötig“. Dementsprechend wird Industriepolitik von ordoliberalen Ökonom:innen als unzulässiger Eingriff in den Marktprozess abgelehnt und ihre Notwendigkeit in Abrede gestellt. Paradox ist in diesem Zusammenhang natürlich, dass für die Durchsetzung der „freien Marktwirtschaft“ ein starker Staat unerlässlich ist.  

Von anhaltender Relevanz ist die Diagnose des Wirtschaftshistorikers Karl Polanyi, dass der „freie Markt“ ein Mythos ist, da er ein Produkt zahlloser Gesetze und Interventionen ist. Ordoliberale fordern also durchaus einen aktiv gestaltenden Staat, der „den Markt“ als stabile Ordnung etabliert. Ansonsten mahnt man aber einen schlanken Staat und eine weitgehend interventionsfrei organisierte Wirtschaft ein. (Was in der Konsequenz zu Positionen wie der Kritik an Mindestlöhnen oder der Ablehnung von höheren Steuern für Vermögende führt.) 


Über den Autor

Bastian Henriquez Blauth absolviert das neue Trainee-Programm der AK Wien und arbeitet aktuell in der Abteilung Wirtschaftspolitik zum Thema Industriepolitik & Just Transition

Bastian Henriquez Blauth
Bastian Henriquez Blauth © AK WIEN

Kurz und Knapp

  • Der Ordoliberalismus gilt als zentraler Prinzipiengeber der Wirtschaftsordnung der BRD und sieht eine „Verregelung“ der Politik vor. 
  • Auch in der jungen BRD war „Planung“ kein Fremdwort – vor allem die Kreditanstalt für Wideraufbau spielte eine integrale Rolle bei der Gestaltung der deutschen Industriepolitik.
  • Das Postulat des absoluten Vorranges des Marktes erwies sich in der BRD oft als Lippenbekenntnis – auf EU-Ebene versuchte Deutschland dennoch, eine marktliberale Agenda durchzusetzen.
  • In der euphorischen Phase des Neoliberalismus gelang es der BRD, aktive Industriepolitik zurückzudrängen und folgenschwere Strukturreformen anzustoßen.
  • Ab 2017 bricht sich eine neue industriepolitische Dynamik Bahn und die Vorteile einer „regelgebundenen Wirtschaftsverfassung“ werden zunehmend in Frage gestellt.
  • Auch im deutschen Machtblock setzt sich allmählich die Ansicht durch, dass eine „missionsorientierte“, interventionistische Industriepolitik China an Europa vorbeiziehen ließ.
  • Der neue Staatsinterventionismus steht im Zeichen geopolitischer Spannungen und kommt im Moment vor allem den Verwertungsinteressen des Kapitals zugute.
  • Deutschland beschließt Militärausgaben nicht weiter den Regeln der Schuldenbremsen zu unterwerfen – für Klimaschutz und Sozialhilfen bleibt das Spardiktat indes aufrecht.
  • Ideologische Ausrichtungen sind nicht in Stein gemeißelt – zu welchem Zweck gegen wirtschaftspolitische Prinzipien verstoßen wird, hängt nicht zuletzt von sozialen Kämpfen ab.

Deutschlands marktliberales Selbstverständnis 

Auch wenn man ihre tatsächliche Relevanz nicht überschätzen sollte, sind ordoliberale Grundsätze bis heute zentrale ideologische Referenzpunkte in wirtschaftswissenschaftlichen Debatten und wirtschaftspolitischen Richtungskämpfen. Die Geschichte des Kapitalismus in der BRD entspricht allerdings kaum ordoliberalen Prinzipien oder den Grundsätzen eines „Lehrbuchmodells“ der freien Marktwirtschaft. Das offizielle Deutschland übte sich zwar stets in ordoliberaler Rhetorik und stand der Wirtschaftspolitik Frankreichs demonstrativ skeptisch gegenüber. Dieses trieb mittels Staatseingriffen und Planification sehr konsequent die aktive industriepolitische Förderung einzelner Sektoren voran. Deutschlands wirtschaftspolitische Praxis stand Frankreichs Dirigismus jedoch nicht diametral gegenüber. Auch in der jungen BRD war „Planung“ keineswegs ein Fremdwort und es bestand eine „gemischte Wirtschaft“ mit starkem staatlichem Einfluss. In der Nachkriegszeit förderte die BRD, wie alle anderen europäischen Länder, den Wiederaufbau und die Entwicklung des industriellen Sektors durch umfangreiche Interventionen. Im Gegensatz zu anderen Ländern gelang es der Bundesrepublik überdies, ihre industriepolitischen Handlungsfähigkeiten über die neoliberale Wende in den 1980er Jahren größtenteils beizubehalten.

