Infobrief 3|24 : EY: Zur Zukunft des EU-Binnenmarkts
Infobrief 3|24 : EY: Zur Zukunft des EU-Binnenmarkts © AK WIEN
September 2024

Zur Zukunft des EU-Binnenmarkts: Letta-Bericht umreißt mögliche Binnenmarktpolitik unter EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen II

Die Vorbereitungen für die EU-Gesetzgebungsperiode 2024–2029 sind seit Monaten in vollem Gange: darunter der sogenannte Letta-Bericht, in dem Vorschläge zur Zukunft des EU-Binnenmarkts enthalten sind. Der Bericht fokussiert stark auf die Wünsche der Wirtschaftslobby. Erleichterungen bei der Unternehmensfinanzierung und eine Reduktion von Pflichten gegenüber Beschäftigten und Gesellschaft („Bürokratie“) stehen im Zentrum. Der notwendige sozial-ökologische Umbau findet nur wenig Beachtung.

Autor: Frank Ey

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Weiterentwicklung des EU-Binnenmarkts

Der Bericht des ehemaligen italienischen Premiers Enrico Letta, der im Auftrag des Rats und der Europäischen Kommission tätig geworden ist, betont eingangs, dass die Europäische Union mit erheblichen Veränderungen konfrontiert ist. So haben sich neue wirtschaftsstarke Regionen wie China und Indien entwickelt. Krisen wie die Covid 19-Pandemie und der Angriff Russlands auf die Ukraine sind zudem Beispiele dafür, dass die Europäische Union bei einigen Rohstoffen und Produkten teilweise massiv von Drittstaaten abhängig ist. Auch in der Sicherheitspolitik muss der EU-Binnenmarkt demnach angepasst werden. Darüber hinaus umfasst der Letta-Bericht eine große Bandbreite von Themen, die mit dem Binnenmarkt verknüpft sind. Zwei Bereiche stechen in den Überlegungen besonders hervor: zum einen die Idee, neben den vier bestehenden Binnenmarkt-Freiheiten noch eine fünfte Freiheit zu schaffen; zum anderen liegt ein wesentlicher Fokus auf Maßnahmen, die besondere Vorteile für Unternehmen versprechen. Hier ist eine Reihe von Plänen angeführt, die in den nächsten fünf Jahren umgesetzt werden sollen.


Über den Autor

Frank Ey ist Experte für EU-Binnenmarktpolitik in der Abteilung EU & Internationales der AK Wien sowie Lektor an der WU Wien.
Frank Ey
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Kurz und Knapp

  • In der EU-
    Binnenmarktpolitik zeichnet sich ab, dass die EU-Kommission in den nächsten fünf Jahren vor allem auf Unternehmerinteressen achten wird.
  • Ein erleichterter Zugang von Unternehmen zu Kapital darf nicht auf Kosten von privaten Sparer:innen gehen.
  • Aus Arbeitnehmer:innensicht braucht es dringend ein krisensicheres Strommarktdesign, das eine leistbare Stromversorgung ermöglicht.
  • Im Schienenverkehr zeigt sich, dass die Liberalisierungsschiene der falsche Weg war. Die bisherige Politik muss überdacht, die Daseinsvorsorge gestärkt werden.
  • Mit dem
    Scheinargument der überbordenden Bürokratie sollen gesellschaftspolitische Pflichten der Unternehmen auf Kosten der Beschäftigten und der Gesellschaft gestrichen werden.
  • Aus Arbeitnehmer:innensicht fehlt es vor allem an einer EU-Grundfreiheit für beschäftigungs- und sozialpolitische Anliegen.
  • Neue Vorschläge wie Interimsabkommen oder ein transatlantischer Binnenmarkt mit den USA sind nicht zuletzt aus demokratiepolitischen Gesichtspunkten strikt abzulehnen.

