Strategische Agenda 2024–2029: Wohin geht die EU in den kommenden fünf Jahren?
Am 27. Juni 2024 haben die Staats- und Regierungschefs der EU die strategische Agenda 2024–2029 angenommen. In der strategischen Agenda geht es um nichts weniger als die politischen Prioritäten der EU in den kommenden fünf Jahren. Die geopolitischen Entwicklungen und Umbrüche der vergangenen Jahre haben dabei zu einer deutlichen Diskursverschiebung geführt: Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit dominieren den Diskurs, während beschäftigungs- und sozialpolitische Fragestellungen nur marginal Berücksichtigung finden.
Autorin: Julia Wegerer
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Weichen werden gestellt
Die Wahl zum EU-Parlament im Juni 2024 bildete den Startschuss für die Neuordnung des institutionellen Gefüges in der EU. Schon Monate zuvor wurde damit begonnen, die inhaltlichen Weichen für die kommende Legislaturperiode zu stellen. So hat die EU die zwei ehemaligen Politik-Granden Enrico Letta und Mario Draghi damit beauftragt, Berichte über die Zukunft des Binnenmarkts (Frank Ey zum Letta-Bericht auch hier im Infobrief) sowie zur Wettbewerbsfähigkeit der EU zu verfassen. Ihre Einschätzungen werden die EU in den kommenden Jahren prägen.
Darüber, welche übergeordneten Prioritäten die EU in ihrer 10. Legislaturperiode verfolgen soll, haben die EU-Staats- und Regierungschefs Ende Juni 2024 entschieden. Der nur wenige Seiten umfassenden strategischen Agenda 2024–2029 kommt große Bedeutung zu, weil die Ausrichtung der EU darin neu definiert wird. Die politischen Leitlinien der alten und neuen EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen schöpfen aus der strategischen Agenda. Und das war genau deren ursprüngliche Intention.
Strategische Agenda zur Einhegung des EU-Kommissionspräsidenten
Die Rolle des Europäischen Rates laut Art. 15 Abs. 1 EUV ist es, der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse zu geben und allgemeine politische Zielvorstellungen und Prioritäten festzulegen. Wie er das tut, wird nicht definiert. Seit 2014 kommt der Europäische Rat dieser Aufgabe nach, in dem er eine strategische Agenda entwickelt. Anlass dafür waren politische Unstimmigkeiten bei der Wahl Jean Claude Junckers zum EU-Kommissionspräsidenten. Das Mandat des Kommissionpräsidenten sollte gewissermaßen eingehegt werden. Entsprechend wurde die erste strategische Agenda in einem nur wenige Wochen umfassenden Prozess ausgearbeitet.
Die zweite Strategische Agenda verfolgte einen strukturierten Ansatz, der vor allem durch den Brexit und die daraufhin beschworene Einigkeit der restlichen EU-Mitgliedstaaten geformt wurde. Als vor rund einem Jahr der Prozess zur Ausarbeitung der dritten strategischen Agenda begann, geschah dies wiederum unter stark geänderten Vorzeichen: der Corona-Pandemie, des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der damit verbundenen Teuerung und dem Anstieg der Lebenshaltungskosten. Vor diesem Hintergrund sind auch die in drei Säulen gruppierten Inhalte der Agenda zu sehen.
Die drei Säulen der strategischen Agenda 2024-2029
Die strategische Agenda 2024 setzt sich aus drei Säulen zusammen:
- Ein freies und demokratisches Europa
- Ein starkes und sicheres Europa
- Ein wohlhabendes und wettbewerbsfähiges Europa
Säule 1 – ein freies und demokratisches Europa – gleicht einer Rückbesinnung auf die in Artikel 2 EUV verankerten Grundwerte der EU, die auch gleich allesamt aufgezählt werden: die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte gilt es sowohl innerhalb der EU als auch auf globaler Ebene zu vertreten und zu verteidigen. Wichtig ist das Bekenntnis, freie und pluralistische Medien und die Zivilgesellschaft zu schützen, Hassreden und Desinformation zu bekämpfen sowie Tech-Giganten verantwortlich zu machen, wenn es um den Schutz demokratischer Diskurse im Netz geht. International will die EU weiter als stärkster Unterstützer der internationalen Rechtsordnung fungieren und für globalen Frieden, aber auch für die Erreichung der SDGs eintreten.
