Ey: Europäisches Parlament vor den Wahlen 2024
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März 2024

Europäisches Parlament vor den Wahlen 2024: Kommt es dieses Jahr zu einem parteipolitischen Erdbeben auf EU-Ebene?

Ein außergewöhnliches Jahr steht bevor: In mehr als 50 Ländern wird 2024 weltweit gewählt. Insbesondere in der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika sind damit wesentliche Richtungsentscheidungen verbunden. Für viele Kommentator:innen in der Medienberichterstattung stellt sich nicht nur die Frage, welchen Fokus künftige Regierungen in wirtschafts-, gesellschafts- und außenpolitische Angelegenheiten legen werden. Immer öfter geht es um eine Diskussion darüber, ob demokratische Ordnungen Gefahr laufen durch populistische oder autokratische Systeme ersetzt zu werden. 

Autor: Frank Ey

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Über den Autor

Frank Ey ist Experte für EU-Binnenmarktpolitik in der Abteilung EU & Internationales der AK Wien sowie Lektor an der WU Wien.
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kurz und Knapp

  • Rechtspopulistische Parteien gewinnen auf EU-Ebene zunehmend an Einfluss.

  • Populistische Vertreter:innen könnten im Rat 2024 bis zu fünf Staatschefs stellen. So viele wie nie zuvor in der Geschichte der EU.

  • Die FPÖ könnte in der nächsten EU-Legislaturperiode im EU-Parlament sieben Sitze stellen – mehr als doppelt so viel wie bisher. 

Das Ende der EU in der bisherigen Form?

Phillipe Lambert, einer der Vorsitzenden der Grünen im Europäischen Parlament befürchtet das „Ende der EU, wie wir sie kennen“. Lambert geht dabei insbesondere von den geplanten neuen Regeln zu den EU-Staatsschulden (EU-Fiskalregeln) aus, die zu einem Sparkurs in den Mitgliedsländern auf Kosten der Bevölkerung führen könnten. Die Folgewirkungen könnten viele Wähler:innen in die Arme von populistischen Parteien treiben. 

Aber auch ohne den neuen Rechtsakt zu den Schuldenregeln zeichnet sich bereits seit längerem eine Verschiebung der Wähler:innenströme Richtung populistischer Gruppierungen ab. Die Pandemie, Ukraine-Krieg, Energiekrise und Inflation haben tiefe Eindrücke beim Wahlverhalten hinterlassen. Der überraschende Sieg Geert Wilders mit seiner „Partei für die Freiheit“ bei den niederländischen Wahlen im November 2023 ist nur das jüngste Beispiel für den zunehmenden Zuspruch rechtspopulistischer Parteien bei der europäischen Bevölkerung. Bereits im Juni 2023 kam es zu einem Machtwechsel in Finnland, bei der die Sozialdemokratin Sanna Marin vom konservativen Petteri Orpo als Regierungschef abgelöst wurde. Orpo regiert nun in einer Vier-Parteien-Koalition, darunter auch Rechtspopulist:innen. Auch in Spanien war bei den Wahlen im Juli 2023 eine deutliche Wähler:innenbewegung in Richtung der rechtspopulistischen Vertreter:innen festzustellen. Nachdem die konservative Volkspartei die Wahlen zwar gewonnen, aber die mit der rechtspopulistischen Partei VOX angestrebte absolute Mehrheit nicht erreichen konnte, ist es dem sozialdemokratischen Premier Pedro Sánchez einstweilen im Rahmen einer Minderheitsregierung möglich, weiterzuarbeiten.  

Deutliche Kräfteverschiebung bereits seit 2022

Verstärkt zu bemerken waren die Kräfteverschiebungen schon seit 2022: In Schweden kam es nach den Wahlen zu einem Regierungswechsel von der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin Andersson zum konservativen Ulf Kristersson von der Moderaten Sammlungspartei. Der Wechsel war durch eine Koalition mit den Christdemokraten und den Liberalen sowie unter Duldung der rechtspopulistischen Schwedendemokraten möglich.

Der Rechtspopulist Viktor Orbán wiederum konnte bei den Parlamentswahlen in Ungarn die Position seiner Fidesz-Partei sogar noch weiter ausbauen und behält seine Zweidrittelmehrheit.5

In Frankreich blieb Emmanuel Macron bei den Präsidentenwahlen mit seiner liberalen Bewegung zwar an der Macht, er verlor aber die absolute Mehrheit im französischen Parlament. Starke Zugewinne verzeichnete hingegen Marine Le Pen mit ihrer rechtsextremen Partei Rassemblement National. In sieben der achtzehn Regionen erhielt Le Pen in der ersten Runde der Wahlen zum französischen Präsidenten die meisten Stimmen.

