AK Infobrief 4|24: Frank Ey: Das Draghi-Bericht auf dem Prüfstand
AK Infobrief 4|24: Frank Ey: Das Draghi-Bericht auf dem Prüfstand © AK WIEN
Dezember 2024

EU-Wettbewerbspolitik auf dem Prüfstand: Draghi-Bericht bringt neue Ausrichtung für die EU-Politik

Mit dem Draghi-Bericht zur Zukunft der EU-Wettbewerbsfähigkeit sind die Diskussionen zur Ausrichtung der EU in den nächsten fünf Jahren nun angelaufen. Beschäftigungs- und gesellschaftspolitische Anliegen drohen dabei jedoch Opfer einer wirtschaftszentrierten EU-Politik zu werden. 

Autor: Frank Ey

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Richtige Analyse zum Status quo, Empfehlungen aber zum Teil zu hinterfragen

Der frühere EZB-Präsident und Ex-Premierminister Mario Draghi beschreibt die derzeitige Lage der Europäischen Union in seinem Bericht zum größten Teil durchaus zutreffend: Die Unternehmen der EU arbeiten mit Technologien, die altbewährt sind, aber keine großen Entwicklungschancen mehr haben. Beispielsweise in der Autoindustrie, die mit einer mehrjährigen Verspätung erst langsam vom Verbrenner- zum Elektroauto umsteigt. Die EU-Konzerne geben auch deutlich weniger Geld für Forschung aus, als es US-Amerikanische Unternehmen tun. Unternehmen, die neue Technologien entwickelt haben, siedeln sich meist lieber in den USA an. Das Unternehmensumfeld ist für Start-Ups günstiger, die Finanzierung über den US-Kapitalmarkt erheblich einfacher. 

Neuentwicklungen wie unter anderem Künstliche Intelligenz, landen damit zuerst auf den US-Märkten und erst um einiges später in Europa. Hinzu kommt, dass die EU derzeit mit Strom- und Erdgaspreisen kämpft, die zwei bis drei Mal bzw vier bis fünf Mal so hoch wie in den USA sind. Prekär ist die Situation auch hinsichtlich kritischer Rohstoffe, bei der die Abhängigkeit von Drittstaaten (insbesondere von China) sehr hoch ist. Gleiches gilt auch für Halbleiter, die zum großen Teil (je nach Halbleiterprodukt zu 75 bis 90 Prozent) in Asien produziert werden. Dazu kommen noch gestiegene geopolitische Risiken, die für Unsicherheit und in der Folge für weniger Investitionen sorgen. 


Über den Autor

Frank Ey ist Experte für EU-Binnenmarktpolitik in der Abteilung EU & Internationales der AK Wien sowie Lektor an der WU Wien.
Frank Ey
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Kurz und Knapp

  • Wirtschafts­politisch ernste Lage in den EU-Volkswirtschaften.
  • Eine EU-Investitionsoffensive ist ein wichtiger Impuls für die EU. Die EU-Fiskalregeln stehen dem Vorhaben jedoch entgegen.
  • Sozialpolitische Themen werden nur am Rande angesprochen. Überlegungen zu einer aktiven Arbeitsmarktpolitik oder Maßnahmen gegen Lohn- und Sozial­dumping werden nicht erwähnt.
  • Ob eine 
    Kapitalmarkt­union die versprochene Finanzmarkt­stabilität bringt, ist aus Arbeitnehmer:innensicht fraglich.
  •  Draghi sieht die hohen Energiepreise als herausragendes Problem für die Wettbewerbsfähigkeit der EU.
  • Eine AK-Studie zum Thema Bürokratie warnt vor einer Unterwanderung wichtiger EU-Standards u.a. im Beschäftigungs- und Verbraucher:innenschutz durch die Bessere Recht­setzungs-Agenda.

Draghi hat nach seiner Analyse aller Wirtschaftsbereiche eine Reihe von Empfehlungen abgegeben, die aus Sicht von Arbeitnehmer:innenvertretungen zum Teil zu begrüßen sind, zum Teil aber auch strikt abgelehnt werden müssen.

Ambivalente Empfehlungen von Mario Draghi

Einer der wichtigsten Vorschläge des früheren EZB-Präsidenten Mario Draghi ist die Idee, die EU mit einer Investitionsoffensive wieder wettbewerbsfähiger zu machen und gleichzeitig der Wirtschaft Auftrieb zu verleihen. 

