30 Jahre Mitgliedschaft Österreichs in der EU: Zeit, Verantwortung zu übernehmen
Seit einigen Wochen verhandeln ÖVP, SPÖ und NEOS über ein neues Regierungsprogramm. Ob darin die Europapolitik einen entsprechenden Stellenwert einnehmen wird, bleibt abzuwarten. Jedenfalls gäbe es Einiges zu tun, damit Österreich aus seinem selbstverschuldeten Schmuddeleck rausfinden könnte. Dazu ein paar Gedankenanstöße, wie die neue Regierung die europapolitische Identitätskrise der Vorgängerregierungen hinter sich lassen könnte.
Autor: Valentin Wedl
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Es ist kein Geheimnis: Österreich hat sich in den vergangenen Jahren in seiner EU-politischen Ausrichtung immer schwerer getan. Auch die ausgehende, ihrem Selbstverständnis nach proeuropäisch orientierte Bundesregierung wusste bei vielen entscheidenden Fragen in Brüssel nur wenige Akzente zu setzen, ja wirkte oftmals beinahe teilnahmslos. Und wenn die Regierung dann doch auch wichtigen Einfluss auf die Entscheidungsfindung ausübte, erschien sie darin nicht wirklich besonders einig (siehe zum Beispiel das Renaturierungsgesetz).
Die Uneinigkeit innerhalb der Regierung äußerte sich aber in aller Regel nicht in umstrittenen Befürwortungen zu Rechtsakten, sondern in den vielen „Enthaltungen“, die einem „Nein“ gleichkommen. Diese wurden lange Zeit bis zum bitteren Ende der Verhandlungen bei wichtigen Dossiers durchgezogen. Davon betroffen waren die seit vielen Jahren wichtigsten Initiativen zum besseren Schutz von Arbeitnehmer:innen (von der Mindestlohnrichtlinie bis hin zur Plattformarbeitsrichtlinie), für eine gerechtere und nachhaltigere Weltwirtschaft (diverse Rechtsakte für nachhaltigere Lieferketten) und – zumindest lange Zeit – sogar für den unerlässlichen Investitionsschub in Gestalt des NextGenerationEU-Programms.
Aus Sicht der österreichischen Arbeitnehmer:innen hat sich dieses Drama aus einem merkwürdigen Grund dann nicht einmal als besonders tragisch erwiesen. Denn die scheidende österreichische Regierung hat auch mit ihrer wenig konstruktiven Haltung letztlich wenig Spuren hinterlassen oder – pointierter formuliert – nichts weiter angerichtet. Praktisch alle genannten und für Wesen und Wert der europäischen Integration der Beschäftigten nicht unwichtigen Rechtsakte konnten dennoch Mehrheiten finden und andere wichtige Initiativen scheiterten zumindest nicht allein am österreichischen Veto (erlauben wir uns einmal hier nicht über die Verhinderung der Schengen-Erweiterung zu reden).
Es waren dann weniger die österreichischen Arbeitnehmer:innen, die den Preis für EU-politische Enthaltsamkeit zu zahlen hatten – diese Obstruktionshaltung ging vielmehr mehr auf Kosten der Reputation und europapolitischen Glaubwürdigkeit der Republik sowie ihrer Repräsentant:innen.
Nach 30 Jahren in der Identitätskrise
30 Jahre nach dem EU-Beitritt wird Österreich in Brüssel de facto immer weniger als Subjekt wahrgenommen, kleinere umtriebige Länder wie etwa Luxemburg werden es dagegen schon. Österreich ist auch nur selten an schlagkräftigen Allianzen mit anderen Mitgliedstaaten beteiligt. Das liegt nicht nur an der geopolitisch nicht ganz einfachen Ausgangslage. Denn Österreich hat im Gegensatz zu anderen Staaten wie z.B. jenen Skandinaviens oder des BENELUX zumindest in der unmittelbaren Nähe bekanntlich keine „natürlichen Bündnispartner“ in ähnlicher Größe und vergleichbarem sozio-ökonomischem Niveau. Aber auch außerhalb unserer direkten Nachbarschaft wären viele konstruktive Allianzen möglich. Für die Isoliertheit unserer Republik sind also andere Gründe ausschlaggebend.
Denn würden z.B. Vertreter:innen aus Belgien oder den Niederlanden bei uns anklopfen und nach der offiziellen Meinung zu zentralen EU-Vorhaben fragen – sie würden möglicherweise nichts weiter als ein paar pauschale unverbindliche Schlagworte zu Binnenmarkt und Erweiterung sowie das frugale Mantra von „Bloß-keine-Transferunion“ zu hören bekommen … und folglich ratlos wieder nachhause reisen.
Österreich befindet sich seit Jahren in einer Identitätskrise. Sie äußert sich darin, dass Vertreter:innen unserer Republik vergessen haben, dass wir ein wohlhabendes Land sind, das sich strategisch am besten behauptet, wenn es wirtschaftlichen Wohlstand mit hohen Sozial- und Umweltstandards zusammenführt. Dazu kommt das unausgeschöpfte Potential dafür, sich insbesondere mit hervorragend ausgebildeten und gut bezahlten Arbeitskräften, einer starken sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur sowie einem hohen Maß an sozialer Gerechtigkeit und Lebenszufriedenheit hervorzutun. Doch ist dieser gesamthafte Grundkonsens im Inneren gestört, ergibt auch das entsprechende Auftreten im Äußeren ein schiefes Bild. Unter anderen Voraussetzungen könnte wahrscheinlich kein österreichischer Minister letztlich rechtfertigen, wieso er nicht für eine Maßnahme votieren konnte, mit der die kollektivvertraglichen Abdeckungen in den osteuropäischen Nachbarländern ein wenig verbessert werden sollen (so passiert bei der Abstimmung zur sog. Mindestlohnrichtlinie).