Eine wesentliche Rolle dabei spielte die Deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die die Ökonomin Mariana Mazzucato als Paradebeispiel einer „missionsorientierten Entwicklungsbank“  bezeichnet. Die KfW avancierte bereits in den Nachkriegsjahrzehnten zum zentralen industriepolitischen Vehikel der BRD, indem sie die deutsche Investitionsgüterindustrie, Mittelstandsunternehmen, und in ihrer Rolle als staatliche Exportkreditagentur den deutschen Exportsektor strategisch und großzügig förderte. Als sich die deutschen Großbanken, die die deutsche Industrie jahrzehntelang mit geduldigem Kapital versorgt hatten, Anfang der 1990er aus der Realwirtschaft zurückzogen, sprang die KfW ein, um diese Lücke zu füllen. Der Anteil ihrer Aktiva und Kredite stieg von 0,6 (1965) auf fast drei Prozent (2005) des deutschen BIPs und die KfW wurde zur zweitgrößten nationalen Entwicklungsbank nach der Chinese Development Bank. 

Entscheidend war auch, dass die KfW die Expansion der deutschen Exportindustrie durch massive Exportfinanzierungen weiter industriepolitisch flankieren konnte. Zwar wurde das zentrale Instrument der KfW, die öffentliche Exportsubventionierung, durch OECD- und WTO-Bestimmungen zunehmend eingeschränkt. Jedoch gelang es der KfW, ihre großzügige Exportfinanzierung fortzusetzen, indem sie ihre günstigen Kreditbedingungen an den internationalen Finanzmärkten als Exportkredite an deutsche Unternehmen weiterreichte. (Diese Praxis geriet auch mit der EU-Beihilfenkontrolle in Konflikt. Die KfW lagerte ihre Exportfinanzierung folglich in eine rechtlich eigenständige Tochtergesellschaft aus. Doch auch diese genießt aufgrund der impliziten Haftungsgarantien der BRD eine hohe Bonität und dementsprechend äußerst günstige Refinanzierungsbedingungen an den Kapitalmärkten).

Industriepolitische Kontinuitäten und Widersprüche 

Industriepolitische Maßnahmen (sowohl „horizontale“ als auch „vertikale“) gehören also seit jeher zum wirtschaftspolitischen Repertoire der BRD. Doch auch, wenn man sich nie wirklich auf die „Stärke des Marktes verließ“, ergab sich aus dem Bekenntnis zum Primat des Marktes und der Notwendigkeit interventionistischer Industriepolitik ein fortdauerndes Spannungsverhältnis. Grundsätzliche Diskussionen über Industriepolitik und ihre Erwünschtheit wurden stets intensiver geführt als Diskussionen über die sinnvolle Umsetzung konkreter Maßnahmen. Die „gelebte“ Industriepolitik war so häufig planlos oder widersprüchlich, weil das übergreifende ökonomische Konzept fehlte und vieles Stückwerk blieb. 

Eine strategische Orientierung oder ein schlüssiges Konzept, welche Industriesektoren wie gefördert werden sollen, blieb man schuldig. Der deutsche Staat war immer industriepolitisch aktiv, hütete sich aber aus ideologischen Gründen, eine proaktiv planende Wirtschaftspolitik zu betreiben. Insgesamt wurde so Vieles der „Anarchie der Produktion“ überlassen. Doch vor allem bei Sektoren mit hoher nationaler Bedeutung, wie etwa der Chemie- oder der Autoindustrie, wurden theoretische Konzepte bereitwillig zurückgestellt. Der Rückgriff auf ordoliberale Prinzipien in der BRD erfolgte so letztlich immer „selektiv, zweckorientiert und interessengeleitet“. Auf europäischer Ebene zeigte man sich hingegen weniger flexibel.  