Schwenk der Kommission zugunsten von Unternehmen

Der Schwenk der Europäischen Kommission hin zu Maßnahmen, die fast nur für Unternehmen von Vorteil sind, ist bereits seit einiger Zeit zu beobachten. Beispielsweise hat die Kommission im Dezember 2023 eine Mitteilung mit dem Titel „Entlastungspaket für KMU“ veröffentlicht. So sollen 25 Prozent aller Berichtspflichten für Unternehmen gestrichen werden. Ob diese Informationen für andere Bereiche wichtig sind, beispielsweise für Kollektivvertragsverhandlungen, für den Arbeitnehmer:innenschutz oder zur Beurteilung der Lage beim Umweltschutz, ist dabei offenbar zweitrangig. Zudem hat die Kommission im Rahmen dieser Mitteilung eine eigens beauftragte Person für Klein- und Mittelunternehmen (KMU) eingeführt, die der Kommissionspräsidentin zugeordnet ist und an den Sitzungen des Regulatory Scrutiny Board teilnehmen kann. Dieses Board spielt eine wesentliche Rolle bei der Entstehung neuer EU-Gesetze und kann das Zustandekommen von Rechtsvorschlägen teils erheblich verzögern beziehungsweise mittelbar verwässern. Der KMU-Vertreter hat damit die Macht, geplante Legislativvorhaben, die den Wirtschaftsverbänden unangenehm werden könnten, bereits im Vorfeld zu stoppen oder so zu entschärfen, dass sie aus deren Sicht keine (kostenmäßige) Gefahr mehr darstellen. Derartige „Aufpasser“ gibt es in keinem anderen Bereich, sei es in der Verkehrs-, der Umwelt-, der Gesundheits- oder der Sozial- und Beschäftigungspolitik. 

Kurios mutet an, dass laut EU-Definition ohnehin bereits 99,8 Prozent der Unternehmen als KMU gelten. Das hat für diese den Vorteil, dass sie vom Anwendungsbereich bei zahlreichen EU-Gesetzen ausgenommen sind. Vollumfänglich kommen daher viele dieser Normen nur für 0,2 Prozent der Unternehmen zur Anwendung. Aber auch hier merkt die Kommission an, dass sie überlegt, diese Definition noch weiter auszuweiten, womit noch weniger Konzerne die aus den EU-Gesetzen verbundenen Pflichten zu berücksichtigen hätten. 

Reformen am Kapitalmarkt

Im Letta-Bericht sind aber auch Vorschläge enthalten, die den Zugang von KMU zum Kapitalmarkt erleichtern sollen. Grundsätzlich ist es positiv, wenn den Unternehmen die Refinanzierung erleichtert wird. In Österreich gibt es dazu seit Kurzem die sogenannte flexible Kapitalgesellschaft, die eine entsprechende Lösung liefert. Letta schlägt allerdings einen sogenannten „Single Entry Point to Public Capital Markets for small and mid-cap companies“ vor, um Risiko- und Eigenkapital zu generieren. Kritisch ist der Vorschlag jedoch aus mehreren Gründen zu sehen: So besteht damit das Risiko, dass private Sparer:innen zu risikoreichen Anlage- und Pensionsvorsorgeprodukten motiviert werden sollen. Gleichzeitig soll das Modell der sogenannten Verbriefungen forciert werden.

Dieses Vorgehen weckt Erinnerungen an die Finanzkrise ab 2008. Damals waren diese Verbriefungen, die ein Bündel an Kreditforderungen darstellen und in handelbare Wertpapiere umgewandelt werden, eine der zentralen Ursachen für die Finanzkrise in den USA und Europa. Viele Banken, auch in Österreich, mussten vom Staat gerettet werden.

Positiv hingegen ist zu bewerten, dass das Unternehmensrecht und hier insbesondere das Insolvenzrecht harmonisiert werden soll, um die derzeit bestehende Zersplitterung der Kapitalmärkte zu reduzieren. 

Daseinsvorsorge und Wirtschaftspolitik in Zeiten der Transformation

Eine gut durchdachte und umfassende Strategie für die Industriepolitik unter Berücksichtigung des Transformationsprozesses im Zuge des Grünen Deals und der Digitalisierung ist eines der zentralen Anliegen von Enrico Letta. Dem ist auch aus Arbeitnehmer:innensicht zuzustimmen. Ergänzt werden muss dieser Ansatz aber um eine Wirtschaftspolitik, in der der Daseinsvorsorge eine Schlüsselrolle zukommt. Zudem muss es auch für finanzschwache EU-Mitgliedsstaaten möglich sein, wichtige Investitionen zur Umsetzung der Transformation durchzuführen. 

Es ist aber doch sehr verwunderlich, dass der Letta-Bericht nicht näher auf den wesentlichen Aspekt der Leistbarkeit von Strom eingeht. Das herrschende EU-Strommarktdesign ist nicht resilient gegen Krisen am Energiemarkt und trifft damit sowohl die Industrie als auch private Haushalte. Positiv zu bewerten ist der Vorschlag, dass die Energienetze länderübergreifend ausgebaut und dadurch die Stromversorgung stabilisiert und verbessert werden sollen. Zu kritisieren ist aber, dass Verbraucher:innen überproportional zur Bestreitung der Investitionskosten herangezogen werden sollen. 