Zwischen 750 und 800 Milliarden Euro sollen jährlich investiert werden – das entspricht einer Investitionsquote von 4,5 – 4,7 Prozent des BIPs von 2023. Ein solcher Impuls könnte entscheidend sein, um die ökologischen und technologischen Herausforderungen der Gegenwart zu meistern und die seit Jahren bestehende Investitionslücke in der EU zu schließen. Begrüßenswert ist auch, dass Draghi darauf hinweist, dass öffentliches Kapital eine wesentliche Rolle spielen soll, da privates Kapital derartige Summen kaum aufbringen kann. 

Gerade die Daseinsvorsorge spielt eine erhebliche Rolle bei der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Weltregionen. Eine öffentliche Infrastruktur und öffentliche Dienstleistungen, die an einer zukunftsorientierten Ökonomie ausgerichtet ist, stellen die Basis für unternehmerische Aktivitäten in Zeiten der Transformation dar. Gerade der Daseinsvorsorge schenkt Draghi jedoch bei weitem nicht genug Beachtung.

Einen weiteren wesentlichen Punkt vergisst Mario Draghi in seinem Bericht zu erwähnen: Die EU-Fiskalregeln führen dazu, dass Mitgliedstaaten tendenziell dazu angehalten werden zu sparen, statt in die Zukunft zu investieren. Es braucht jedoch eine klare Regelung, die es Mitgliedsländern ermöglicht, die Weichen für die Zukunft zu stellen und zielgerichtete Investitionen vorzunehmen.

Gemeinsame EU-Industriestrategie

Der Vorschlag Draghis, eine diversifizierte EU-Industriestrategie zu schaffen, ist mehr als überfällig. Nachdem entsprechende Strategien bislang gefehlt haben, ist die Europäische Union in zahlreichen Bereichen gegenüber anderen Wirtschaftsregionen zurückgefallen. Draghi befasst sich eingehend mit den einzelnen Wirtschaftssektoren im zweiten Teil seines Berichts. Erfasst sind unter anderem energieintensive Industrien, der Energiesektor, die Halbleiterindustrie, der Automobilbereich, der Pharmasektor, der Luftfahrtbereich, der gesamte digitale Bereich inklusive Rechenzentren, Künstliche Intelligenz und hochleistungsfähige Breitbandnetzwerke sowie der Verkehrsbereich. Im Zentrum der Industriestrategie steht insbesondere auch die Energiepolitik, kritische Rohstoffe und eine „saubere“ Produktion, möglichst ohne Ausstoß von Treibhausgasen.

Draghi sieht weiters Handlungsbedarf in mehreren horizontalen Politikbereichen. Über alle Sektoren hinweg sollen Maßnahmen im Bildungsbereich gesetzt werden, damit die Beschäftigten in den unterschiedlichen Bereichen über die nötigen Qualifikationen verfügen. Innovationen und Forschung werden in zwei Kapiteln auch noch einmal hervorgehoben. Wesentliches Thema sind für ihn auch Neuer Verweisdie Vereinfachung von bestimmten Regeln und Bürokratie. Zu kritisieren ist der Vorschlag zur Einrichtung eines Koordinierungsrahmens zur Wettbewerbsfähigkeit, der eine bessere Abstimmung der einzelnen Maßnahmen in der Wettbewerbspolitik ermöglichen soll. Es ist aber zu befürchten, dass im Rahmen dieses Koordinierungsrahmens andere Politikbereiche wie der Sozial- oder Klimapolitik untergeordnet werden. Deswegen ist dieser Plan äußerst kritisch zu sehen

Zu jedem dieser Bereiche gibt er mehrere Empfehlungen ab, die positive Effekte auf die Wettbewerbsfähigkeit haben sollen und den Worten des Berichts nach auch den Grünen Deal mitbedenken. Aspekte aus Beschäftigtensicht werden bei der Industriestrategie jedoch nur wenig angesprochen. Dabei sind Industriearbeitskräfte ein wesentlicher Teil des Industriesektors und direkt von jeglichen Änderungen betroffen. Sie müssen daher über ihre Arbeitnehmer:innenvertretungen auch vollinhaltlich in die Diskussionen zur Zukunft der europäischen Industrie miteinbezogen werden. 