Die einzigen Ausnahmen in den letzten beiden Jahren waren Polen und Slowenien bei denen die rechtspopulistischen Machthaber durch konservativ-liberale bzw liberal-grüne Regierungen abgelöst wurden. Auch 2024 wird es auf nationaler Ebene bei einer Reihe von EU-Mitgliedsstaaten Wahlen geben, beginnend mit Portugal, gefolgt von Kroatien, Belgien, Rumänien, Litauen und Österreich. 

Konservative Staatschefs überwiegen im Rat deutlich, Populist:innen werden stärker

Derzeit gehören in den Mitgliedstaaten der EU zwölf Staatschefs der konservativen Parteienfamilie an. Jeweils sechs Premiers stellen die Liberalen und die Sozialdemokrat:innen. Mit den Staatschefs in Italien, Ungarn und der Slowakei kommen drei Vertreter:innen aus dem parteipolitisch populistischem Feld, mit Gert Wilders aus den Niederlanden könnte schon bald ein vierter Rechtspopulist folgen. Für die Konservativen würde das den Verlust eines Premiers bedeuten, den sie aber im Rahmen der anstehenden Wahlen in Portugal und Bulgarien mehr als ausgleichen könnten. Das würde wiederum auf Kosten der Sozialdemokrat:innen und Liberalen gehen. In Österreich kündigt sich darüber hinaus ein Novum an: Erstmals könnte die rechtspopulistische FPÖ den Bundeskanzler stellen, womit die populistischen Vertreter:innen im Rat sogar fünf Staatschefs stellen könnten. So viele wie nie zuvor in der Geschichte der Europäischen Union.

Die wirtschaftsnah ausgerichteten Parteien werden damit voraussichtlich im Rat den Ton angeben. Zusammen mit den Europäischen Liberalen dürfte sich damit eine komfortable Mehrheit zumindest in Wirtschaftsfragen ausgehen. 

Für die EU-Politik wesentlich ist aber auch die Frage, welche Kommissionskandidat:innen die Regierungen nach den EU-Wahlen ins Rennen schickt. Hier spielt auch eine Rolle, welche Koalitionen es in den einzelnen Mitgliedsländern gibt. Die konservativen Wirtschaftsparteien gehen zunehmend Koalitionen mit rechtspopulistischen Parteien ein. Diese Zusammenarbeit könnte dazu führen, dass sich rechtspopulistische Kommissar:innen im Kommissarskollegium verstärkt etablieren könnten. 

Die Kräfteverhältnisse im Europäischen Parlament nach den EU-Wahlen 2024

Nach letzten Umfragen zu den EU-Parlamentswahlen ist mit starken Zugewinnen der Fraktionen „Europäische Konservative und Reformer“ (EKR) und der „Identität und Demokratie“-Fraktion (ID) zu rechnen, die beide rechts von allen anderen Fraktionen stehen. Die EKR soll den Prognosen zufolge auf bis zu 85, die ID auf 98 Sitze kommen. Dazu kommen Vertreter:innen weiterer rechtsextremer beziehungsweise populistischer nationaler Parteien, die auf EU-Ebene noch keiner Fraktion angehören. Dazu zählen unter anderem die derzeit die ungarische Fidesz (Prognose: zehn Sitze), die italienische Movimente 5 Stelle (Prognose: 14 Abg.) und die slowakische SMER (Prognose: vier Abg.). Sollten sich die Abgeordneten dieser beiden Fraktion und die nicht fraktionierten Mandatar:innen in einer Fraktion organisieren, könnten sie in dem 720 Sitze zählenden Parlament mit über 200 Abgeordneten zur stärksten Kraft aufsteigen. Mit einer einheitlichen rechten Liste ist aufgrund unterschiedlicher politischer Auffassungen in verschiedenen Politikbereichen wie der Ukraine-Politik jedoch nicht zu rechnen. Eine Zusammenarbeit bei bestimmten Themen ist aber nicht auszuschließen.

Sitzverteilung aktuell im EU Parlament
Sitzverteilung aktuell im EU Parlament © AK WIEN


Laut der Vorhersage wird die Europäische Volkspartei (EVP) mit 173 Mandaten die stärkste Kraft im Europäischen Parlament, gefolgt von den Sozialdemokrat:innen (S&D) mit 131 Sitzen. Für die EVP dürfte es bei der Anzahl der Mandate nur geringe Veränderungen geben. Stärker betroffen wäre die S&D, die gegenüber 2019 zehn Sitze verlieren könnte. Noch deutlichere Verluste soll es für die Liberalen geben: Statt wie bisher 108 Sitze, sollen sie in der nächsten Legislaturperiode nur mehr 86 Mandate stellen. Von einer fast schon dramatischen Entwicklung könnten die Grünen betroffen sein, denen ein Rückgang von 74 auf 61 Mandate, in einer zweiten Umfrage sogar auf 50 Mandate vorhergesagt wird. Die Linken gewinnen hingegen dazu und sollen auf 44 Sitze kommen, ein Plus von sechs Mandaten.

