
Rezension: Neue Deutsche Europapolitik – Fiskal- und industriepolitische Tabubrüche im Bildrausch globaler Umwälzungen
Zwei Konflikte innerhalb des deutschen Machtblocks stehen im Zentrum von Etienne Schneiders Krisenanalyse. Anhand der Auseinandersetzungen um eine gemeinsame europäische Verschuldung im Rahmen der Coronakrise und um Deutschlands industriepolitischen Kurswechsel seit 2019 zeigt er, wieso Deutschlands ordoliberales Selbstbild zusehends bröckelt.
Autor: Bastian Henriquez Blauth
Diesen Artikel downloadenEtienne Schneiders Buch, das auf seiner Dissertation basiert, nötigt seinen Leser: innen Respekt ab. Sein Werk fußt auf einem regulationstheoretischen Ansatz, demzufolge „der kapitalistische Akkumulationsprozess grundsätzlich krisenhaft ist und durch unterschiedliche Formen der Regulation stabilisiert werden muss“. Wenn Regulationsweise und Akkumulationsregime ineinandergreifen und sich eine stabile Formation herausbildet, kann von einer konkreten Entwicklungsweise gesprochen werden. Aufbauend auf diesem Ansatz (und mit methodologischer Akribie) verfolgt seine Arbeit das Ziel, die deutsche Positionierung zur europäischen Wirtschaftsintegration durch eine Analyse, der Positionen, Interessen, Strategien und Konfliktlinien innerhalb des deutschen Machtblockes zu entschlüsseln. Interessierte Leser: innen sollten sich jedoch nicht vom Umfang und anspruchsvollen theoretischen Zugang abschrecken lassen. Das Buch ist dicht an Informationen und bietet einen detailscharfen Überblick über die Entwicklungsweise und die wachsenden Krisentendenzen des deutschen Kapitalismus im Kontext des europäischen Integrationsprozesses. Darüber hinaus liefert seine Analyse wertvolle Anhaltspunkte für die Diskussion über die progressive Reformierbarkeit der EU.
Die Rekonfiguration des „Modell Deutschland“
Eine seiner zentralen These ist, dass der Erfolg des „Exportweltmeisters“ entscheidend von der neoliberalen Integrationsweise in der EU ab den 1980er Jahren begünstigt wurde. Die neoliberale Wende in Deutschland läutete nicht einfach die Erosion bzw. Desorganisation dessen ein, was Helmut Schmidt in den 1970er Jahren das „Modell Deutschland“ nannte. (Und sich in regulationstheoretischen Begriffen als fordistische Entwicklungsweise fassen lässt.) Vielmehr mündete die Rekonfiguration des deutschen Fordismus, der der BRD „dreißig goldene Jahre“ beschert hatte, in eine neue post-fordistische (vulgo:neoliberale) Entwicklungsweise. Maßgeblich für die Stabilisierung dieser Entwicklungsweise war zunächst die Regulation des Lohnverhältnisses. So kam es zu einer massiven Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit. Die Kapitalseite verfügte aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit ab den 1990er Jahren über ein mächtiges Druckmittel, dessen Schlagkraft durch die Hartz-Reformen und die (angedrohte) Standortverlagerung durch Offshoring oder Outsourcing noch einmal erhöht wurde. Vor diesem Hintergrund kam es zur Aushöhlung des Tarifvertragssystems - die Tarifvertragsabdeckung Industriebeschäftigter sank zwischen 1995 und 2013 um 30%.
Es kann nur einen Exportweltmeister geben
Auf diese Weise konnte das deutsche Industriekapital seine preisliche Wettbewerbsfähigkeit steigern. Der Exportweltmeister profitierte aber auch massiv von der neoliberalen Integrationsweise in der EU ab den 1980er Jahren. Zunächst schränkte die europäische Wettbewerbs- und Beihilfenpolitik, die industriepolitischen Spielräume der Mitgliedsstaaten empfindlich ein (Europäisierung der Regulation des Konkurrenzverhältnisses). Diese strikt wettbewerbsorientierte Regulation begünstigte folglich eine weitere Erschließung der europäischen Märkte durch das konkurrenzfähige deutsche Industriekapital.