Säule 2 – ein starkes und sicheres Europa – setzt sich aus vier Unterpunkten zusammen: Zuerst wird der Ukraine weiterhin volle Unterstützung in ihrem Kampf um Unabhängigkeit und Souveränität zugesagt. Sodann wird die Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit Europas adressiert, die es zu stärken gilt und wo auch substanzielle Investitionen getätigt werden sollen. In einem weiteren Punkt wird die Bedeutung künftiger EU-Erweiterungen angesprochen, wobei auf parallel zu führende interne Reformen verwiesen wird, um die Handlungsfähigkeit der EU und ihrer Institutionen weiter zu gewährleisten und finanziell nachhaltig aufgestellt zu sein. Zuletzt wird das heikle Thema Asyl angeschnitten und die Notwendigkeit des reibungslosen Funktionierens des Schengenraums betont sowie der effektive Schutz der Außengrenzen.
Der Säule 3 – ein wohlhabendes und wettbewerbsfähiges Europa – wird am meisten Platz in der strategischen Agenda eingeräumt. Wettbewerbsfähigkeit ist einer der zentralen Begriffe, um den sich in den kommenden Jahren alles drehen wird. Die Steigerung derselben soll etwa durch eine Vertiefung des Binnenmarktes insbesondere in den Bereichen Energie, Telekommunikation und Finanzen erreicht werden. Die Vervollständigung der Bankenunion und integrierte Kapitalmärkte sollen das Potenzial möglicher Investitionen heben. Die wirtschaftliche Sicherheit soll durch den Aufbau eigener Kapazitäten in Schlüsselsektoren wie künstliche Intelligenz, Quanten- und Biotechnologie und Netto-Null-Technologien gesteigert werden. Die grüne und soziale Transition soll „pragmatisch“ weitergeführt zum Erfolgsmodell für Europa werden. Um ein innovations- und unternehmensfreundliches Umfeld zu fördern, sollen Forschung und Entwicklung massiv gefördert werden. Vor allem aber will der Rat administrative Belastungen abbauen. Unter dem abschließenden Schlagwort „Gemeinsam voranschreiten“ wird schließlich und endlich die soziale Dimension der EU angesprochen und die Europäische Säule sozialer Rechte in Erinnerung gerufen. Sozialer Dialog soll gestärkt und Ungleichheiten reduziert werden.
Eine strategische Agenda, die keine ist
Obwohl der Name es suggeriert, ist die strategische Agenda alles andere als strategisch: Vielmehr ist sie als Potpourri an Prioritäten zu betrachten, welches auch die Vielzahl der sehr unterschiedlichen Anschauungen der EU-Staats- und Regierungschefs widerspiegelt. Der strategischen Agenda fehlt es an Klarheit in der Sprache, sie gleicht einem rhetorischen Eiertanz. Die Prioritäten sind als Reaktionen auf die prägenden Ereignisse der vergangenen Jahre in der EU einzustufen. Als Patchwork-Arbeit stellen sie einen Kompromisstext dar, der in seiner Sprache so offen und flexibel sein muss, dass Konsens erreicht werden kann und die Handlungsfähigkeit für spätere Entscheidungsfindung gewährleistet ist.
Demgegenüber definiert eine tatsächliche Strategie ein zu erreichendes Ziel und erstellt einen konkreten Plan, mit dem das genannte Ziel auch erreicht werden kann. Dazu gehört auch die Angabe, welche finanziellen und organisatorischen Mittel es braucht, um eine Zielerreichung zu gewährleisten. All das fehlt aber in der strategischen Agenda.
Was wird aus dem Grünem Deal und der Just Transition?
Die strategische Agenda 2019–2024 definierte die Verwirklichung eines klimaneutralen, grünen, fairen und sozialen Europas noch als eigene Priorität. Hier zeigt sich eine deutliche Verschiebung der Gewichtungen: Zwar wird in der strategischen Agenda 2024–2029 am Ziel der Klimaneutralität bis 2050, die auch weiterhin niemand zurücklassen soll, festgehalten. Allerdings wird die Umsetzung eines sozial-gerechten Grünen Deals in den Dienst der Wettbewerbsfähigkeit gestellt. So wird eine „pragmatische“ Umsetzung der Klimaneutralität festgeschrieben und auf das marktwirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Potenzial der grünen und digitalen Transition verwiesen.
