Infobrief 2_2024 | Anderl: Grüner Deal als Schub für ein soziales Europa
Infobrief 2_2024 | Anderl: Grüner Deal als Schub für ein soziales Europa © AK WIEN
Mai 2024

Den Grünen Deal mit einem neuen Schub für ein starkes soziales Europa verbinden

Die Europäische Union steht heute vor einer Vielzahl großer Herausforderungen, die sich unmittelbar auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auswirken. Das gilt vor allem auch für die Klimakrise, die wesentlich schneller voranschreitet als ursprünglich angenommen und mit enormen ökonomischen und sozialen Kosten verbunden ist. Hitze, Dürre, Waldbrände, Stürme und Überflutungen in vielen Teilen Europas und weltweit haben uns im letzten Sommer erneut vor Augen geführt, wie ernst die Lage mittlerweile ist. Wir müssen klar erkennen: Nur mit einer radikalen Neuausrichtung unserer Wirtschaft können wir unsere Lebensgrundlagen und die der nachfolgenden Generationen sichern. Aber diese Neuausrichtung muss sozial gerecht sein.

Autorin: Renate Anderl

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Über die Autorin

Renate Anderl ist Präsidentin der Arbeiterkammer Wien und der Bundesarbeitskammer. Von 2014 bis 2018 war sie Vizepräsidentin sowie Frauenvorsitzende des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, davor vom Wiener Gemeinderat und Landtag
entsandtes Mitglied des österreichische Bundesrats. Seit ihrer Jugend setzt sie sich für Gerechtigkeit in der Arbeitswelt ein.
Renate Anderl
Renate Anderl © Sebastian Philipp



Mit dem Grünen Deal stellt sich die Europäische Union der Herausforderung der Klimakrise und hat als erste wichtige globale Akteurin den Weg zur Klimaneutralität bis 2050 eingeschlagen. Dass das keine rein symbolische Ankündigung ist, zeigen die vielen konkreten Maßnahmen in zahlreichen Politikbereichen. Mittlerweile haben die weltweit größten Emittenten von Treibhausgasen wie die USA, China und Indien erstmals nationale Klimaneutralitätsziele festgelegt. Wir wissen, dass das noch nicht reicht, um die Vorgaben des Pariser Klimaabkommens zu erfüllen, und es noch viel ehrgeizigerer Maßnahmen bedarf. Aber der Hebel in Richtung Klimaneutralität ist umgelegt. Und das wäre ohne die Europäische Union nicht möglich gewesen. Das zeigt, was ein starkes, geeintes Europa schaffen kann. 

Dieses Engagement und diese Dynamik brauchen wir jetzt auch für das soziale Europa. Eine progressive Politik zur Bewältigung der Klimakrise muss die soziale Frage viel stärker als bisher in den Blick nehmen. Die Bekämpfung des hohen Ausmaßes an prekärer Arbeit in Europa und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich in vielen EU-Staaten muss ebenso im Fokus der Politik stehen wie die Bewältigung der Klima­krise. Für die von der Transformation betroffenen Beschäftigtengruppen sind umfassende Unterstützungsmaßnahmen erforderlich, um durch Qualifizierung und Weiterbildung neue berufliche Perspektiven zu erschließen und durch eine adäquate Einkommenssicherung Umqualifizierungen zu ermöglichen. Nur dann werden die Bürger:innen auch in Zukunft die notwendigen klimapolitischen Maßnahmen mittragen. 

Vor diesem Hintergrund sollte Österreich aktiv dazu beitragen, einen neuen Schub für ein starkes soziales Europa zu initiieren: Der Grüne Deal muss in enger Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern zu einem Sozialen Grünen Deal ausgebaut werden! 

Was heißt das konkret? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass in der aktuellen Konstruktion der Europäischen Union die Mitgliedstaaten weiterhin die primäre Verantwortung für Beschäftigung, Wohlstand und soziale Sicherheit tragen. Bei der Ausübung dieser Verantwortung stoßen sie jedoch auf die Schranken des EU-Rechts insbesondere in Form restriktiver EU-Fiskalregeln, die ihren Spielraum für eine wohlstandsorientierte Politik massiv einschränken. Es ist offensichtlich, dass es dringend einer Kehrtwende in der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU bedarf. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt muss grundlegend reformiert werden, sodass die Mitgliedstaaten ausreichend Spielraum für soziale und grüne Investitionen erlangen. Schließlich gilt für die Klimakrise und die soziale Frage gleichermaßen: Die Kosten des Nicht-Handelns sind immens hoch!