Die „neoliberale Deformation“ Europas

Die BRD agierte ab Ende der 1980er – im Schulterschluss mit Großbritannien und gegen Frankreich – als die zentrale Verfechterin einer neoliberalen Wettbewerbspolitik, welche die Spielräume für vertikale Industriepolitik möglichst beschränken sollte. Insbesondere das Bundesfinanz- sowie das Bundeswirtschaftsministerium versuchten, der Logik der Finanzierung und Lenkung privater Projekte durch öffentliche Entscheidungsträger systematisch entgegenzuwirken. Der ehemalige Wirtschaftsminister und Kommissar für Binnenmarkt und Industrie Martin Bangemann trieb ab 1989 – gemeinsam mit dem britischen Wettbewerbskommissar Leon Brittan (und engen Vertrauten von Margaret Thatcher) - das Verbot „wettbewerbsgefährdender“ staatlicher Beihilfen voran. Gleichzeitig wehrte sich der deutsche Generaldirektor der Generaldirektion Wettbewerb gegen den französischen und italienischen Wunsch, bei der europäischen Fusionskontrolle politischen Einfluss zu nehmen, um die Schaffung industrieller „Champions“ zu ermöglichen. 

Die Bundesrepublik kritisierte die Integration der Industriepolitik in die Einheitliche Europäische Akte (1987) und intervenierte gegen die Zielsetzung, eine „Technologiegemeinschaft“ zu schaffen. Zudem übte der European Table for Industry (indem deutsche Industrielle naturgemäß eine gewichtige Rolle einnahmen) Druck auf die Kommission aus, die Privatisierung und Liberalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge und Infrastruktur mittels neuer Richtlinien zu beschleunigen.  

Aufgrund deutscher Vorbehalte wurde der Begriff Industriepolitik letztlich sogar aus dem Vertrag von Maastricht (1992) verbannt bzw. die Tätigkeit der EU auf die Schaffung „notwendiger Voraussetzungen für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie“ reduziert. Selektive Industriepolitik geriet zusehends als ineffiziente, staatsinterventionistische und mithin „proto-sozialistische“ Wirtschaftspolitik in Verruf. Ein verschärftes Wettbewerbsrecht und die Vertiefung des Binnenmarktes, flankiert durch staatliche Innovationsförderung und Investitionen in Humankapital, wurde als hinlängliche Industriestrategie auserkoren.

Darüber hinaus gelang es der Bundesbank und der Bundesregierung in den 1990er Jahren mit den Verträgen von Maastricht und dem Stabilitäts- und Wachstumspakt (1997) ihre extrem restriktiven Konzepte von Geld- und Fiskalpolitik gegenüber den anderen EU-Mitgliedsstaaten durchzusetzen. Der Vertrag verankerte nicht nur strenge Defizitregeln, sondern verbot jegliche Form der öffentlichen Refinanzierung. Mitgliedsstaaten dürfen sich seither weder bei Notenbanken, anderen EU-Staaten noch der EU Geld leihen oder füreinander haften. Die öffentliche Ausgabenpolitik der Mitgliedsstaaten stand fortan unter einem permanenten, vorwiegend ausgabeseitigen Konsolidierungsdruck. Im Sinne einer „governance through numbers“ sollten die Finanzmärkte die öffentliche Hand durch steigende Zinsen auf Staatsanleihen abstrafen, sollten diese nicht sparsam wirtschaften.