Sozial- und Bildungspolitik im Draghi-Bericht

Immerhin spricht Mario Draghi an, dass die soziale Inklusion, der europäische Sozialstaat sowie die Qualifikation von Beschäftigten grundlegende Faktoren für Europa sind. Insbesondere eine zielgerichtete Ausbildung ist aus seiner Sicht wichtig. Die EU-Budgetgelder, die bisher für Bildung verwendet wurden, waren aus seiner Sicht wenig erfolgreich. Daher sollen sich die Förderungen nun verstärkt an die nötigen Qualifikationen im Berufsleben orientieren. Außerdem beteiligt sich der Industriesektor laut Draghi viel zu wenig um Ausbildungsfragen, wo ihm nur zugestimmt werden kann. Die Mitgliedstaaten selbst befassen sich oft nur mit Koordinierungsaufgaben, statt sich direkt in den Qualifizierungsprozess einzubringen. Draghi spricht sich dafür aus, dass die Europäische Union ihre Strategie überarbeitet und sich auf die Behebung bestehender Qualifizierungsdefizite konzentriert. 

Aus Sicht der Arbeiterkammer muss bei Qualifizierungsmaßnahmen das gesamte Arbeitskräftepotential angesprochen werden. Damit können für alle Arbeitskräfte Kompetenzen erworben und in weiterer Folge Arbeitslosigkeit vermieden werden. In diesem Zusammenhang wäre eine aktive Arbeitsmarktpolitik dringend notwendig – nur Draghi erwähnt es in seinem Text nicht. Auch die Einbeziehung der Gewerkschaften und des sozialen Dialogs findet in der Sozial- und Bildungspolitik kaum Erwähnung. Welche Maßnahmen getroffen werden können, um hochqualitative neue Jobs zu schaffen wie beispielsweise über die Förderung von Kollektivverträgen, wird nicht näher angesprochen.

Darüber hinaus bleibt das grenzüberschreitende Lohn- und Sozialdumping, das insbesondere bei der Entsendung von Arbeitnehmer:innen besteht, bei Draghi leider eine Leerstelle. Die Folge von derartigen Praktiken ist ein unfairer Wettbewerb, der auf Kosten der unterentlohnten Beschäftigten und der Unternehmen geht, die sich an die Regeln halten. 

Private Pensionsfonds statt öffentlicher umlagefinanzierter Pensionssysteme?

Weltfremd mutet die Forderung im Bericht zur Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit nach privaten Pensionsfonds an, die es ergänzend oder statt umlagefinanzierter öffentlicher Pensionssysteme geben soll. Nach Ansicht von Draghi hätten die USA und Großbritannien hier Vorteile, weil sich das Pensionsfondsvermögen auf 142 bzw 100% des BIPs belaufen. In der Europäischen Union liegt dieser Wert „nur“ bei 32%. Mit dem „angesparten“ Geld in den Pensionsfonds könnten die EU-Kapitalmärkte der Meinung des Berichts nach gestärkt werden. Es fehlt jedoch jegliche Überlegung darüber, welche Gefahren private Pensionsfonds für den Einzelnen mit sich bringen, wie mögliche starke Wertschwankungen bis hin zum Bankrott einzelner Fonds. Dass die öffentlichen Umlageverfahren gerade in konjunkturell schwierigen Zeiten stabilisierend wirken, wird wohlweislich verschwiegen. Aus Arbeitnehmer:innensicht werden derartige Vorschläge daher auch nachdrücklich zurückgewiesen

Kapitalmarktunion soll Finanzierung der Unternehmen unterstützen

Mario Draghi weist in seinen weiteren Ausführungen auch allgemein auf die hohen Sparvolumina der europäischen Haushalte hin. Die Gelder fließen demnach jedoch häufig in Anlageprodukte von Drittländern, insbesondere den USA, d.h. das Geld bleibt für die europäische Wirtschaft ungenutzt. Bankenvertreter:innen sprechen sich daher häufig für eine Kapitalmarktunion aus, weil sie aus Sicht dieser Vertreter:innen für eine höhere Finanzmarktstabilität und eine bessere Widerstandsfähigkeit der Volkswirtschaften sorgt. National fragmentierte Kapitalmärkte seien demgegenüber weit weniger stabil aufgestellt. Eine große Kapitalmarktunion kann demnach systemische Schocks am Finanzmarkt wesentlich besser verkraften. Aus Arbeitnehmer:innensicht ist diese Behauptung jedoch sehr fragwürdig: Im Fall von Schocks im Finanzsektor ist zu befürchten, dass sich diese rascher ausbreiten können und dazu führen, dass Kapital aus Krisenstaaten sehr rasch wieder abfließt und die Situation der betroffenen Volkswirtschaften noch einmal verschlechtert. 