Ein gut funktionierender Schienenverkehr ist das Um und Auf sowohl in der Daseinsvorsorge als auch für eine erfolgreiche Industrie- und Wirtschaftspolitik. Alle Hauptstädte mit Hochgeschwindigkeitsstrecken zu verbinden, wie es Letta andenkt, ist zu begrüßen. Ob mit der derzeit verfolgten liberalen Schienenverkehrs-Philosophie allerdings ein gut funktionierender, EU-weiter Schienenverkehr möglich ist, muss nach den Erfahrungen mit der liberalen Schienenverkehrspolitik der letzten 20 Jahre (beispielsweise in Deutschland) stark angezweifelt werden. Zudem müsste der innerstaatliche Schienenverkehr wesentlich stärker berücksichtigt werden. Nur so sind die Pläne des Grünen Deals überhaupt erst umsetzbar. Dazu müssten aber Liberalisierungen im Eisenbahnverkehr zurückgeschraubt werden. Die Finanzierung des Wiederaufbaus bzw Erweiterung einer funktionierender Schienenverkehrsinfrastruktur muss sichergestellt werden. Möglich wäre eine Finanzierung derartiger Infrastrukturvorhaben über Ausnahmebestimmungen bei den EU-Fiskalregeln. Denn die derzeitigen Regelungen führen zu erheblichen Verzögerungen bei der Verwirklichung von Zukunftsprojekten. Positiv zu erwähnen ist, dass Letta die Arbeitsbedingungen im Verkehr problematisiert und gegen eine Unterwanderung der sozialen Standards auftritt. Ob das neue Kommissionsgremium entsprechende Maßnahmen umsetzt, bleibt allerdings abzuwarten. 

Wohnen und Gesundheit als weitere zentrale Herausforderung

Im Text zur Zukunft des Binnenmarkts werden auch die Bereiche von Wohnen und Gesundheit genannt und problematisiert. Der Umstand, dass das Gesundheitssystem in vielen EU-Mitgliedstaaten unterfinanziert ist, stellt ein bedeutendes Problem dar und führt zu Folgekosten für die EU-Volkswirtschaften. Zudem fehlt es auch an Personal, was zu einer Überlastung der im Gesundheitsbereich Beschäftigten führt. Eine weitere Herausforderung ist, wie Letta richtig anführt, die demografische Entwicklung und die damit verbundene Herausforderung, vermehrt Langzeitpflegeeinrichtungen, häusliche Pflegedienste und ähnliches zur Verfügung zu stellen. Es ist zu begrüßen, dass Letta diese Probleme anspricht. Als konkrete Lösungsmöglichkeiten sieht er unter anderem Investitionen in medizinische Zentren und den vermehrten Einsatz neuer Technologien. Allerdings dürfte es kein Geheimnis sein, dass an noch sehr viel mehr Stellschrauben gedreht werden muss, um für ein funktionierendes Gesundheitssystem zu sorgen. Vor allem die Mitgliedstaaten selbst sind bei der Lösung der vielen Fragestellungen gefragt.

In den Überlegungen Lettas werden zudem die Wohnungsmärkte in Europa problematisiert, die Wohnkostenüberlastung, die Betroffenheit von Jugendlichen und Problemlagen in städtischen Agglomerationen benannt. Die Kompetenzen in der Wohnungspolitik liegen aber bei den Mitgliedstaaten. Der Vorschlag, eine Task Force auf EU-Ebene zu leistbarem Wohnen einzurichten, die einen Austausch und die Vorstellung von Best Practice Beispielen ermöglicht, ist jedenfalls ein Schritt in die richtige Richtung.

Der Ruf der Wirtschaftsvertreter:innen gegen Verwaltungslasten und Bürokratie

Bereits seit Jahrzehnten macht die Wirtschaftslobby in Brüssel gegen vorgebliche überbordende Verwaltungslasten mobil. Mit Erfolg: Eine von der Europäischen Kommission eingesetzte hochrangige Gruppe gegen Verwaltungslasten stellte 2013 fest, dass Klein- und Mittelunternehmen Vorfahrt haben sollten und gaben gegenüber der EU-Kommission mehrere Empfehlungen ab: So sollten neue Rechtsvorschläge unter dem Aspekt der Wettbewerbsfähigkeit untersucht sowie eine One In, One Out-Regel angedacht werden, der zufolge bei jedem neuen EU-Gesetz automatisch ein bestehendes EU-Gesetz gestrichen werden soll. Zudem zeigte sich die Expert:innengruppe „irritiert“ darüber, dass bestimmte Informationspflichten eine Last für Unternehmen darstellen. Konkret nannten die Fachleute unter anderem Informationspflichten über Arbeitsverträge und Basisinformationsblätter bei der Emission von (Firmen-)Anleihen und anderen Anlageprodukten für Kleinanleger:innen. 