Was könnten weitere Elemente eines Sozialen Grünen Deals sein?

An dieser Stelle können nur einige aufgegriffen werden, die von der österreichischen Bundesregierung – und vielen weiteren Akteur:innen – auf europäischer Ebene forciert werden sollten: 

Im Rahmen einer auf europäischer Ebene verankerten und finanzierten Arbeitsplatzgarantie für Langzeitarbeitslose können neue Arbeitsplätze mit fairer Entlohnung und guten Arbeitsbedingungen im öffentlichen Sektor, in staatsnahen Unternehmen oder in spezialisierten sozialökonomischen Betrieben geschaffen werden. Damit würden Menschen unterstützt, die auf dem Arbeitsmarkt oft kaum mehr eine Chance erhalten. Ein besonderer Fokus sollte dabei auf die grüne Transformation und den Ausbau der sozialen Infrastruktur (Bildung, Pflege, Soziale Arbeit etc.) gelegt werden. 

Die europäische Säule sozialer Rechte sollte durch ein neues soziales Aktionsprogramm gestärkt werden, um substanzielle Schritte in Richtung sozialen Fortschritts zu setzen. Notwendig sind ambitionierte EU-weite soziale Mindeststandards bei den einzelstaatlichen Arbeitslosenversicherungen und Mindestsicherungssystemen, die für angemessenen sozialen Schutz sorgen und Armut wirksam verhindern. Auch in weiteren Bereichen müssen Mindeststandards geschaffen werden, wie etwa bei den Arbeitsbedingungen der Gesundheitsberufe und der Personenbetreuung, in Bezug auf den Schutz der Arbeitnehmer:innen vor mobilitätshemmenden und unfairen Vertragsklauseln sowie zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Arbeitswelt. 

Für viele Menschen ist die Transformation in Richtung einer klimaneutralen Wirtschaft mit Unsicherheit und Zukunftsängsten verbunden. Der damit einhergehende Strukturwandel führt zu Arbeitsplatzverlusten in einigen Bereichen, gleichzeitig schafft er neue Beschäftigung in den Zukunftsbranchen, aber auch in traditionellen Sektoren wie der Bauwirtschaft (thermische und energetische Gebäudesanierung etc.). Dazu sind Arbeitnehmer:innen mit entsprechenden Kompetenzen nötig. Im Rahmen des Grünen Deals wird diese Herausforderung weitgehend anerkannt und es gibt auch zahlreiche Initiativen (zum Beispiel die Empfehlung des Rates zur Sicherstellung eines gerechten Übergangs zu Klimaneutralität) und Unterstützung aus verschiedenen EU-Fonds. Was fehlt, sind konkrete Rechtsansprüche auf Aus- und Weiterbildung. Für arbeitssuchende Menschen muss ein EU-weites Recht auf Zugang zu geeigneten Aus- und Weiterbildungen in Kombination mit einer existenzsichernden finanziellen Absicherung verankert werden, um Menschen zu ermöglichen, sich für zukunftsfähige Berufe zu qualifizieren. Für Beschäftigte müssen Rechtsansprüche auf ein Mindestmaß an Weiterbildung während der Arbeitszeit und auf bezahlte Bildungskarenz auf EU-Ebene verankert werden. Gleichzeitig müssen Unternehmen in die Pflicht genommen werden, in ihre Beschäftigten und deren Kompetenzen zu investieren. 

Die amtierende Kommissionspräsidentin hat in ihrer letzten Rede zur Lage der Union einen wichtigen Satz formuliert: „Die Zukunft Europas wird mit und von unseren Sozialpartnern aufgebaut“. Nehmen wir diesen Satz ernst und interpretieren wir ihn als klaren Auftrag, gemeinsam mit den Sozialpartnern den Startschuss für die Ausarbeitung eines „Sozialen Grünen Deals“ zu geben! Österreich sollte sich dafür stark machen.


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