Überdies legt der Autor da, dass die Etablierung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) dauerhaft das „Aufwertungsproblem“ der deutschen Exportindustrie löste (Europäisierung der Regulation des Geldverhältnis). Betrug der Exportüberschuss der BRD im Jahr 2000 noch 59 Milliarden Euro, belief er sich 2007 bereits auf 195 Milliarden Euro. Eine solche Explosion der Exportüberschüsse wäre ohne die Einführung des Euros nicht möglich gewesen. Ohne die Währungsunion wäre die deutsche Währung im Verhältnis zur französischen oder italienischen aufgewertet worden – der Preisvorteil wäre auf dem Weltmarkt gar nicht erst entstanden und Deutschland hätte seine Nachbarn nicht durch Niedriglöhne „niederkonkurrieren“ können. Im Rahmen der neoliberalen Entwicklungsweise „radikalisierte“ sich so die Exportorientierung Deutschlands weiter.
Das exportorientierte Industriekapital konnte bis 2007 noch Exportüberschüsse in der WWU erzielen und bis 2016, die austeritätsbedingt eingebrochene Nachfrage auf den europäischen Märkten, durch eine Re-Orientierung in Richtung der emerging markets ausgleichen. Seit 2017 stößt die deutsche Exportfixiertheit jedoch zusehends an ihre Grenzen, da die Nachfrage in den emerging markets erlahmt und China das deutsche Industriekapital in seinen Kerndomänen unter Druck setzt.

Etienne Schneider
Neue deutsche Europapolitik:
Währungsunion und Industriepolitik
zwischen Eurokrise und geopolitischer Wende
Campus Verlag, 2023
Zum Autor: Etienne Schneider ist Politikwissenschaftler und PostDoc am Institut für Internationale Entwicklung an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Industrie- und Klimapolitik, sozial-ökologische Transformation und die politische Ökonomie von Carbon Removal. Er ist Mitherausgeber des Buches Politische Ökonomie der „Zeitwende“ – Perspektiven der Regulationstheorie, das 2024 im Verlag Westfälisches Dampfboot erschien.
Schlüsselkonflikte und ordoliberale Sündenfälle
Schon die erste Hälfte des Buches, in der der Autor die Entwicklungsdynamik des deutschen Kapitalismus im Kontext der europäischen Wirtschaftsintegration beschreibt, macht es zu einem lesenswerten Nachschlagewerk. In der zweiten Hälfte liegt der Fokus auf zwei Konflikten bzw. zwei zentralen Fragen:
Wieso pochte die deutsche Bundesregierung während der Coronakrise, anders als im Zuge der Eurokrise, nicht auf Austeritätspolitik, sondern stimmte einer gemeinsamen europäischen Verschuldung und Umverteilung im Rahmen des EU-Wiederaufbaufonds (NextGenerationEU) zu? Und wie kam es zu den grundlegenden Verschiebungen in der deutschen Position zur EU- Wettbewerbs- und Industriepolitik, die in deutlichem Widerspruch zur ordoliberalen wirtschaftspolitischen Tradition der BRD stehen? Während die BRD sich seit den 1980er Jahren für eine rein wettbewerbsorientierte, neoliberale Ausgestaltung der EU-Wettbewerbspolitik einsetzte, die die industriepolitischen Spielräume der Mitgliedsstaaten möglichst beschneiden sollte, wurden ab 2019 zahlreiche ambitionierte industriepolitische Initiativen lanciert.
Fiskalpolitischer Quantensprung oder Minimalkompromiss?
Ausgehend von der Annahme, dass die Positionierung der Bundesregierung sich als ein Kompromiss zwischen verschiedenen Fraktionen (Parteien, Gewerkschaften, Industrieverbände, etc.) des deutschen Machtblocks verstehen lässt und basierend auf der Analyse verschiedener Akteurskonstellationen (national-regressive, sozial-integrationistische, ordoliberal-defensive Akteursgruppe, etc.) ergründet der Autor diese bemerkenswerten Positionsverschiebungen. Den Kurswechsel der Bundesregierung in der Coronakrise – also den Bruch mit dem europapolitischen Tabu einer „Schulden- und Transferunion“ – bewertet Etienne Schneider als eine Verschiebung in Richtung der Positionierung des exportorientierten Kapitals. Diese Verschiebung erklärt er vor allem mit der Angst vor einem Auseinanderbrechen der EU (insbesondere vor einem „Italexit“) und der neuen Dynamik geopolitischer Konkurrenz. Die Sicherung der WWU wird im deutschen Machtblock zunehmend unter dem Gesichtspunkt der Gewährleistung der Einheit und geopolitischen Handlungsfähigkeit der EU gesehen.
