
Ungleichheit und Ungerechtigkeit: „Die einen haben große Macht und die anderen verlieren die Kontrolle“
Der Ökonom Thomas Piketty und der Philosoph Michael J. Sandel treffen einander zum Gespräch über Gleichheit und Gerechtigkeit an der Paris School of Economics. Sie diskutieren über klare Grenzen für Reichtum und Märkte, progressive Steuern und Würde der arbeitenden Menschen. Daraus entsteht ein Buch, in dem nicht mit Kritik an der Linken gespart wird. Von dieser fordern sie eine stärkere Gegenmacht zur neoliberalen Wirtschaftspolitik.
Autor: Alexander Eigner
Diesen Artikel downloadenWeshalb muss uns Ungleichheit Sorgen bereiten? Mit dieser Frage beginnt Die Kämpfe der Zukunft – Gleichheit und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert. Piketty leitet den Dialog damit ein, dass die reichsten zehn Prozent in Europa mehr als ein Drittel aller Einkommen und mehr als die Hälfte des Vermögens auf sich vereinen. In den USA sind diese Ungleichheiten noch extremer. In dieser Ungleichheit stecken drei zentrale Probleme: der Zugang zu Grundgütern wie Gesundheitsversorgung und Bildung, die Möglichkeit zur politischen Teilhabe und die Würde der Arbeiter:innen. Monetäre Ungleichheit lässt sich also nicht von sozialen Verhältnissen trennen, da sich Reiche politische Macht ebenso kaufen können, wie die besten Ausbildungen und Gesundheitsleistungen oder auch die Zeit anderer. Somit stellt die Einkommens- und Vermögensungleichheit eine ernsthafte Bedrohung für die Demokratie dar, so die These der Autoren.
Progressive Besteuerung
Piketty und Sandel ergänzen sich in ihren Ausführungen, wie am besten auf diese massive Ungleichheit reagiert werden soll. Das wirksamste Mittel ist ihrer Ansicht nach eine progressive Besteuerung von Einkommen und Vermögen. Diese Art der Verteilung, mit Spitzensteuersätzen von bis zu 90 %, hat es historisch zwischen 1930 und 1990 in Deutschland, Schweden aber auch in den USA gegeben. Und obwohl die Steuersätze hoch angelegt waren, konnte der Kapitalismus in diesen Ländern prächtig gedeihen. Eine progressive Steuer, wie sie sich Piketty vorstellt, verringert die Einkommensunterschiede und reguliert damit die Wirtschaftsmacht einiger Weniger. Zusätzlich braucht es neben Mindestlöhnen auch Höchstlöhne, denn wenn das Verhältnis von unten nach oben zu groß ist, geht es nicht mehr nur um Geld, sondern um Würde. Sollte dies nicht angegangen werden, droht ein Erodieren der sozialen Gefüge. Sandel teilt den Wunsch nach höherer Steuerprogression, vermerkt aber, dass diese moralisch und politisch einen Gemeinsinn wecken müssten. Es müsse dadurch ein starkes Gefühl entstehen, dass wir Teil eines gemeinsamen Projektes sind und Verantwortung füreinander tragen.
Huldigung des Marktglaubens
Piketty und Sandel kritisieren die Hyperglobalisierung mit ihren unregulierten grenzübergreifenden Kapitalflüssen und Freihandelsabkommen, die von der Thatcher-Reagan-Ära ausgingen. Doch auch die späteren Mitte-Links-Regierungen unter Bill Clinton, Gerhard Schröder oder Tony Blair setzten die Deregulierung des Finanzmarktes kritiklos fort und segneten damit die neoliberale Wende ab. Was fehlte war, so die Autoren, eine öffentliche Debatte darüber, wo Märkte dem Gemeinwohl dienen sollten und wo sie rausgehalten werden müssen. So wird auch
die Obama-Administration stark kritisiert, die während der Finanzkrise ab 2008 auf die Rettung der Banken setzte, anstatt deren Einbettung in die Wirtschaft neu zu strukturieren.
