Infobrien 2|24: EY: Wahlkampfthema Bürokratie
Infobrien 2|24: EY: Wahlkampfthema Bürokratie © AK WIEN
Mai 2024

Wahlkampfthema Bürokratie: Arbeitnehmer-, Konsument:innen- und Umweltschutz werden zu Lasten erklärt

Wieder einmal haben wirtschaftsnahe Parteien und Unternehmensvertreter:innen die Phrasen „Bürokratie“ und „Verwaltungslasten“ für sich entdeckt. Viele verbinden mit dem Wort „Bürokratie“ unnötige Verwaltungswege, Papierkram und eine „Stempelmentalität“ von der öffentlichen Verwaltung. Tatsächlich geht es jedoch um Schutzregeln für Beschäftigte, Verbraucher:innen, die Umwelt und andere gesellschaftspolitisch wichtige Themen, die infrage gestellt werden.

Autor: Frank Ey

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Die Anfänge des Bürokratieschmähs zulasten der Bevölkerung

Tatsächlich ist aber etwas ganz anderes gemeint: In den letzten vier Jahren befasste sich die Europäische Union endlich mit gesellschaftspolitischen Themen, die schon lange einer Lösung harrten. In den 15 Jahren davor konzentrierte sich die Europäische Kommission Großteils auf die Verwirklichung der Wünsche von Unternehmensverbänden und ihrer Mitglieder. 


Über den Autor

Frank Ey ist Experte für EU-Binnenmarktpolitik in der Abteilung EU & Internationales der AK Wien sowie Lektor an der WU Wien.
Frank Ey
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Kurz und Knapp

  • Arbeitnehmer:innen- und Konsument:innenschutz als „Verwaltungslast“.
  • Mangelnde Sorgfalts- und Berichtspflichten hatten in der Finanzkrise 10.000 Mrd. US-Dollar an Kosten und Wohlstandsverlusten zur Folge.
  • Die EU-Kommission orientiert sich an den Wünschen der Konzerne und Unternehmensvertreter:innen.
  • Der „Bürokratie“-Schmäh geht hauptsächlich auf Kosten gesellschafts­politischer
    Zielsetzungen.

So definierte bereits im Jahr 2014 eine von der Kommission eingesetzte hochrangige Gruppe im Bereich Verwaltungslasten: Das sogenannte Prinzip Vorfahrt für Klein- und Mittelunternehmen (KMU) soll bei der EU-Gesetzgebung zur Anwendung kommen. Für zahlreiche EU-Gesetze lautete die Devise in der Folge über Jahre hinweg: KMU sind vom Anwendungsbereich ausgenommen – sprich für sie gilt das Gesetz nicht. Zudem regten die Expert:innen dieses Gremiums an, eine One In, One Out-Regel zu verfolgen: Das bedeutet, dass für ein neues Gesetz ein bestehendes gestrichen werden muss. So muss beispielsweise für ein neues Gesetz, das den Schutz für Konsument:innen verbessert, ein anderes Verbraucher:innenschutzgesetz mit hohem Nutzen gestrichen werden. Mit einer derartigen Philosophie wird es beinahe unmöglich, überhaupt noch Verbesserungen beim Schutz für Konsument:innen zu erreichen.

Auf den Bericht der „Verwaltungslasten“-Gruppe folgte die Bekanntgabe, dass eine Reihe von gesellschaftspolitisch wichtigen EU-Gesetzen wie zu Erkrankungen des Bewegungsapparats, zum Passivrauchen und gegen Karzinogene erst einmal verschoben werden. Irritiert zeigten sich laut der hochrangigen Gruppe die Unternehmen auch über Informationspflichten. So äußerte sich die Gruppe kritisch gegenüber der Pflicht, Kleinanleger:innen darüber informieren zu müssen, in welches Anlageprodukt sie ihr Geld überhaupt investieren. Auch im Bereich Lebensmittelsicherheit wurde die Pflicht, näher über ihre Produkte zu informieren, von Unternehmensseite kritisiert.