Folgenreiche Strukturreformen 

Die Einflussnahme der BRD auf europäischer Ebene war so in zumindest zwei Bereichen entscheidend für die Implementierung einer Wirtschaftspolitik in Verfassungsrang, die sich als „neoliberaler Konstitutionalismus“ beschreiben lässt. Sowohl das europäische Wettbewerbsrecht als auch die fiskalische Disziplinierung in der EU fungierten als zentrale Hebel für die Durchsetzung und institutionelle Absicherung der neoliberalen wirtschaftspolitischen Wende. Die Wirtschaftspolitik wird durch die de facto übergeordneten supranationalen Rahmenwerke an Markteffizienz und am Vertrauen der Märkte ausgerichtet. Gleichzeitig werden die wirtschaftspolitischen Orientierungen gegenüber demokratischen Prozessen und Forderungen von „unten“ (etwa Gewerkschaften oder ökologischen Bewegungen) abgeschirmt. Diese wirtschaftspolitische Orientierung in der „euphorischen“ Phase der Marktgläubigkeit war nicht nur demokratiepolitisch bedenklich und verursachte eine massive Machtverschiebung von der Arbeiter:innenschaft hin zum Kapital.

Auch gemessen an ihrem eigenen Ziel (festgehalten in der 2000 verabschiedeten Lissabon-Strategie)  die EU bis 2010 mittels Strukturreformen zum “wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen, stellte sie sich als ineffektiv heraus. Die Institutionalisierung neoliberaler Dogmen führte zu niedrigen Wachstumsraten und Produktivitätszuwächsen in den meisten Ländern. Das enge wirtschaftspolitische Korsett hinderte die EU daran, Einfluss auf die Entwicklung des industriellen Sektors zu nehmen – und das in einer Zeit, die geprägt war von radikalen technologischen Umbrüchen und sich zuspitzenden ökologischen Krisen. Die europäische Wettbewerbspolitik bzw. das europäische Wettbewerbsrecht wurde so einerseits zum zentralen Hindernis für eine vertikale Industriepolitik auf der Ebene der Mitgliedsländer. Andererseits setze man der Herausbildung einer eigenständigen EU-Industriepolitik auf supranationaler Ebene von vorhinein sehr enge Grenzen, indem man eine überwiegend flankierende Industriepolitik forcierte

Risse im Gebälk

Doch bereits in den 2000er Jahren stieg das Interesse an einer offensiveren Industriepolitik als Reaktion auf De-Industrialisierungstrends durch Offshoring und Outsourcing wieder. Und spätestens im Rahmen der Wirtschaftskrise 2008 erlebte die Industriepolitik in der EU eine regelrechte Renaissance, da die Industrie als zentraler Innovationstreiber wiederentdeckt wurde. Dennoch blieb ein nachhaltiger wirtschaftspolitischer Paradigmenwechsel bis Mitte der 2010er Jahre aus. Ausschlaggebend dafür war, neben der britischen Positionierung, insbesondere die strikte Ablehnungshaltung der deutschen Bundesregierung im Hinblick auf die Aufweichung der EU-Wettbewerbsregeln.  

Ungeachtet der sich verschiebenden wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion über Industriepolitik und der zunehmenden Forderungen nach einer Reform der EU-Wettbewerbspolitik zugunsten einer aktiveren Einflussnahme betonte der einflussreiche Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) weiter, dass „ein offener Binnenmarkt und unverfälschter Wettbewerb (…) als die Garanten des ökonomischen Erfolgs der Gemeinschaft angesehen“ werden können. Die deutsche Bundesregierung unterstützte zwar prinzipiell das von der Kommission erklärte Re-Industrialisierungsziel (Erhöhung des Anteiles des verarbeitenden Gewerbes auf 20% des BIPs bis 2020), lehnte aber eine dauerhafte Lockerung der Beihilfenregelung und eine Reform der Wettbewerbspolitik ab. 