Verteilung der EU-Abgeordneten-Sitze für Österreich

Für Österreich sind im EU-Parlament in der kommenden Legislaturperiode 20 Sitze vorgesehen. Laut der Prognose von EURACTIV dürfte die FPÖ massiv dazugewinnen und sieben statt wie bisher drei Sitze stellen. Die SPÖ dürfte wie bisher auf fünf Mandate kommen. Hauptverliererin wäre die ÖVP, die nach bisher sieben dann nur noch vier Abgeordnete stellen würde. Vergleichsweise schwach würden auch die Grünen mit nur noch zwei statt drei Sitzen abschneiden. Die Neos würden hingegen einen Sitz dazugewinnen und auf zwei Abgeordnete kommen.

Künftige Koalitionen im Europäischen Parlament

Sollten die Wahlen die Ergebnisse bringen, die die Prognosen prophezeien, könnte die EVP eine verstärkte Zusammenarbeit mit liberalen und rechten Gruppierungen suchen. In den letzten Monaten gab es auch schon erste Versuche einer gemeinsamen Linie bei den Parlamentsabstimmungen zum Verbrennerverbot bei Kraftfahrzeugen sowie beim Renaturierungsgesetz, um ein Zustandekommen dieser zentralen Gesetze im Rahmen des Grünen Deals zu verhindern. Letztlich scheiterte die EVP mit diesem Versuch mangels ausreichender Mehrheiten. Das könnte sich mit den neuen Kräfteverhältnissen ändern. 

Ein zentrales Thema bei den EU-Wahlen dürfte auch der „Bürokratieabbau“ spielen. Sowohl die EVP als auch die Liberalen und rechte Gruppierungen werben mit weniger Bürokratie. Hier könnte es künftig Mehrheiten geben. Für Vertreter:innen des linken Spektrums wäre es laut den aktuellen Prognosen hingegen schwieriger, Mehrheiten für ihre zumeist gesellschaftspolitisch relevanten Ziele zu finden.

Auch die Kommission baut bereits vor und hat im Herbst 2023 eine Mitteilung zur Entlastung von Klein- und Mittelbetrieben veröffentlicht. Berichtspflichten für Unternehmen sollen gestrichen, „Verwaltungslasten“ reduziert werden. Was so unverfänglich klingt, hat es jedoch in sich: Manche Berichtspflichten sind für Arbeitnehmer:innenvertretungen wesentliche Informationen, um die Lage der Unternehmen beurteilen und Forderungen bei den Kollektivvertragsverhandlungen entsprechend belegen zu können. Die Kommission macht in der jährlichen Mitteilung zum „Annual Burden Survey 2022“ auch deutlich, was sie unter Lasten versteht: So werden Maßnahmen im Kampf gegen die Klimakatastrophe als eine Last im Umfang von 2 Mrd. € beschrieben. Eine neue Regelung, die Beschäftigte vor der Exposition mit Asbest schützen soll, wird als Verwaltungslast mit Kosten in Höhe von 33 Mio. € beziffert.  

Wie bereits unter den Kommissionspräsidenten Barroso und Juncker könnte damit in der nächsten Legislaturperiode eine vornehmlich auf Unternehmenswünsche ausgerichtete EU-Politik drohen. 

Resümee

Ausgehend von den Ergebnissen der Wahlen auf EU-Mitgliedsstaatenebene in den letzten beiden Jahren und den ersten Vorhersagen zu den EU-Parlamentswahlen im Juni 2014 ist mit einer deutlichen Verschiebung der Kräfteverhältnisse im Europäischen Parament nach rechts auszugehen. Allerdings deuteten bereits die Prognosen bei den EU-Wahlen 2019 auf einen Rechtsrutsch hin. Es kam jedoch anders: Die Parteien im linken und mittleren Wähler:innenspektrum gewannen deutlich hinzu, während das rechte Spektrum unter den Erwartungen blieb. Der Grund dafür könnte unter anderem darin liegen, dass die Wahlbeteiligung wesentlich höher war als bei den EU-Wahlen davor. 

Die letzten Jahre jedoch waren von einer Reihe großer Krisen geprägt, die sich auf erhebliche Teile der Bevölkerung negativ ausgewirkt haben. Pandemie, stark gestiegene Energiekosten und hohe Inflation sind für viele Wähler:innen ein wesentlicher Grund, sich anderen Parteien zuzuwenden oder bei den Wahlen zuhause zu bleiben. Letztlich liegt es aber an den wahlwerbenden Gruppen selbst, die Bevölkerung von ihren Anliegen zu überzeugen. Gewissheit über die politische Zusammensetzung der EU-Institutionen wird es jedenfalls nach den EU-Wahlen, die vom 6. bis 9. Juni 2024 stattfinden werden, geben. 

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