Mahnende Beispiele sind die Integration der europäischen Kapitalmärkte in die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), die für makroökonomische Ungleichgewichte gesorgt haben oder transnationale Kapitalflüsse, die zu den Immobilienblasen in Spanien und Irland Anfang der 2000er Jahre beigetragen haben. 

Draghi weist auch auf die Vorteile von Verbriefungen, also die Bündelung von Forderungen in handelbare Wertpapiere, hin. Gerade die Bündelung und Mischung von risikoarmen mit sehr risikoreichen Forderungen war es jedoch, die mit die Ursache für die Finanzkrise 2008 war, die unter anderem die US- und die EU-Volkswirtschaften in die Krise stürzten. Kleinanleger:innen, die ihre Abfertigung oder ihre Rücklagen in derartige Wertpapiere anlegen, könnten im schlimmsten Fall mangels Kenntnis der Risiken ihr Erspartes verlieren. Bei den neuen Diskussionen zur Verringerung von Bürokratielasten werden zudem Erinnerungen aus der Zeit unter Kommissionspräsident Barroso wach: Damals stellte eine hochrangige Gruppe zu Verwaltungslasten fest, dass die Pflicht zur Bereitstellung von Informationen über Anlageprodukte eine Last für den Finanzsektor wäre und diese Pflicht nur unter dem Eindruck der Finanzkrise von 2008 nicht gestrichen würde. 

Hohe Energiekosten als großes Problem für die Wettbewerbsfähigkeit

Einer der wesentlichsten Faktoren für die Wettbewerbsprobleme der EU sind die stark gestiegenen Energiepreise. Die Strompreise sind in der EU zwei bis drei Mal so hoch wie in den USA, die Preise für Erdgas sogar vier bis fünf Mal höher. Der Analyse von Mario Draghi, der das Problem zu einem großen Teil dem Gasmarkt zurechnet, kann nur zugestimmt werden. Laut seinen Informationen waren Gaskraftwerke zu 63 Prozent am Energiemarkt preissetzend, obwohl sie nur rund 20 Prozent des nötigen Stroms produziert haben. Zu verdanken sind die hohen Preise dabei insbesondere dem Merit Order Prinzip, nachdem sich der Preis immer am teuersten Energieprodukt orientiert, auch wenn der Anteil zur Herstellung des Stroms noch so niedrig ist. 

Leider geht Draghi aber in seiner Analyse nicht weiter ins Detail, die Forderung nach einer Entkoppelung der hohen Gaspreise vom Strompreis fehlt in seinen Ausführungen. Die AK hat eine Studie in Auftrag gegeben, die ihren Fokus auf das sogenannte iberische Modell gelegt hat. Dieses Modell setzt auf eine Preisobergrenze für Strom und eine Entkopplung von Gas- und Strompreisen. EU-weit angewendet könnte das iberische Modell Merit Order-Effekte innerhalb der EU ausschließen. 

Der Bericht setzt auch auf den Ausbau der Energienetze, dem nicht zuletzt wegen der Notwendigkeit, alle Voraussetzungen für den Einsatz erneuerbarer Energie zu schaffen, grundsätzlich zuzustimmen ist. Aus Draghis Sicht soll dabei vor allem privates Kapital zum Einsatz kommen. Für die Kund:innen führt das jedoch zu deutlich höheren Kosten, weil private Kapitalgeber:innen bestimmte Renditevorstellungen haben. Vermeiden ließen sich diese Zusatzkosten bei einer stärkeren Gemeinwohlorientierung des Energiesektors im Rahmen der Daseinsvorsorge und der Finanzierung über öffentliche Mittel. Energieunternehmen, die sich zumindest teilweise in öffentlicher Hand befinden, könnten dafür sorgen, dass niedrigere Erzeugungskosten auch tatsächlich an die Verbraucher:innen weitergegeben werden. Dem ist aktuell jedoch nicht so und die privat geführten Energieunternehmen schreiben Rekordgewinne, die leider nicht von der öffentlichen Hand für Investitionen in die Netze abgeschöpft werden. Stattdessen ist zumindest in Österreich zu beobachten, dass die Netzgebühren für private Haushalte stark steigen

Genehmigungsverfahren beschleunigen, gemeinsame Beschaffung forcieren

Draghi spricht sich für eine Beschleunigung von Genehmigungsverfahren aus und fordert dazu unter anderem eine Ressourcenausweitung der öffentlichen Verwaltung. Hinsichtlich von öffentlichen Beschaffungsmaßnahmen fordert er eine bessere Koordination zwischen den EU-Mitgliedsstaaten. Die lokale Beschaffung soll darüber hinaus gefördert werden. Was bei den durchaus begrüßenswerten Überlegungen jedoch auch hervorgehoben werden muss, ist dass beschleunigte Genehmigungen nicht auf Kosten von Umweltzielen und dem Menschen gehen dürfen. 