Wenngleich die BRD nie dazu in der Lage war, dem Rest der EU seine Interessen unilateral aufzuzwängen, gelang es ihr so dennoch längerfristig, eine neoliberale „Wirtschaftsverfassung“  gegenüber den Forderungen anderen Staaten und Interessensgruppen abzuschirmen. Seit Anfang der 2020er Jahre zeichnet sich nun allerdings immer deutlicher eine manifeste Krise des neoliberalen Konstitutionalismus und eine neue Phase der europäischen Industriepolitik ab. 2019 lanciert der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier zunächst die „Nationale Industriestrategie 2030“. Diese enthält neben kapitalnahen Forderungen auch industrie- und außenhandelspolitische Strategien, die in ihrer Gesamtheit durchaus bemerkenswert sind. In deutlichem Gegensatz zu bisherigen Industriestrategien wird die gezielte staatliche Förderung von Schlüsseltechnologien befürwortet und eine Ausweitung der Investitionskontrolle gefordert, um ausländische Übernahmen in strategisch relevanten Industriesektoren zu verhindern

Kurz darauf folgt ein „französisch-deutsches Manifest für Industriepolitik“, das eine umfassende Anpassung und Lockerung des EU-Wettbewerbs- und Beihilfenrechts fordert, um Spielräume für eine aktive Industriepolitik zu öffnen. Der Bundesverband der deutschen Industrie konstatierte: „Wir können uns „nicht auf der vermeintlichen Gewissheit ausruhen, dass unser Modell einer […] liberalen und sozialen Marktwirtschaft gegenüber dem chinesischen System langfristig gesamtwirtschaftliche Vorteile mit sich bringt“. Nach Jahrzehnten der Marginalisierung steht Industriepolitik nun wieder auf der politischen Tagesordnung. Und auch die jüngst beschlossene Lockerung der deutschen Schuldenbremse deutet auf Risse im neoliberalen Konsens hin. Das Abweichen von marktliberalen Politikkonzepten bzw. die wirtschaftspolitische Kehrtwende seit 2019 steht vor allem im Zeichen neuer geopolitischer Konfrontationen. 

Ringen um die (grüne) Technologieführerschaft

Bereits im Jahr 2014 überholte China die EU als weltgrößten Exporteur. Und obwohl in der EU unablässig die Wichtigkeit der grünen Wende betont wird, fand das grüne Wachstum in den letzten Jahren vor allem in China statt: die Rolle der grünen Technologieführerschaft ging innerhalb der letzten 20 Jahre von europäische auf chinesische Unternehmen über. Indessen sicherten die USA ihre Position als günstiger Standort für digitale Technologien durch im Vergleich zur EU fast 50% höhere Investitionen in Forschung und Entwicklung ab. Zugleich stiegen sie mit dem „Inflation Reduction Act“ offen in das globale Ringen um die grüne Technologieführerschaft ein. Die merkantilistische bzw. protektionistische Umorientierung sowie die handelspolitischen Konfrontationen des ehemaligen transatlantischen Partners unter Donald Trump taten ihr Übriges dazu, dass die Rufe nach „ökonomischer Souveränität“ in der EU immer lauter wurden. 

Die Aufwertung der Industriepolitik in der EU und in Deutschland vollzog sich so in den letzten Jahren im Zuge einer „geodirigistischen Wende“. Im Lichte der drohenden Gefahr eines Abstiegs der deutschen Industrie in der internationalen Arbeitsteilung zeigt sich die Bundesregierung immer offener dafür, mit ordo- bzw. neoliberalen Prinzipen zu brechen. Bemerkenswert ist in diesem Kontext auch, dass die BRD in der Coronakrise ihre restriktiven Vorstellungen von Fiskalpolitik hintanstellte und einer gemeinsamen europäischen Verschuldung und Umverteilung im Rahmen von NextGenerationEU zustimmte. Anders als während der Eurokrise pochte die deutsche Bundesregierung nicht auf Austeritätspolitik, sondern nahm den Bruch mit dem Tabu einer „Schulden- und Transferunion“ in Kauf. Und sogar in der Bundesrepublik scheint sich der fiskalische Konservatismus 2025 mit der Reform der Schuldenbremse überlebt zu haben. 

Doch was bedeutet die „Renaissance interventionistischer Staatlichkeit“  und die Rückkehr eines stark investierenden Staates im Zuge einer geodirigistischen Wende? Stellt der vermehrte Einsatz von staatlichen Eingriffen und offene Bruch mit neoliberalen Politikkonzepten einen Grund zur Freude dar?