Unklar ist, was das für die kommenden fünf Jahr konkret bedeuten soll. Denn die Errungenschaften des Grünen Deals stehen auf der Kippe. Die bis dato gesetzten Maßnahmen der EU-Mitgliedsstaaten sind nicht ausreichend, um die vereinbarten Klimaziele bis 2030 zu erreichen. Wiewohl es vielversprechende Ansätze und Initiativen gibt, ist das Tempo zur Erreichung der Klimaziele 2030 viel zu langsam. Woran es insbesondere mangelt, sind Investitionen. Es tut sich eine große Investitionslücke auf, zu der sich die strategische Agenda ausschweigt. Dies ist wohl auf die sehr unterschiedlichen Sichtweisen der EU-Staats- und Regierungschefs zurückzuführen, was Finanzierungsmöglichkeiten etwa durch eine gemeinsame Schuldenaufnahme der EU angelangt.
Auch der gerechte Übergang wird nur als Schlagwort erwähnt und nicht ausgeführt, wie die angestrebte soziale und regionale Kohäsion erreicht und Ungleichheiten abgebaut werden sollen. Zur Lösung dieser drängenden Herausforderungen braucht es aber eine Gesamtstrategie. Gewerkschaften und Arbeitnehmer:innenvertretungen fordern ein Rahmenwerk für den Gerechten Übergang, dass konkrete Zuständigkeiten, Maßnahmen, Zeitpläne und Investitionen vorsieht und inklusive Entscheidungsprozesse definiert.
Wo ist die soziale Dimension?
Zu den europapolitischen Kernanliegen der Beschäftigten äußert sich die strategische Agenda lediglich in wenigen vagen Worten. Während die vergangene strategische Agenda nach den Erfahrungen der Austeritätspolitik noch eine stärkere sozialpolitische Handschrift trug, werden nun unter dem Primat der wirtschaftlichen Sicherheit und der Verteidigungsfähigkeit sozialpolitische Anliegen an den Rand gedrängt. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Lebenshaltungskostenkrise, aber auch mit Blick auf die enormen Herausforderungen für einen sozial-ökologischen Umbau unverständlich. Die Europäische Säule sozialer Rechte muss entschlossen gemäß den Erklärungen von La Hulpe und Val Duchesse umgesetzt werden. Die europäischen Gewerkschaften haben dazu in dem Manifest „Ein fairer Deal für die Arbeitnehmer:innen“ ihre Vision für eine sozial gerechte Europäische Union dargelegt.
Denn die Fixierung auf eine nicht näher definierte Wettbewerbsfähigkeit bringt die Gefahr mit sich, sich nachteilig auf Arbeitnehmer:innenrechte auszuwirken. So werden angemessene Löhne oder ein hoher Arbeits- und Sozialstandard in der Debatte von Wirtschaftsverbänden gerne als Wettbewerbsnachteil geframt. Eine Engführung des Begriffs der Wettbewerbsfähigkeit bedeutet dann nichts weniger als einen Unterbietungswettbewerb bei Arbeits- und Umweltstandards – eine Negativspirale nach unten. Ähnliches gilt für die angekündigte Deregulierungsagenda. Hier gilt es genau hinzuschauen, welche Maßnahmen als Bürokratielasten eingestuft werden. Beispielsweise, ob Maßnahmen zum Schutz von Arbeitnehmer:innen gegen die Exposition mit Asbest als Bürokratielast bezeichnet werden.
Wie es weitergeht
Neben dem Rat ist es maßgeblich, wie sich die beiden weiteren großen institutionellen Player der Europäischen Union, nämlich die EU-Kommission und das EU-Parlament positionieren. Die bereits angesprochenen politischen Leitlinien von EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen schlagen in eine ähnliche Kerbe wie die strategische Agenda, enthalten jedoch einige durchaus konkrete Ansagen zur sozialen Dimension der EU. Dies kann als Zugeständnis an jene Parteien gewertet werden, die Von der Leyen eine stabile Mehrheit im EU-Parlament sichern sollen. Mit der am 9. Juni 2024 geschlagenen Wahl haben sich die Kräfteverhältnisse im EU-Parlament verschoben: Populistische und extrem rechte Parteien gingen aus der Wahl deutlich gestärkt hervor. Diese Gemengelage verdeutlicht, dass Gewerkschaften und Arbeiterkammer in der anbrechenden Legislaturperiode auf europäischer Ebene eine zentrale Aufgabe zukommt: Sicherzustellen, dass Arbeitnehmer:innenrechte über eine eng geführte Wettbewerbs- und Deregulierungsagenda nicht beschnitten werden und beharrlich dafür weiterzukämpfen, dass die soziale Dimension der EU endlich Gestalt annimmt.
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