AK Infobrief 1|25 | Mayr: Buchrezension zu Kohlenberger – Grenzen der Gewalt
AK Infobrief 1|25 | Mayr: Buchrezension zu Kohlenberger – Grenzen der Gewalt © AK WIEN
März 2025

Rezension: Die EU-Migrationspolitik – Ein Plädoyer für eine Demokratisierung der Grenzen

Judith Kohlenberger geht in ihrem jüngsten Buch der Frage nach, wie Gewalt und systematischer Rechtsbruch an den EU-Außengrenzen bis tief ins Innere der europäischen Gesellschaft hineinreichen und dort weiterwirken. Sie plädiert für eine Demokratisierung dieser Grenzen, die der derzeit zu beobachtenden Demokratieskepsis entgegenwirken könnte.

Autor: Felix Mayr

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Über den Autor

Felix Mayr ist Jurist und arbeitet als Referent für europarechtliche Angelegenheiten in der Abteilung EU und Internationales der AK Wien.
Felix Mayr
Felix MAYR © AK WIEN

Kurz und Knapp

  • „Das Chaos der Gewalt und der offenen Rechtsbrüche, das Gefühl der Ohnmacht und Resignation greifen ins Innere aus“, so Kohlenberger. 
  • Das Buch regt zu Fragestellungen an, die durchaus auch in anderen Disziplinen Relevanz zeugen, in denen der öffentlichen Meinung und dem politischen Auftrag die Sachlichkeit abhandengekommen scheint.

Buchtipp

 

Kohlenberger – Grenzen der Gewalt
Kohlenberger – Grenzen der Gewalt © Leykam Verlag


Judith Kohlenberger
Grenzen der Gewalt:
Wie Außengrenzen ins Innere wirken
Leykam Verlag, 2024

Zur Autorin: Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin. Seit Herbst 2015 arbeitet sie zu Flucht, Asyl und Zugehörigkeit, u.a. an der WU Wien, dem Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip) und dem Jacques-Delors-Centre der Hertie School in Berlin.

Das neueste Buch der Migrationsexpertin Judith Kohlenberger widmet sich der Frage, was die von vielen geforderte „Härte“ an Europas Außengrenzen mit unserer Gesellschaft macht. Neben einer Verrohung im Diskurs konstatiert sie, dass das an den Außengrenzen stattfindende „Chaos der Gewalt und der offenen Rechtsbrüche, das Gefühl der Ohnmacht und Resignation“ ins Innere ausgreifen würde.

Von den Grenzen…

Sie behandelt dabei von verschiedenen Blickwinkeln aus die „Politik des Sterbenlassens“, welche sich weniger durch tatsächliches Töten als vielmehr durch aktives Unterlassen ausdrückt: lebensnotwendige Hilfestellung wird aktiv durch Gesetz unterbunden, erschwert oder unmöglich gemacht. Umgekehrt werden legale Möglichkeiten zur Migration, teilweise sogar die bloße Antragstellung auf Asyl, verunmöglicht und unter Einsatz von Gewalt verhindert. So heiße der derzeitige EU-Grenzschutz konsequent zu Ende gedacht „die Ankünfte Lebender so gering wie möglich zu halten“.

Solange jedoch die Fluchtursachen vor Ort nicht gelöst werden, werden sich auch die Fluchtbewegungen nicht in Luft auflösen, so die Expertin. So zeigt sich Kohlenberger auch enttäuscht von dem noch im Frühjahr 2024 beschlossenen „EU-Asylpakt“, der diesen Aspekt erneut vernachlässigt. Neben anderen Mythen bricht die Autorin mit der populären These, immer riskanter werdende Routen - und damit immer geringere Überlebenschancen - würden Menschen von der Flucht abhalten: Vielmehr führe diese Politik lediglich zu einem Anstieg der Todesfälle. So wie bereits am früheren prominenten Beispiel der Grenze zwischen den USA und Mexiko hat auch die zelebrierte Schließung der „Balkanroute“ die Migration nur auf den viel gefährlicheren Seeweg umgelenkt. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) nennt die Mittelmeerroute immerhin „die tödlichste Grenze der Welt“. Die derzeitige Migrationspolitik löst aber nicht nur keine Fluchtursachen: sie kommt uns allen auch verdammt teuer. Denn Frontex ist im Laufe des vergangenen Jahrzehnts zur mit Abstand teuersten EU-Agentur angewachsen. Gleichzeitig wird die rechtliche Verantwortung von Frontex für von die ihr begangenen Rechtsbrüche als unzureichend kritisiert.

