Rezension: Eurowhiteness – Die europäische Idee hat mehr mit Rassismus zu tun, als uns lieb ist
Hans Kundnani will kein Proeuropäer mehr sein. Zu sehr hat ihn die Realität der europäischen Politik ernüchtert, zu viel Kritisches wird im kosmopolitischen Selbstbild Europas ausgeblendet. In Eurowhiteness zeigt er, wie eng die moderne Idee Europas mit dem Christentum und der Idee des Weißseins verbunden ist und wie sie die koloniale Vergangenheit des Kontinents verschleiert. Das ist heute politisch relevant, denn angesichts der neoliberalen Depolitisierung der Wirtschaft werden die kulturellen und ethnischen Elemente der Europäischen Union immer stärker.
Autorin: Lisa Mittendrein
Diesen Artikel downloadenDie EU überwindet Nationalismus nicht, sondern hebt ihn auf eine kontinentale Ebene. Und nicht nur das: Die Idee und die Geschichte der europäischen Integration sind eng mit dem Christentum und der Konstruktion von Weißsein verbunden.
Es sind harte Thesen, mit denen Hans Kundnani in den europapolitischen Diskurs interveniert. Und kaum jemand anderer könnte das so überzeugend tun wie er. Denn Kundnani arbeitete lange in Brüssel und verstand sich als „Pro-Europäer“, also als jemanden, der das europäische Projekt in seiner aktuellen Form befürwortet und die EU als „Kraft des Guten“ in der Welt begreift. Über die Jahre wurde ihm damit immer unwohler, bis er den Begriff ablegte und sich der realen Geschichte Europas und der europäischen Identität zuwandte. Herausgekommen ist eine kluge Analyse, bei der Kundnani auf Theoretiker:innen wie Benedict Anderson, Hannah Arendt und Jan Zielonka zurückgreift.
Die europäische Identität existiert nicht im luftleeren Raum
Eurowhiteness argumentiert, dass die Europäische Union eine Form von Regionalismus darstellt. Sie ist somit nicht das Gegenteil von Nationalismus, den zu überwinden sich die EU auf die Fahnen schreibt. Stattdessen hebt sie vieles, was diesen ausmacht, auf die kontinentale Ebene. Ebenso wie viele Formen des Nationalismus beruht die Idee Europas nämlich auch auf ethnischen und kulturellen Faktoren.
Die europäische Identität existiert demnach nicht im luftleeren Raum, sondern in Abgrenzung zu nicht-europäischen Anderen. Im Mittelalter stand das christliche Europa laut seinem Selbstbild im Inneren dem Judentum und in Äußeren dem Islam entgegen. Mit der Aufklärung konstituierte sich Europa in Abgrenzung zu Nicht-Weißen Menschen auf der ganzen Welt, die zu „zivilisieren“ es auf Grund der eigenen Überlegenheit das Recht hatte. Teile dieser Ideengeschichte sind leider nicht in der Vergangenheit verblieben, sondern prägen das europäische Selbstverständnis bis heute.
Buchtipp
Hans Kundnani
Eurowhiteness: Culture, Empire and Race in the European Project
Hurst Publishers, 2023
Hans Kundnani ist Visiting Fellow am Remarque Institute an der NYU und ehemaliger Direktor des Europaprogramms bei Chatham House. Er ist Autor mehrerer Bücher über Europa und regelmäßiger Kommentator im Observer, Guardian, New Statesman und Foreign Affairs.
Europa als Chance für das Empire?
Ähnliches gilt auch für das europäische Geschichtsbild, das für Kundnani eher auf „imperialer Amnesie“ als auf ehrlicher Anerkennung der kolonialen Geschichte basiert.
Es ist kein Zufall, dass der Beginn der europäischen Integration mit dem Ende des Kolonialismus zusammenfällt. Die Territorien der Europäischen Gemeinschaft reichten in den 1950er Jahren vom Baltikum bis in den Kongo. Für Belgien und Frankreich war die europäische Integration auch der Versuch, ihre kolonialen Besitztümer aufrechtzuerhalten, wofür sie alleine nicht mehr mächtig genug waren. Britische Politiker hofften auf ein neues europäisches Empire, während das britische zerbröselte.
Diese kolonialen Ursprünge der europäischen Integration sind kein Teil ihrer offiziellen Geschichtsschreibung. Kundnani zeigt, wie ihre Kontinuitäten deswegen bis heute unbemerkt fortwirken.
Der übersehene Zusammenhang:
Neoliberalismus und die Hinwendung zu Identität und Kultur
Die ethnischen und kulturellen Kontinuitäten der europäischen Politik gewinnen seit einigen Jahren wieder an Bedeutung. Hintergrund ist neben der fehlenden kritischen Auseinandersetzung auch der Neoliberalismus und seine autoritäre Zuspitzung in der Eurokrise. Während die Wirtschaftspolitik depolitisert wurde, verschoben sich politische Konflikte hin zu Fragen von Migration, Identität und Islam. Denn im Gegensatz zur technokratischen Wirtschaftspolitik, in der ein breiter neoliberaler Konsens herrscht, gab es auf dem kulturellen Terrain noch politische Unterschiede und Gestaltungsmacht.
Hans Kundnanis Buch ist ein unverzichtbarer Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung mit der Europäischen Union. Denn wir können dem Aufstieg des Nationalismus in Europa nur begegnen, wenn wir verstehen, was die EU dafür anfällig macht. Denn das sind nicht nur die Nationalstaaten.
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