Obwohl wir seit 30 Jahren in der EU verankert sind, wird die EU mehr denn je wieder als das „da draußen“ wahrgenommen und allzu gern entsprechend instrumentalisiert und inszeniert: gerne als Bedrohung, wenn es darum geht, vor „Bürokratiemonstern“ zu warnen; jedenfalls als Schuldigen, wenn einst allwissende Industriekapitäne aufs Investieren vergessen haben und die Konkurrenz beim grünen Umbau einfach besser geworden ist. Die ursprüngliche EUphorie der späten 90er ist in den letzten Jahren immer mehr einer merkwürdige Apathie bis Ablehnung gegenüber dem Geschehen in Brüssel gewichen.
Österreichs Regierung als Außenseiter in Europa
Nur wenn die EU von Österreich aus besehen als das „da draußen“ gesehen wird, so haben wir diese Position nicht weniger aus Sicht der EU erhalten. Es fällt schon auf, dass es immer weniger österreichische Vertreter:innen in politische Führungsämter der EU schaffen (obwohl aus dem geographischen Zentrum des Kontinents kommend und mit einem gewissen Brückenbauerimage groß geworden). Oder glaubt hier irgendwer, dass es dem Wunsch des österreichischen Finanzministers entsprochen hat, ab nun die Außengrenzen zu sichern? Und dass das alles nichts damit zu tun hat, dass Österreich lange Zeit die Schengen-Erweiterung blockiert hat? Oder auch damit nichts, dass manch gefinkelte österreichische Politprofis einst zum Aufheizen der Anti-EU-Stimmung absichtlich EU-Verfahren inszeniert haben, indem ausländischen Pflegerinnen gegen den klaren Wortlaut der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit die Familienbeihilfe kleinlich gekürzt wurde? Wer wollte hier denn wem ein schikanöses Bürokratiemonster kreieren? Aber auch weniger regierungsparteinahe Proponent:innen hätten das eine oder andere Backing aus der Provinz nutzen können, wenn die Spitzenjobs im Europäischen Parlament ausgedealt werden.
Wo Brücken zu schlagen wären
Bis zum 30. Geburtstag scheint Österreich seine EU-Reife nie wirklich erlangt zu haben. Mit einer neuen Bundesregierung könnte auch ein Neustart in den Beziehungen zu Brüssel erfolgen. In Anbetracht der Riesenherausforderungen gebe es genug zu tun, um die immer stärker auseinandertreibenden Kräfte zu einen und gemeinsam nach vorne zu wirken. Brückenbauer:innen aller Länder werden dringender denn je gebraucht werden.
Denn manche Gräben sind tief: wie etwa zwischen den frugalen Fiskalfetischisten und jenen, die den Weg für Investitionen in erforderlicher Billionenhöhe frei machen wollen, um die grüne Transformation voranzubringen (und so nebenbei die multiple Ausgeliefertheit gegenüber anderen Ländern wieder zu verringern). Österreich muss sich eindeutig an der Seite der Verantwortungsträger:innen für die Weiterentwicklung des Green Deals positionieren. Dazu wird auch eine neue Generation von globalen Partnerschaften erforderlich sein.
Im Sinne eines gerechten Übergangs muss der europäische Wohlfahrtsstaat weiterentwickelt werden: Es geht darum, mit entschlossenen Schritten die Arbeitsplätze der Zukunft bereit zu stellen statt den sozialen Kitt in Europa weiter erodieren zu lassen. Das ist nicht nur eine Frage des Geldes. Denn das entsprechende Miteinander in den Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen ist durch eine neue Kultur des sozialen Dialogs zu erreichen (dass die derzeitige Generation an Industrieerben willens und imstande wäre, den Wandel zu schaffen, glaubt sie ja nicht einmal selbst mehr).
Und die neue Bundesregierung soll innerhalb und mit der EU zu einer hörbaren Stimme für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit werden. Auf diesen Grundfesten fußen letztlich alle Politikbereiche einschließlich der großen Zukunftsthemen wie Vertiefung und Erweiterung der Union – ohne entsprechende Stärkung der europäischen Handlungskompetenzen (sei es durch gemeinsame öffentliche Verschuldungen oder auch durch Mehrheitsentscheidungen im Rat bei Steuerthemen) ein schwer vorstellbares Unterfangen..
Verantwortung übernehmen
Mit diesen europapolitischen Grundprinzipien wäre auch jener Wertekompass geschaffen, mit dem Österreich aus seinem merkwürdigen selbstverschuldeten Provinz-Isolationismus aus- und nach Europa aufbrechen könnte. Und es wäre auch die Basis für eine neue Kultur der streitbaren Auseinandersetzung über EU-politische Themen in Österreich geschaffen. Gerade die letzte Regierung hat gezeigt, dass es manchmal guttäte, die Positionierungen Österreichs im Rat genauer abzustimmen und offener zu diskutieren (z.B. hätte sie dann auch für die vielen „Enthaltungen“ bei brisanten Fragen stärker öffentliche Verantwortung übernehmen müssen).
Umso kritikwürdiger ist es daher, dass es in all den Jahren nicht Usus geworden ist, das Abstimmungsverhalten der österreichischen Regierungsvertreter:innen im EU-Ministerrat (nach Außen) vorab im österreichischen Ministerrat (nach Innen) zu klären. Ein Hinweis mehr, dass Österreich auch nach 30 Jahren Mitgliedschaft nicht ganz in der EU angekommen scheint. Offenbar ist Österreich bislang nicht bereit dafür gewesen, entsprechende Regierungsverantwortung zu übernehmen – für Europa und zuvorderst für sich selbst.
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