Die Rückkehr des Staates – fürs Kapital?

Evident ist zunächst, dass sich weder in Deutschland noch in der EU eine planvolle oder strategische Abkehr von neoliberalen Konzepten erkennen lässt. Der neue Staatsinterventionismus weist einen widersprüchlichen Charakter auf und ist krisengetrieben, dennoch birgt er progressives Potential.  Nach Jahrzehnten der Staatsskepsis und einem Rückbau staatlicher Zuständigkeit – verbunden mit einer desaströsen Liberalisierungs- und Privatisierungswelle der öffentlichen Infrastruktur – gilt der Staat wieder als Garant für Prosperität. Das ist prinzipiell eine begrüßenswerte Entwicklung. Die Diagnose einer plötzlichen Rückkehr des Staates ist jedoch irreführend. Mit jeder Krisenkaskade (Finanzkrise, Eurokrise, Coronapandemie, Ukrainekrieg) intensivierte sich in den letzten Jahren die Staatstätigkeit bzw. erhöhte sich die Staatsbedürftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise. Eine umfassende industriepolitische Gestaltung der Wirtschaft wurde zwar nicht verfolgt – ging es jedoch darum, Banken oder (fossile) Konzerne zu retten, wurden rechtliche Regeln beiseite geräumt und Milliardenhilfen geleistet. Und auch der Neoliberalismus wurde nach der Finanzkrise vielfach und – retrospektiv gesehen – voreilig für tot erklärt.

Vieles deutet jedoch darauf hin, dass sich momentan eine Bewegung weg von „ad hocery“ (im Sinne notpragmatischer kurzfristig erfolgender Eingriffe) hin zu einer grundlegenden Neujustierung des Zusammenspiels von Unternehmen, Märkten und Staat vollzieht. Im Kontext der neuen „Triade-Konkurrenz“ mit China und den USA kommt es in der EU zu einer historischen Verschiebung von der „Marktschaffung“ hin zu einer „Marktlenkung“. Der schlanke Staat scheint als politisches Leitbild ausgedient zu haben. Davon zeugt auch die neue Subventionspolitik – etwa die milliardenschweren Staatssubventionen Deutschlands für den Bau einer Intel-Chipfabrik in Magdeburg. Industriezweige, die eine hervorgehobene Rolle in der geopolitischen Konkurrenzsituation spielen, werden auch andernorts in der EU strategisch gestärkt. Das Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und heimische Wertschöpfungsketten zu sichern, steht vermehrt im Zeichen einer „Sicherheits-Nachhaltigkeits-Verflechtung“ („security-sustainability-nexus“).

Das Comeback der Industriepolitik ist also primär geoökonomischen Erwägungen geschuldet. Ökologische Aspekte, die etwa mit dem Green Deal schon stärker im Fokus standen, geraten zusehends ins Hintertreffen, da auf die Forcierung von Wirtschaftswachstum und die Erhöhung internationaler Wettbewerbsfähigkeit gepocht wird.  Sozialintegrative Aspekte konnten sich indessen nie wirklich durchsetzen. Sozial- und verteilungspolitische Instrumente wie das Klimageld im deutschen Koalitionsvertrag oder das „European Fair Transition Observatory“ im Clean Industrial Deal sind zwar angekündigt, aber es fehlt die Umsetzungsperspektive

Anders als in den USA gab es in Deutschland keine wirtschafts- und industriepolitischen Maßnahmen, um die Einkommen unterer Einkommensgruppen zu stärken. Darüber hinaus wurde, auch in der EU, verabsäumt, staatliche Investitionen und Subventionen an soziale und ökologische Bedingungen zu knüpfen. Dass der Neoliberalismus so „wie wir ihn kannten“ passé ist, bedeutet also nicht, dass ein sozial-ökologischer Aufbruch folgt. Die Einseitigkeit der Rückkehr des Staates ist augenfällig. Die neue Staatsintervention zielt zuvorderst auf eine Stärkung der eigenen Exportindustrie in einer neuen Phase der imperialistischen Konkurrenz und Konfrontation ab. Neoliberale Wettbewerbspolitik im Sinne eines „Wettbewerbs nach unten“ in Bezug auf Arbeitsmärkte oder Sozialpolitik ist hingegen nicht passé.