Diese Handlungsfähigkeit wird, aufgrund der Erosion der US-Hegemonie, zunehmend als belangvoll erachtet, um die globale Freihandelsarchitektur zu erhalten bzw. abzusichern. Ebenso soll einer inneren Spaltung der EU zwischen den USA und China vorgebeugt werden. NextGenerationEU kann so auch als Versuch verstanden werden, eine Veräußerung kritischer Infrastrukturen an chinesische Investoren in Südeuropa zu vermeiden, wie sie im Zuge der austeritätspolitischen Bearbeitung der Eurokrise erfolgte. Die Konzessionsbereitschaft des deutschen Machtblocks gegenüber Frankreich und Südeuropa im Hinblick auf eine Risikoteilung und Transfermechanismen zur Stabilisierung der WWU dürfte so auch in Zukunft wachsen. Doch wie bereits in der Eurokrise war die Bundesregierung auch in der Coronakrise lediglich bereit, das absolut Notwendige zu tun, um die WWU auf kurze Sicht vor einer Desintegration zu bewahren. NextGenerationEU bildet somit keine Ausgangsbasis für einen Übergang von einer „Stabilitäts- zur Fiskalunion“: die Geldmittel wirken zwar leicht konjunktursynchronisierend, die one-size-fits-none Problematik, also dass die Geldpolitik im Euroraum nicht gezielt auf die Entwicklungstendenzen einzelner Länder reagieren kann, bleibt jedoch bestehen.
Deutsche Abstiegsängste und geopolitische Umbrüche
Im Gegensatz zur gemeinsamen europäischen Verschuldung im Rahmen von NextGenerationEU stellt die industriepolitische Positionsverschiebung des deutschen Machtblocks durchaus einen Paradigmenwechsel dar. Im Angesicht der Krisentendenzen des deutschen Exportmodells, insbesondere im Kontext des Aufstiegs Chinas und der drohenden Gefahr eines Abstiegs des deutschen Produktionssystems in der internationalen Arbeitsteilung, drängt das exportorientierte Industriekapital mit Unterstützung der Gewerkschaften verstärkt auf eine stärker interventionistische Industriepolitik. Dafür wird auch die Aushöhlung der EU-Wettbewerbsregeln, vor allem im Bereich der EU-Fusions- und Beihilfenkontrolle, in Kauf genommen. Ausschlaggebend für diese Umorientierung ist eine grundlegend neue Problemstellung: der Erhalt einer eigenständigen technologischen Position Deutschlands bzw. der EU gegenüber China und den USA, angesichts der zunehmenden geopolitischen Rivalität und der sich abzeichnenden „Entkopplung von Technologiesphären“.
Geoökonomische Entwicklungslinien und progressive Einfallstore
Etienne Schneider beschließt sein Werk mit der Frage, welche Schlussfolgerungen sich aus seiner Untersuchung für die Diskussion über eine progressive Reformierbarkeit der EU ergeben. Er bewertet die Positionsverschiebungen des deutschen Machtblocks als Versuch „die durch die Austeritätspolitik im Zuge der Eurokrisenbearbeitung freigesetzten Zentrifugalkräfte und Desintegrationstendenzen wieder einzufangen“. So zeigt sich einerseits, dass die Orientierung des deutschen Machtblocks an der Durchsetzung von innerer Abwertung und Austerität nicht so verfestigt ist, wie es bis Mitte der 2010er Jahre schien. Auch die sich intensivierende industriepolitische Konkurrenzdynamik zwischen den USA, China und der EU könnte dazu führen, dass der deutsche Machtblock seine ablehnende Haltung gegenüber einer gemeinsamen Verschuldung lockert, um die fiskalpolitische Schlagkraft der EU-Industriepolitik zu stärken. Ob diese Entwicklungen den Übergang zu einer post-neoliberalen Integrations- und Regulationsweise in der EU zeitigen oder ob wir uns in einer „Phase der Uneindeutigkeit“ befinden, wird nicht abschließend beantwortet.