Unter dem Eindruck dieses Berichts kündigte die Kommission unter Kommissionspräsident Juncker im Juni 2014 an, entgegen des ursprünglichen Plans Rechtsvorschläge zu Erkrankungen des Bewegungsapparats, Passivrauchen oder Karzinogenen nun doch nicht vorzulegen. Auch eine geplante Verbesserung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes bei Friseur:innen wurde auf die lange Bank geschoben, obwohl sich die Europäischen Sozialpartner bereits auf eine entsprechende Vereinbarung geeinigt hatten. 

Der neue Bericht von Enrico Letta geht nun in eine sehr ähnliche Richtung wie die damalige Empfehlungen der hochrangigen Expert:innengruppe. Auch Letta legt einen Schwerpunkt auf die Wettbewerbspolitik und empfiehlt zudem bürokratische Lasten zu reduzieren. Diese Bewertung geht Hand in Hand mit dem Bericht zu den Verwaltungslasten, den die Europäische Kommission jedes Jahr veröffentlicht.

Darin enthalten ist beispielsweise indirekte Kritik an einer neuen Richtlinie, die Beschäftigte vor der Exposition mit Asbest schützen soll, die als Last bezeichnet wird. Für Unternehmen bedeutet das laut Europäischer Kommission jährliche Kosten in Höhe von etwa 33 Mio. Euro. Der monetäre Nutzen wird hingegen mit null Euro bewertet. Der Nutzen, dass Beschäftigte durch den besseren Schutz gesund bleiben und weiterhin im Betrieb tätig sein können fließt offensichtlich überhaupt nicht ein. Gesunde Beschäftigte tragen darüber hinaus in Form von Steuern und Sozialversicherungsabgaben weiterhin zum Wohlfahrtsstaat bei. Auch für Unternehmen sehr vorteilhaft ist, dass die Beschäftigten weder in Krankenstand noch in Frühpension aufgrund chronischer Erkrankungen gehen müssen.

Heftige Kritik von NGOs und Arbeitnehmer:innenvertretungen

Der Europäische Gewerkschaftsbund, die Arbeiterkammer sowie weitere Arbeitnehmer:innenvertretungen haben sich im Laufe der Jahre immer wieder mit deutlicher Kritik an den Rechtsetzungsplänen der Europäischen Kommission geäußert. Auch mehrere Nichtregierungsorganisationen wie Corporate Europe Observatory oder der WWF stehen den Konzepten der Kommission kritisch gegenüber. Demnach orientiert sich die Europäische Kommission an den Forderungen von Wirtschaftsverbänden, während die Bedürfnisse aller anderen Stakeholder wie aus dem Gesundheitsbereich, dem Umweltschutz, im Konsument:innenschutz kaum berücksichtigt werden. 

Die Arbeiterkammer hat sich bereits frühzeitig mit der Thematik der Rechtsetzung befasst und das One In, One Out-Prinzip im Rahmen einer Studie untersuchen lassen. Eine der zentralen Botschaften schon damals bei der Entstehung der Studie 2020: Es ist wesentlich sinnvoller, EU-Regelungen regelmäßig auf ihre Aktualität zu überprüfen und im Anschluss daran zu überarbeiten oder zu streichen. Pläne, die vorsehen, handstreichartig 25 Prozent aller Berichtspflichten zu entfernen oder für ein neues Gesetz automatisch ein bestehendes zu streichen, sind ein Irrweg. Ein derartiges Vorgehen führt nicht, wie offiziell angestrebt, zu einer besseren, sondern tendenziell sogar zu einer schlechteren Rechtsetzung, weil mit diesem Konzept wichtige Regelungen geopfert werden könnten.