Und ständig grüßt das Murmeltier: Kommissionspräsidentin Von der Leyen will „KMU“ entlasten 

Im Rahmen eines „KMU-Entlastungspakets“, das die Europäische Kommission im September 2023 vorgestellt hat, sollen ein unternehmensfreundlicheres Regelungsfeld geschaffen und „bestimmte Arten von KMU-freundlichen Bestimmungen systematisch berücksichtigt werden. Eine zentrale Rolle soll weiters die Wettbewerbsfähigkeit spielen. 

Wie die Pläne von EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen aussehen, lässt sich bereits am Kommissions-Arbeitsprogramm 2024 erkennen: Wie bereits vor zehn Jahren macht sie erste Vorschläge, die negative Auswirkungen auf die Bevölkerung haben können. So sollen 25 Prozent aller Berichtspflichten gestrichen werden. Welchen Nutzen viele dieser Pflichten haben, spielt für die Kommission offensichtlich keine Rolle: Der Europäische Gewerkschaftsbund warnt daher eindringlich vor unüberlegten Streichungen derartiger Regelungen: Damit könnten zum Teil erhebliche Auswirkungen auf Gewerkschaftsrechte und den Arbeitnehmer:innenschutz verbunden sein.

Regeln, die nur noch für 0,1 Prozent der Unternehmen gelten

Nicht nur, dass etliche Berichtspflichten gestrichen werden sollen, auch die Definition, welche Unternehmen als KMU gelten, soll angepasst werden. Der Hintergrund: Viele dieser Pflichten gelten nur für Unternehmen, die keine KMU sind. Die Definition von KMU ist bereits heute derart weit gefasst, dass 99,8 Prozent der Unternehmen als kleine und mittlere Unternehmen eingestuft sind. Das reicht der Kommission jedoch noch nicht: Künftig soll die Umsatz- und die Mitarbeiter:innenschwelle noch einmal nach oben angepasst werden: So soll der Begriff der kleinen und großen „Mid-Caps“ eingeführt werden, die dann auch als KMU gelten könnten. Die Kommission stellt sich unter Mid Caps Betriebe mit 499 bis 1.499 Beschäftigten vor. Es ist schon absurd: Denn wird dieser Plan Realität, könnten in Zukunft nur noch 0,1 Prozent der Unternehmen in vollem Umfang berichtspflichtig sein.

Aus der Narrenfreiheit, die es schon einmal aufgrund fehlender Regeln für große Unternehmen gab, hat die Kommission offensichtlich nichts gelernt: Die Finanzkrise ab dem Jahr 2008 war nur aufgrund fehlender Sorgfaltspflichten möglich. Die Kosten der Untätigkeit: Rund 10.000 Mrd. US-Dollar weltweit. Das US-Bureau of Labors Statistics geht davon aus, dass die Krise jedeN Amerikaner:in rund 70.000 US-Dollar ihres Lebenseinkommens gekostet haben dürfte. Ähnlich hoch dürften die Kosten auf EU-Ebene sein: Allein für die Rettung der Banken zwischen 2008 und 2011 wendeten die EU-Staaten 4.500 Mrd. Euro auf.

Auch heute zeigt sich, welchen Schaden fehlende oder mangelhafte Berichtspflichten haben können: Der größte Insolvenzfall in der Geschichte Österreichs, die Signa, war in dieser Dimension nur möglich, weil sich die Signa als „kleine GmbH“ ins Firmenbuch eintragen ließ. Das hatte zahlreiche Vorteile in Form geringerer Berichtspflichten bei dem Milliarden-Unternehmen.

„Verwaltungslast“ Arbeitnehmer:innenschutz

Wie die Europäische Kommission weiter vorgehen will, wird unter anderem im sogenannten Annual Burden Survey deutlich: Nicht nur die Berichtspflichten werden als großer Kostenpunkt dargestellt, sondern auch viele gesellschaftspolitisch wichtige Gesetze wie eine EU-Regelung, die Beschäftigte besser vor der Exposition von Asbest schützen soll. Die Netto-Verwaltungskosten sieht der Bericht bei 33 Mio. Euro jährlich. Den Nutzen in Form von gesparten Kosten wird mit 0 Euro angegeben. Gesunde Beschäftigte, geringe Krankheitskosten, ein längerer Verbleib im Arbeitsleben zählen offenbar nicht. Auch der Grüne Deal wird vor allem als Verwaltungslast gesehen und zwar in Höhe von fast zwei Mrd. Euro nach Abzug des Nutzens in Höhe von rund
400 Mio. Euro.