Was im Text zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit leider kaum angesprochen wird, ist die Notwendigkeit eine gemeinsame Steuerpolitik auszuarbeiten, die für mehr Steuergerechtigkeit sorgt. Es braucht insbesondere Maßnahmen,  Steuerschlupflöcher zu reduzieren und Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung zu setzen. 

Anti-Bürokratie-Pläne als Wiedergänger

Regelmäßig erwachen die Diskussionen hinsichtlich von Bürokratie und Verwaltungslasten zu neuem Leben. Initiativen dazu gab es bereits unter Kommissionspräsident Barroso zwischen 2004 und 2014, die sich über seinen Nachfolger Jean-Claude Juncker bis hin zur ersten Amtsperiode von Ursula von der Leyen fortsetzten. Nun bezieht sich auch der Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit auf Bürokratie und fordert eine Reduktion der Berichtspflichten für Klein- und Mittelunternehmen von bis zu 50 Prozent. 

Grundsätzlich ist es zu begrüßen, wenn Bestimmungen regelmäßig überprüft werden und wenn festgestellt wird, dass sie keinen Mehrwert (mehr) haben, gestrichen werden. Leider war jedoch bisher bei jeder Auseinandersetzung mit dem Thema Bürokratie festzustellen, dass es sehr oft nicht um überflüssige Formulare oder unnötige Extra-Wege geht, die Unternehmen gehen müssen, sondern um Regeln mit hohem Mehrwert für Beschäftigte, Verbraucher:innen oder andere Teile der Gesellschaft. 

Das stellt auch eine neue Studie im Auftrag der AK von Prof. Brigitte Pircher zur „Besseren Rechtsetzung“ fest. So wird von der Kommission ein kürzlich verabschiedetes Gesetz zur Verhinderung einer Asbest-Exposition von Beschäftigten als reine Verwaltungslast dargestellt, obwohl die Regelung sicherstellen soll, dass die Mitarbeiter:innen gesund bleiben und dem Unternehmen weiterhin zur Verfügung stehen. Besonders kurios mutet es an, dass die Kommission diese Richtlinie selbst initiiert hat, nur um die Regelung beim Inkrafttreten als Bürokratieungetüm darzustellen. 

Oft geht es bei diesen Diskussionen längst nicht mehr um qualitativ hochwertige Gesetze, sondern um rein quantitative Ziele. Beispielsweise das auch im Draghi-Bericht angeführte Ziel, Berichtspflichten für Unternehmen zu streichen oder das sogenannte One In, One Out-Prinzip, wonach für ein neues Gesetz ein bestehendes gestrichen werden muss. 

Wie weit die Forderungen seitens der Industrie und des Handels gehen, zeigen erste Listen, wie sie beispielsweise die Deutsche Industrie- und Handelskammer veröffentlicht hat: Darin enthalten sind zahlreiche Forderungen, die sowohl Beschäftigte, als auch Verbraucher:innen betreffen: So beispielsweise die Arbeitnehmer:innenentsende-Richtlinie, die Regelung zur Stärkung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Frauen und Männer bei gleicher und gleichwertiger Arbeit, die Verbraucher:innenrechte-Richtlinie, die Praktikums-Richtlinie oder das Verbot von Produkten aus Zwangsarbeit.

Resümee

Im Bericht von Draghi zur EU-Wettbewerbs­politik zeichnet sich deutlich die Orientierung entlang der Forderungen von Wirtschaftsverbänden und einzelnen großen Unternehmen ab. Arbeitnehmer:innen, Konsument:innen, anderen gesellschaftsorientierten Organisationen und dem Klima- und Umweltschutz hingegen wird kaum Platz für deren Anliegen eingeräumt. Für Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen wird es in den kommenden fünf Jahren sicher noch schwerer als bisher Gehör zu finden. In der Vergangenheit haben Arbeitnehmervertreter:innen und NGOs jedoch bereits wiederholt bewiesen, dass sie auch unter widrigen Bedingungen auf sich aufmerksam machen können. 

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