Hand in Hand gehen diese problematischen Pläne auch mit dem Vorhaben, so gut wie alle EU-Gesetze nur noch in Form von Verordnungen zu beschließen. Damit wären neue EU-Regelungen im Mitgliedsstaat eins zu eins in nationales Recht umzusetzen. Sinnvolle beziehungsweise notwendige regionalpolitische Ergänzungen im sozial- und gesellschaftspolitischen Bereich wären dann nicht mehr möglich. Ein Plan, der klar zulasten der Bevölkerung ginge und der daher klar abzulehnen ist.

Neue Grundfreiheit für Forschung, Innovation und Bildung …

Letta hat in seinem Bericht die Idee geboren, eine fünfte Freiheit für „Forschung, Innovation und Ausbildung“ einzuführen. Möglicherweise ist dieser Schritt lediglich ein symbolischer Akt, denn schon bisher gab es keine regionalen Einschränkungen für Forschungsprojekte, Wissen oder Forschende selbst. Wesentlich bedeutender wären, wie auch im Bericht angeführt, mehr Investitionen für die digitale Infrastruktur, der Einführung einer Plattform für den freien Zugang zu Forschungsergebnissen und Daten sowie der Ausbau von digitalen Fähigkeiten und Kompetenzen. Das ist auch aus Arbeitnehmer:innensicht wichtig. 

… und Grundfreiheit für sozial- und beschäftigungspolitische Aspekte?

Es ist zwar anzuerkennen, dass sich in einem Text, der mit Unternehmensbegriffen überladen ist, an einigen Stellen dann doch noch sozialpolitische Aspekte wiederfinden. Aus Arbeitnehmer:innensicht sollten Maßnahmen zur Stärkung der Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR) jedoch höhere Priorität haben, etwa durch ein neues soziales Aktionsprogramm. Die Hochstufung der Sozial- und Beschäftigungspolitik als Grundfreiheit ist hier ebenso überfällig wie in der Forschungspolitik. Eines von vielen Themen auf diesem Gebiet ist es, mobilitätshemmende und unfaire Vertragsklauseln für Arbeitnehmer:innen zu reduzieren. Damit kann soziale Ausgrenzung und Armut besser bekämpft werden.

EU-Handelspolitik auf Abwegen

Gegen Ende seiner Ausführungen befasst sich Letta mit handelspolitischen Agenden. Die in diesem Kapitel gemachten Ausführungen deuten leider darauf hin, dass Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards in der Handelspolitik de facto keine Rolle spielen sollen. Im Bericht unter anderem erwähnt ist, dass die EU-Ebene künftig auf Interimsabkommen setzen sollte. Damit wäre es nicht notwendig, auf ein OK der nationalen Parlamente zu warten, denn sie können sofort zur Anwendung kommen. Demokratiepolitisch sind derartige Überlegungen strikt abzulehnen.

Ebenfalls viel zu weit geht der Vorschlag, einen transatlantischen Binnenmarkt mit den USA zu schaffen. Gerade in arbeits-, sozial- und konsument:innenschutzrechtlichen, aber auch bei anderen gesellschaftspolitisch wichtigen Themen sind die Standards in den USA erheblich niedriger als in der Europäischen Union. Mit einem EU-USA-Binnenmarkt würde eine Nivellierung dieser Schutzbestimmungen nach unten drohen.

Gerade wenn Reindustrialisierung in der EU und die Stärkung des Wettbewerbs das Ziel sein soll, ist ein transatlantischer Binnenmarkt mit den USA abzulehnen. Die EU steht im Zusammenspiel mit den USA derzeit bereits unter massivem Druck, weil die Vereinigten Staaten aufgrund der niedrigeren Gas- und Energiepreise deutliche Wettbewerbsvorteile haben. 

Fazit 

Enrico Letta spricht in seinem Bericht wichtige Themenfelder an. Einige der Vorschläge, die er in seinem Papier macht, sind durchaus begrüßenswert. Viele Anregungen gehen jedoch in die falsche Richtung und könnten Errungenschaften im gesellschaftspolitischen Bereich, die auf EU-Ebene im Vergleich zu wirtschaftspolitischen Vorteilen für Unternehmen ohnehin nicht breit gesät sind, erheblich gefährden. 

Das Geheimnis, welche Politik die Europäische Union letztendlich in den nächsten fünf Jahren verfolgen wird, dürfte erst gelüftet werden, wenn das neue Kommissions-Kollegium unter Von der Leyen ihre Arbeit aufnimmt und ihr Arbeitsprogramm veröffentlicht. Es dürfte doch um einiges anders aussehen, als noch in den vergangenen fünf Jahren. 

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