Parteifreund Ursula von der Leyens sollte KMU-Beauftragter werden

In der Kommissionsmitteilung zum Entlastungspaket für KMU ist auch ein eigener Beauftragter vorgesehen, der direkt bei der Kommissionspräsidentin angesiedelt sein soll. Er hat Mitspracherechte und soll zudem einen Sitz im sogenannten Regulatory Scrutiny Board haben, über den wir bereits vor einiger Zeit ausführlich kritisch berichtet haben.10 Nicht nur, dass kein anderer Interessensbereich direkt bei der Kommissionspräsidentin angesiedelt wäre, sollte mit Markus Pieper ausgerechnet ein Parteifreund Von der Leyens diesen Job übernehmen. Das obwohl die beiden Mitbewerber:innen um das Amt im Bewerbungsverfahren besser abgeschnitten hatten. Nach heftiger Kritik verzichtete Pieper nun jedoch auf den Job eines KMU-Beauftragten.

Letta-Bericht zur Zukunft des EU-Binnenmarkts orientiert sich an Unternehmenswünschen

Im Bericht zur Zukunft des EU-Binnenmarkts, nach dem Autor des Textes Enrico Letta benannt, zeigt sich einmal mehr die Kehrtwende, die die Europäische Kommission in ihrer EU-Politik hingelegt hat. Zum größten Teil geht es um Maßnahmen, die einen Nutzen für Unternehmen haben, während sie auf Kosten der Gesellschaft gehen könnten. Sogar der Begriff des „Gold Platings“ wird wiederbelebt. Bei einzelnen EU-Regelungen beschließen nationale Regierungen Standards, die über die Minimalstandards, die auf EU-Ebene festgelegt werden, hinausgehen und so beispielsweise den Arbeitnehmer:innen und den Konsument:innenschutz verbessern – aus Sicht der Vertreter:innen von Wirtschaftsorganisationen unnötige Extras, die der Gesellschaft zwar Verbesserungen bringen, den Unternehmen jedoch nicht. 

Auf österreichischer Ebene sorgte zuletzt der Vertreter einer Wirtschaftsorganisation in einem Interview für Verwunderung: Er beschwerte sich, dass in Dienstverträgen künftig die zu erbringende Arbeitsleistung näher beschrieben und Informationen bezüglich der Vergütung von Überstunden angegeben werden müssen. Offensichtlich ein unnötiges Gold Plating aus österreichischer Sicht.

Bürokratie für EVP und Liberale Wahlkampfthema Nummer 1

Sowohl für die Europäische Volkspartei (EVP) als auch für die Europäischen Liberalen wird das Thema Bürokratie das Hauptthema bei den EU-Wahlen: Die EVP möchte vor allen in den Bereichen Umwelt und Landwirtschaft Demokratie abbauen. Die Vertreter:innen dieser Fraktion beteuern, dass es ihnen um mehr Umweltschutz ginge. Ob es letztendlich nicht um das Gegenteil geht, wie das Kippen des Verbrennerverbots wird sich erst zeigen. Auch für die Liberalen hat das Thema große Priorität.

Resümee

Eines wird bei der Diskussion um Bürokratie deutlich: Tatsächlich geht es um die Gegensätze Gesellschaftspolitik versus Wirtschaftsinteressen unter dem Deckmantel der „Bürokratie“. In welche Richtung es gehen soll, zeigt EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen deutlich. Erst nach den EU-Wahlen wird sich herausstellen, welche Richtung die Europäische Union in den nächsten fünf Jahren tatsächlich einschlagen wird. 

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