…ins Innere Europas

Was macht die derzeitige Lage an den Außengrenzen mit der Demokratie, mit der Gesellschaft innerhalb Europas? Laut Kohlenberger zeichnet sich hier ein gefährliches Wechselspiel ab: Einerseits sei es für Entscheidungsträger:innen zunehmend wichtiger (und opportuner) geworden, hart gegen „illegale Migration“ aufzutreten als tatsächliche Lösungskompetenz zu beweisen. Umgekehrt legen ein bewaffneter Grenzschutz und immer strenger reglementierte Routen den Schluss nahe, „dass eine latente Bedrohung jenseits der Grenze“ lauere, „vor der es sich zu wappnen gilt.“ Gleichzeitig hätten die dort stattfindenden Rechtsbrüche unser Selbstverständnis und unseren Anspruch von und an Demokratie und Rechtsstaat ins Erschüttern gebracht – denn die Gesellschaft würde sich kollektiv daran gewöhnen, „dass Rechtsbrüche nicht geahndet werden und Unrecht sanktionslos bleibt“, so Kohlenberger. Der Aufstieg rechtsextremer und anti-demokratischer Kräfte in ganz Europa sei als Ergebnis der verfehlten Grenzpolitik anzusehen, die eben diese Gefühle von Unsicherheit und Bedrohung in ohnehin krisengebeutelten Zeiten weiter befeuern und wiederum davon profitieren.

Und wir?

In Gesprächen mit Aktivist:innen und Grenzschützer:innen zeigt Kohlenberger auf, wie erlebte Rechtsbrüche und Systemversagen das Vertrauen in Entscheidungsträger:innen und die demokratischen Institutionen ins Wanken geraten lassen und fördert dabei deren Frustration und Desillusionierung zutage. Interessant wären womöglich auch gegenüberstellende Gespräche der Kulturwissenschaftlerin mit jenen gewesen, die mit Flucht und Migration zwar überhaupt nicht in persönliche Berührung kommen, von der Thematik aber zu einer ungleich heftigeren Demokratieskepsis angetrieben werden. Inwieweit trägt für diese Haltung die einseitige und verzerrte Berichtserstattung (auch traditioneller Medien) mit Schuld, die immer auch Aufmerksamkeit und Reichweite der Leser:innenschaft einkalkuliert? Und warum lässt sich unsere Gesellschaft so stark von diesem Thema emotionalisieren?

Hier setzt Kohlenberger an und stellt im Buch die offene Frage, warum es der Migrationsforschung nicht gelingt, den stattfindenden Diskurs zu versachlichen. Dass dies an einem Versagen der Migrationsforschung selbst liegen muss, wie ein im Buch zitierter Kollege der Autorin suggeriert, darf hinterfragt werden. Kohlenberger selbst bietet immerhin einen kostenlosen Podcast an, der somit in seinem Format durchaus breitenwirksam und niederschwellig allen offensteht. Die Vorfrage scheint allerdings vielmehr jene, ob ein Diskurs überhaupt eine sachliche Grundlage braucht, anstrebt oder zulässt. Und welcher Wissenschaft gelingt eine Versachlichung der stattfindenden Diskurse überhaupt noch? Und ist ihr das denn früher jemals gelungen? Auch wenn das Buch nur einen Bruchteil der Begründung für die derzeit stattfindende, autoritäre Welle zumindest für Europa liefern kann: es regt zu Fragestellungen an, die durchaus auch in anderen Disziplinen Relevanz zeugen, in denen der öffentlichen Meinung und dem politischen Auftrag die Sachlichkeit abhandengekommen scheint.

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