Subventionen für Unternehmen, Sparpolitik für die Mehrheit 

Sowohl in Deutschland als auch in der EU wird die Rückkehr des Staates begleitet von einer neoliberalen Offensive und einer neu aufflammenden Leidenschaft für das Thema Wettbewerbsfähigkeit. Mit ihrer „Agenda 2030“ verspricht die CDU einen „echten Politikwechsel“, der die deutsche Wirtschaft aus der Rezession führen soll. Der Name ist nicht zufällig an die unrühmliche „Agenda 2010“ unter Gerhard Schröder angelehnt, die eine massive Liberalisierungswelle des Arbeitsmarktes und Sozialstaates einleitete. Vor allem im Interesse des Exportsektors sollen die Verwertungsbedingungen für Unternehmen verbessert werden, um deren Profitabilität zu steigern. Das soll, entsprechend der Zombie-Idee eines Trickle-Down-Effekts, das Wirtschaftswachstum ankurbeln.  Und auch wenn sich die Unionsparteien und die SPD in Deutschland von der „schwarzen Null“ verabschieden, droht in der neuen Legislaturperiode eine Kürzungspolitik für die Mehrheit der Menschen. Während unbegrenzte Militärausgaben ermöglicht werden, stehen Sozialleistungen oder Zuschüsse in der Elternzeit bereits auf der Kippe.

Auch die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen versucht mit Rezepten aus den 1990ern den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts beizukommen. Rund 25 Jahre nach der Lissabon-Strategie erreicht das Thema (mangelnde) Wettbewerbsfähigkeit mit dem einflussreichen Draghi-Bericht eine neue Virulenz. Der Ökonom Werner Raza konstatiert, dass in Zukunft die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit wieder zum Maß aller Dinge in der europäischen Wirtschaftspolitik werden könnte. So weisen die industriepolitischen Initiativen, die die Europäische Kommission Anfang 2025 präsentierte, eine klare Schlagseite auf. Der Wettbewerbskompass, der auf dem Draghi-Bericht aufbaut, und der Clean Industrial Deal weisen zwar einzelne sinnvolle Vorschläge auf – etwa ddie Beschleunigung des Ausbaus erneuerbarer Energieträger und die geplante Etablierung grüner Leitmärkte. Insgesamt drohen sie jedoch, mit ihrem Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit und Deregulierung Fortschritte des Green Deal (speziell beim Klima- und Umweltschutz und Unternehmenspflichten zur Einhaltung von Menschenrechten) zu unterminieren.

Panzer statt E-Autos?

Der Bruch mit marktliberalen Prinzipien und fiskalischer Disziplin ebnet momentan nicht den Weg für progressive Wirtschaftspolitik, die der breiten Mehrheit zugutekommen könnte. Dazu kommt, dass sowohl in Europa als auch in Deutschland wesentlich mehr Geld in die militärische Aufrüstung investiert werden soll. Angesichts des fortwährenden Spardiktats in der EU gilt zu befürchten, dass Geld für Rüstungsausgaben aus dem Bereich öffentlicher Dienstleistungen und sozialstaatlicher Leistungen abgezogen wird. Insbesondere deshalb, weil Deutschland die gemeinsame Schuldenaufnahme weiter blockiert und auch die überarbeiteten EU-Fiskalregeln die Verschuldungsmöglichkeiten einzelner Staaten weiterhin stark beschränken. Der neue deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz reagierte auf den Draghi-Bericht, der die Notwendigkeit massiver Investitionen betont, mit dem Versprechen alles zu tun, „um zu vermeiden, dass sich diese Europäische Union in eine solche Verschuldungsspirale hineinbegibt“. Das während der Coronakrise vereinbarte gemeinsame Anleiheprogramm NextGenerationEU bezeichnet er als Ausnahme. 