You can make it, if you try
Im Abschnitt über Meritokratie behandeln Sandel und Piketty die veränderten Einstellungen der Menschen zum Erfolg, die aus den Einkommens- und Vermögensungleichheiten resultieren. Diejenigen, die an der Spitze gelandet sind, sind auch davon überzeugt, dass dies auf ihrer eigenen Leistung beruht. Im Umkehrschluss sind die, die es nicht geschafft haben, selbst daran schuld und hätten sich nur mehr anstrengen müssen. Somit führt das meritokratische Prinzip zur Überheblichkeit der Gewinner:innen und zur Demütigung derer, die auf der Strecke geblieben sind. Das leistet der Polarisierung der Gesellschaft weiteren Vorschub. Auch hier äußern die Autoren Kritik an der Linken, die diesen Erzählungen gefolgt sind. Mitte-Links-Regierungen der letzten Jahre und Jahrzehnte gaben der arbeitenden Bevölkerung den Ratschlag: Geht an die Uni, wenn ihr mehr erreichen und in der New Economy mithalten wollt. Diese fehlinterpretierte Leistungslogik blendet das systemische Problem der Wirtschaftspolitik aus und wälzt die Verantwortung auf die Individuen ab. Auch in diesem Zusammenhang wird das Thema Würde adressiert. Den Arbeiter:innen wird das Gefühl vermittelt, dass die Regierenden (die Eliten) ihre Arbeit nicht würdigen, wenn sie keinen höheren Bildungsabschluss aufweisen. So hätten vor allem linke Parteien die Wut der arbeitenden Bevölkerung auf sich gezogen, die sich nicht mehr von ihnen
vertreten fühlten.
Buchempfehlung

Thomas Piketty,
Michael J. Sandel
Die Kämpfe der Zukunft
Gleichheit und Gerechtigkeit
im 21. Jahrhundert
Verlag C.H.Beck, 158 S, 2025
Zu den Autoren: Thomas Piketty ist als Professor für Ökonomie an der École des hautes études in Paris tätig. Sein 2013 erschienenes Werk „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ ist mit mehr als 2,5 Millionen verkauften Exemplaren ein Bestseller. Michael J. Sandel, Philosoph und Professor für Regierungslehre an der Harvard University, wurde durch sein Werk „What money can’t buy“ international bekannt.
Die Zukunft der Linken
Die Leser:innen werden schnell merken, dass Sandel und Piketty viel Kritik an linken und sozialdemokratischen Parteien und Regierungen äußern – zu Recht! Es sind die vielen von ihnen beschrieben Kämpfe, die die Linke in der Vergangenheit zu wenig angegangen habe und derer sie sich in Zukunft annehmen müsse. Dazu müsse sie allerdings zuerst die aktuelle Organisation der Wirtschaft infrage stellen. Für Piketty hat sich die Linke zu wenig mit den Themen Arbeitsplatzverlust, Wohnen, Wettbewerb, Handel und Verkehr beschäftigt, obwohl das die Kernprobleme der Menschen sind. Diese fühlen sich mit ihren Problemen im Stich gelassen. Sandel hält es indes für falsch, Patriotismus allein den Rechtsparteien zu überlassen. Er plädiert etwa für einen Wirtschaftspatriotismus oder eine patriotische Pflicht der Unternehmen, die dort ihre Steuern zahlen sollen, wo sie ihre Produkte verkaufen. Linke Kräfte müssen zudem die Würde der Arbeit stärker ansprechen und das Leben derer verbessern, die einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten.
Fazit
Die Diskussion der beiden Wissenschaftler in Buchform ist ein gelungener Beitrag zur Debatte über Ungleichheit und Ungerechtigkeit. In seiner kurzweiligen Art ist das Werk angenehm zu lesen und deckt eine breite Themenpalette ab. Allerdings fehlt es dem rund 150 Seiten starken Buch an inhaltlicher Tiefe, die sich Leser:innen allerdings von den umfangreicheren, anderen Werken der Autoren abholen können. Trotz ihrer Diagnosen über die weitreichende Ungleichheit unserer Gesellschaft und die noch offenen Kämpfe sind Piketty und Sandel optimistisch und glauben an die Macht der Veränderung. „Die gute Nachricht ist, dass diese Kämpfe sich gewinnen lassen und in der Vergangenheit schon gewonnen worden sind“.
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