Bessere Rechtsetzung in der EU: Unternehmenswünsche im Fokus – Gesellschaftspolitische Standards in Gefahr
Seit fast 30 Jahren verfolgt die EU-Kommission die sogenannte Agenda der Besseren Rechtsetzung. Zu Beginn als Instrument, um komplexe gesetzliche Regelwerke zu vereinfachen, änderte sich die Zielsetzung allmählich zugunsten von Unternehmenswünschen. Unter der Führung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen werden EU-Gesetze nun zunehmend als administrative Last beschrieben, sobald sie für Unternehmen als zu kostspielig betrachtet werden.
Autorin: Brigitte Pircher
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Eine Reihe von Maßnahmen der Europäischen Kommission deuten darauf hin, dass bestimmte soziale, konsument:innenschutzpolitische oder ökologische Vorschriften über die „Hintertür“ abgeschafft werden könnten. Eine der von der EU-Kommission eingeführten Methoden, das sogenannte „One-In, One-Out“ (OIOO) -Prinzip führt zu Deregulierungen, die insbesondere gesellschaftliche Standards untergraben können. Zudem geschieht dies nicht in einem offenen und demokratischen Prozess. Es bleibt oft lange unklar, welche Gesetze in welchem Umfang betroffen sein könnten. Die EU-Kommission legt dabei größeren Wert auf die Kostensenkung für Unternehmen als auf die positiven ökologischen und sozialen Auswirkungen.
EU Better Regulation – eine Deregulierungsagenda
In den frühen 1990er Jahren wurde das EU-Recht als übermäßig technisch und komplex angesehen, was zu Bemühungen führte, es zu vereinfachen und klarer zu gestalten. Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre jedoch wurde die EU-Gesetzgebung zunehmend als Belastung wahrgenommen, insbesondere für Unternehmen, was zu einer Deregulierungsagenda führte, die oft gesellschaftliche Standards beeinträchtigte. Unter dem Vorgänger von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Jean-Claude Juncker (Amtszeit 2014-19), blieben solche Bedenken bestehen, doch wurden umfassendere politische Lösungen eingeführt mit einer etwas inklusiveren Sprache als zuvor.
Unter der Führung von Präsidentin von der Leyen hat die Kommission jedoch eine deutliche Wende vollzogen, indem sie Unternehmensinteressen fast ausschließlich gegenüber gesellschaftlichen Belangen priorisierte und die EU-Gesetzgebung als zu belastend und kostspielig für die Unternehmen darstellte. Die untenstehende Grafik verdeutlicht einen starken Anstieg des Fokus auf Kosten und Belastungen in der offiziellen Sprache der Kommission unter von der Leyen im Vergleich zu Juncker.
Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU) haben günstige Bedingungen und Ausnahmeregelungen erhalten. Doch die Definition der Kommission für KMU ist so weit gefasst, dass 99,8 Prozent aller Unternehmen in Europa in diese Kategorie fallen, einschließlich großer Unternehmen, die von reduzierten Verpflichtungen profitieren. Selbst das Immobilienimperium Signa Holding in Österreich wurde als KMU eingestuft und profitierte von der geringeren Aufsicht, die mit dieser Deregulierungsagenda verbunden ist. Signa meldete letztes Jahr Insolvenz an – die größte Pleite in der europäischen Immobilienentwicklung – was die Gefahren einer gelockerten Regulierung verdeutlicht.
„One in, one out“
Von der Leyens verstärkter Fokus auf die Reduzierung von Belastungen und Kosten hat die Lösungsansätze zur Bewältigung politischer Herausforderungen neu geformt, insbesondere durch die starke Betonung des „One-In, One-Out“(OIOO)-Prinzips. Dieses Prinzip zielt darauf ab, neue Vorschriften durch die Abschaffung einer vorherigen Regelung im gleichen Politikbereich auszugleichen. Die Kommission wendet jedoch eine einseitige Betrachtung der Regulierung an, da sie nur die Kosten neuer Regeln berücksichtigt (die durch das Streichen alter Regeln ausgeglichen werden sollen), während der positive Zweck von Vorschriften und ihr gesellschaftlicher Wert außer Acht gelassen werden.
Dieser Ansatz droht, wesentliche soziale und ökologische Standards zu untergraben und steht im Widerspruch zu den ambitionierten Zielen des europäischen Grünen Deals und der Europäischen Säule sozialer Rechte. Trotz Kritik seitens des Europäischen Parlaments und von zivilgesellschaftlichen Organisationen hat von der Leyen das OIOO und die Kostensenkung priorisiert und damit günstige Bedingungen für Unternehmen und KMU geschaffen, die zunehmend von Kontroll- und Berichtspflichten, insbesondere im Umweltbereich, ausgenommen sind.