Ob diese neuen „geoökonomischen Entwicklungslinien“ und die erhöhte Akzeptanz von Staatsinterventionismus bzw. der Bruch mit marktliberalen Prinzipien in eine progressive Richtung weisen, ist ebenso zweifelhaft. NextGenerationEU liegt weit entfernt von Reformoptionen wie etwa dauerhaften Eurobonds zur Finanzierung der sozial-ökologischen Transformation oder einer demokratisch legitimierten WWU-Fiskalkapazität. Ebenso droht die Rekonfiguration der EU-Industriepolitik die Nord-Süd-Spaltung in der EU weiter zu verschärfen. Wäre zur Verminderung der Asymmetrien in der europäischen Arbeitsteilung eine entwicklungsorientierte Industriepolitik zum Aufbau produktiver Kapazitäten in der süd- und osteuropäischen Peripherie erforderlich, dürfte insbesondere das IPCEI-Instrument (Important Projects of Common European Interest) bestehende Asymmetrien noch verstärken. Da die Beihilfen für die als relevant eingeschätzten Projekte vornehmlich von den Mitgliedsländern gestemmt werden, könnten gerade finanzstarke Länder diese Aushöhlung der EU-Beihilfenkontrolle industriepolitisch nutzen. Andere industriepolitische Instrumente wie local content requirements zur Stärkung regionaler Wertschöpfung peripherer Mitgliedsländer sind indessen weiter ausgeschlossen.
Zugleich erweitert aber die Lockerung der Beihilfenkotrolle, zumindest theoretisch, den Handlungsspielraum für progressive industriepolitische Instrumente, etwa einen sozial-ökologischen Transformations- und Konversionsfonds, die bis dato unter engen beihilferechtlichen Einschränkungen operieren mussten. Ziel eines solchen Fonds müsste es sein, „die massive Investitionslücke für eine umfassende Dekarbonisierung zu schließen, die öffentliche Beteiligung in Schlüsselbereichen der industriellen Produktion auszuweiten, zu bündeln und im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation von Industrie und Wirtschaft zu koordinieren“.
Überdies argumentiert er, dass große Teile des exportorientierten Industriekapitals in Deutschland die Notwendigkeit einer umfassenden Dekarbonisierung grundlegend und auf lange Sicht akzeptiert haben. Aufgrund des damit verbundenen, immensen Investitionsbedarfes wird auch auf Kapitalseite die restriktive Fiskalpolitik zunehmend kritisch bewertet. Für progressive Kräfte ergibt sich dadurch eine neue Problemstellung: Industrie- und wirtschaftspolitische Gestaltungsspielräume werden nicht mehr in erster Linie durch die EU-Wettbewerbsregeln und einer restriktiven Fiskalpolitik beschränkt. Vielmehr besteht die Gefahr darin, dass diese neuen Spielräume im Sinne eines corporate capture von Großkonzernen vereinnahmt werden und Forderungen nach einer umfassenden Transformation zwar selektiv aufgegriffen werden, die bestehende Formation des Machtblocks aber erhalten bleibt und so eine tiefgreifende sozial-ökologische Transformation verhindert wird.
Fazit
Etienne Schneider gelingt mit seiner polit-ökonomischen Analyse ein präziser Zugriff auf die zwei Schlüsselkonflikte. Durch seine Untersuchungen schließt er eine Leerstelle in der europäischen Integrationsforschung, die der deutschen Positionierung zu einer Schuldenunion bzw. einer aktiven Industriepolitik zwar einen zentralen Stellenwert beimisst, sie aber nicht hinreichend zu erklären vermag. So zeigt er, dass der deutsche Machtblock kein monolithisches Gebilde ist, sondern von Bruchlinien und Interessenswidersprüchen durchzogen ist. Ebenso arbeitet er heraus, dass der deutsche Machtblock kein unbewegliches Objekt ist und sich in beiden Konflikten an französische Positionen annäherte bzw. von ordoliberalen Positionen abrückte. Etienne Schneiders Buch ist über weite Strecken nicht gerade zugänglich und aufgrund des theoretischen Zugangs recht abstrakt – im Zentrum stehen aber zwei sehr konkrete Fragen, die für die Zukunft der EU von hoher Relevanz sind. Mit seinem Werk gibt er vor allem Studierenden und Forschenden das nötige polit-ökonomisch Rüstzeug an die Hand, um die neoliberale Verfasstheit der EU besser zu verstehen und Deutschlands Rolle im europäischen Integrationsprozess einzuordnen.
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