In Deutschland schafft man sich hingegen finanzielle Spielräume, nur um sich dann für einen einseitigen Militär-Keynesianismus zu entscheiden. Während Rüstungsausgaben keine fiskalischen Grenzen mehr gesetzt werden, ist das Geld für grüne Industriepolitik äußerst knapp bemessen. Was bleibt ist die Hoffnung auf die Sondervermögen, die Teil der Schuldenbremse-Reform sind und defizitfinanzierte Ausgaben in Höhe von 400 Milliarden Euro für Infrastruktur und weitere 100 Milliarden für grüne Investitionen in den kommenden zwölf Jahren vorsehen. Jedoch sind die zusätzlichen Mittel (8,33 Milliarden p.a.) für Investitionen in grüne Technologien gänzlich unzureichend. Mit diesen Summen lässt sich keine ambitionierte Industriestrategie realisieren. Ganz im Gegenteil: Mit dem Bekenntnis, keine Verschiebungen aus dem laufenden Haushalt in die Sondervermögen zuzulassen, wird der Spardruck für Klimaausgaben eher verstärkt. (Steht doch der reguläre Haushalt weiterhin unter Sparzwang und bietet wenig finanziellen Spielraum.) 

Fazit und Ausblick 

Der neoliberale Konstitutionalismus könnte sich somit einmal mehr, wie schon nach der Finanz- und der Coronakrise, als „halbdurchlässige Membran“ herausstellen. Er erweist sich als flexibel und durchlässig, wenn es um neue Schulden für Rüstungsausgaben oder die Stärkung nationaler Unternehmen im globalen Wettbewerb geht. Wenn es hingegen um eine aktive Wirtschafts- und Investitionspolitik im Sinne einer keynesianischen und ökologischen Modernisierung oder Sozialleistungen zur Verringerung der ökonomischen Ungleichheit geht, erweist er sich als undurchdringbar. Doch sowohl die neue Legitimierung des Schuldenmachens als auch die sozialen, ökologischen und demokratischen Potentiale der staatsinterventionistischen Wende stellen einen Handlungsauftrag für progressive Kräfte dar. Im Kontrast zur marktliberalen Agenda der letzten Jahrzehnte bieten ein steuernder Staat und ein „Comeback der Planung“ zumindest theoretisch die Möglichkeit, die wirtschaftliche Entwicklung in eine soziale und ökologische Richtung zu treiben. Ebenso stellt sich nunmehr nicht weiter die Frage, ob der Staat Geld ausgibt, sondern wofür und wem die neuen Schulden dienen

Die Krisen der letzten Jahre haben gezeigt, dass unter dem Druck der Umstände dramatische politische Richtungswechsel möglich sind. Deutschlands industriepolitische Geschichte verdeutlicht, dass staatliche Interventionen eher die Regel, als die Ausnahme sind. Weder fiskalische Disziplin noch die Delegation wirtschaftspolitischer Entscheidungen an „die Märkte“ sind eine rein technische Notwendigkeit. Gewerkschaften, Zivilgesellschaft und andere progressive Kräfte müssen einer mehr oder minder autoritären Variante kapitalistischer öffentlicher Planung, die immer aggressivere Standortpolitik betreibt, alternative Modelle entgegenstellen. Denkbar wäre eine aktive Industrie- und Investitionspolitik im Sinne einer binnenmarktorientierten Entwicklungsstrategie. Diese würde die „Gier nach Wettbewerbsfähigkeit“  hintanstellen und die Exportabhängigkeit reduzieren, um gegen räumliche sowie soziale Ungleichheiten in der EU vorzugehen. Vor allem vor dem Hintergrund geopolitischer Fragmentierung und Handelskriegen wäre eine Stärkung der Binnennachfrage eine verlässliche Wachstumsstrategie. Gleichzeitig könnte eine gerechte und planvolle Industriepolitik sowie ein ambitionierter grüner Keynesianismus, die „Transformationsmüdigkeit“ der breiten Mehrheit mindern und somit den Aufstieg der radikalen Rechten einbremsen.

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