Ein klares Beispiel findet sich im Jahresbericht zur Verwaltungsbelastung 2022, in dem die Kommission die EU-Gesetzgebung zum Schutz von Arbeitnehmer:innen vor Asbest als „Belastung“ für Unternehmen bezeichnete – ohne die Vorteile für die Gesundheit der Arbeitnehmer:innen, die Sicherung von Arbeitsplätzen und die Beiträge zu den Sozialversicherungssystemen zu berücksichtigen. Die Kommission übersieht auch die Kosten des Nichthandelns, obwohl die globale Finanzkrise 2008 gezeigt hat, dass die Folgen unzureichender Regulierung immens sein können.
Vergleich der Erwähnung von „Lasten und Kosten“ unter Juncker und Van der Leyen
„Politisiertes Werkzeug“ durch die Hintertür?
Zu den aktuellen Bereichen, in denen Regulierungen abgeschafft werden, gehören unter anderem Umwelt- und Nachhaltigkeitsregulierungen, aber auch der Bereich der öffentlichen Gesundheit und der Finanzsektor. Der Grundgedanke ist also, dass eine neue Umweltregel mit der Streichung einer anderen Umweltregel einhergehen soll, jedoch sind in spezifischen Fällen auch Ausnahmen möglich, wo Regulierungen in anderen Politikbereichen abgeschafft werden können.
Es gibt konkrete Beispiele, wo dieses Prinzip bereits Anwendung findet. In einem Fall führte eine neue Umweltregel im Rahmen des Grünen Deals dazu, dass eine Verbraucher:innenschutzregelung im Bereich der Digitalisierung gestrichen wurde. Es ist derzeit unklar, wer innerhalb der EU-Kommission entscheidet, welche Regeln gestrichen werden. Dies könnte ein politisiertes Werkzeug für die EU-Kommission werden, eine Hintertür, um Anforderungen zu entfernen, die der Industrie nicht gefallen. Bisher wurden laut EU-Kommission über 7 Milliarden Euro durch die Vereinfachung von EU-Vorschriften eingespart, aber es ist nicht leicht nachzuvollziehen, was genau vereinfacht oder abgeschafft wurde. Deshalb wird dieser Ansatz auch von verschiedenen politischen Richtungen stark kritisiert. Sogar der frühere Kommissar für Bessere Rechtsetzung, der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans, verglich dieses Vorgehen mit der Aussage, Mozart habe zu viele Noten in seinen Werken verwendet. „Welche Noten sollen wir weglassen?“ fragte er rhetorisch.
In dieser Rationalisierungsplanung ist klar erkennbar, dass bestimmte Umweltanforderungen nur mehr freiwillig gelten sollen. Wenn die Berichterstattung freiwillig ist, können wir Entwicklung und Erfolg nicht mehr messen. Wir bewegen uns in eine Richtung, die von der ursprünglichen Idee des Grünen Deals wegführt.
Ausrichtung unter der Kommission von der Leyen II
Die zweite Amtszeit von Ursula von der Leyen wird diese Ausrichtung in den kommenden fünf Jahren beibehalten. So hat die Kommission beispielsweise bestätigt, dass sie die Bemühungen zur Reduzierung von Berichtspflichten verstärken wird. Die Berichte von Letta und Draghi skizzieren derweil Pläne zur Förderung der „Wettbewerbsfähigkeit“ und zur Verringerung der regulatorischen „Belastungen“, insbesondere für KMU, was die politische Ausrichtung von von der Leyen widerspiegelt. Dies könnte zu mehr Marktöffnung und Privatisierung in Bereichen wie Verkehr und Gesundheit führen, wodurch die Sozialsysteme gefährdet und Unternehmensinteressen bevorzugt werden, während prekäre Arbeitsbedingungen in der gesamten EU zunehmen könnten.
Die Strategische Agenda 2024-2029, die vom Europäischen Rat im Juni verabschiedet wurde, folgt derselben Ausrichtung: Sie hebt Sicherheit, Wettbewerbsfähigkeit, KMU und den Binnenmarkt als Treiber der Integration hervor und fördert gleichzeitig die finanzielle Integration und den Abbau von Binnenmarktbarrieren. Die Agenda behandelt auch den Klimawandel und den digitalen Wandel, bleibt jedoch vage in Bezug auf Details, abgesehen von der Klimaneutralität. Die öffentliche Gesundheit wird marginalisiert – trotz der jüngsten Pandemie – und der Bericht geht nur kurz auf die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen ein. Die Agenda 2019-2024 hatte noch wesentlich mehr Wert auf sozialen und Verbraucher:innenschutz sowie auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung gelegt.
Insgesamt wird die „bessere Rechtsetzung“ ein zentrales Prinzip der Kommission unter von der Leyen bleiben, da sie die Notwendigkeit betont, europäische Unternehmen im globalen Markt durch die Reduzierung ihrer regulatorischen „Belastungen“ zu unterstützen. Gleichzeitig bedeutet das vor allem eine Gefährdung des sozialen und ökologischen Politik-Erbes.
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