AK Infobrief 2|25 | Wegerer: Das EU-Defizitverfahren Drei Jahrzehnte Fiskalregeln: Ein Rückblick mit Ausblick AK Infobrief 2|25 | Wegerer: Das EU-Defizitverfahren Drei Jahrzehnte Fiskalregeln: Ein Rückblick mit Ausblick © AK WIEN
AK Infobrief 2|25 | Wegerer: Das EU-Defizitverfahren – Drei Jahrzehnte Fiskalregeln © AK WIEN
Juni 2025

Das EU-Defizitverfahren: Drei Jahrzehnte Fiskalregeln – Ein Rückblick mit Ausblick 

Vor 28 Jahren wurde das Defizitverfahren im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts operationalisiert. 48 Mal kam es bisher zur Anwendung. Damit gehören Defizitverfahren zum Standardrepertoire der EU, welche gehäuft nach Krisen zum Einsatz kommen: So waren nach der Finanzkrise 2008 24 von 28 Mitgliedsstaaten betroffen. Sanktionen wurden noch nie verhängt. Viel Aufsehen wegen einer Zahl – der 3 % Defizitgrenze –, die „ökonomisch klingen“ sollte und in weniger als einer Stunde erdacht wurde. 

Autorin: Julia Wegerer

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Das öffentliche Defizit 2024 von 4,7%  in Österreich hat dazu geführt, dass in letzter Zeit viel über das EU-Defizitverfahren (offiziell: Verfahren bei einem übermäßigen Defizit, kurz ÜDV) gesagt und geschrieben wurde. Der vorliegende Beitrag soll einen kurzen Überblick darüber bieten, wie das ÜDV entstanden ist und wie es sich im Laufe der Zeit entwickelt hat. Es herrscht insgesamt Einigkeit darüber, dass das österreichische Budget - aufgrund hoher Ausgaben der vorangegangenen Legislaturperiode ohne ausreichende Gegenfinanzierung - saniert werden muss. Andernfalls fallen immens hohe Zinszahlungen an und gerät Österreich zu stark in die Abhängigkeit der Finanzmärkte. Die von Gewerkschaft und Arbeiterkammer seit jeher kritisierte einseitige Ausrichtung auf Haushaltsdisziplin durch die EU-Fiskalregeln berücksichtigt jedoch wichtige Unionsziele wie Wohlergehen, Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt unzureichend.

Daher ist es aufschlussreich zu wissen, wie das hochstilisierte Zahlenwerk der Maastricht-Kriterien entstanden ist und wie sich die Durchsetzbarkeit der EU-Fiskalregeln im Rahmen des Defizitverfahrens in harten politischen Kämpfen entwickelt hat.


Über die Autorin

Julia Wegerer ist Referentin in der Abteilung EU & Internationales der AK Wien und befasst sich mit europapolitischen Fragestellungen.

Julia Wegerer
Julia WEGERER © AK WIEN

Kurz und knapp

  • Die 3 %-Defizitgrenze wurde in weniger als einer Stunde von Expert:innen im französischen Finanzministerium erdacht.
  • Der Stabilitäts- und Wachstumspaket zielt vermeintlich auf fiskalische Nachhaltigkeit ab und vernachlässigt Ziele wie Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt.
  • Nach der Finanzkrise 2008 befanden sich 24 von 28 EU-Mitgliedsstaaten im Defizitverfahren.
  • Sixpack, Twopack, Fiskalpakt oder wie man nicht Funktionierendes verschärft.
  • Das Defizitverfahren führte bisher noch nie zu Sanktionen.
  • Das Kappen von Fördermitteln ist die schärfste Waffe der EU-Kommission.

Die 3 %-Defizitgrenze als französische Erfindung

Eine einfache ökonomische Regel, um Budgetwünsche seiner Minister:innen ablehnen zu können, war im Jahr 1981 der Wunsch des damaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterand. Die Expert:innen im französischen Finanzministerium entschieden sich aus Gründen der Einfachheit rasch für eine Defizitgrenze, die in Prozent des BIPs ausgedrückt wird – mit all ihren Nachteilen. Ohne Rückgriff auf wissenschaftliche Grundlagen einigten sich die involvierten Expert:innen in weniger als einer Stunde auf ein Defizit von 3 % als Grenze. Mit dem Vertrag von Maastricht 1992 schaffte es diese französische Idee auf die EU-Ebene: Das maximale jährliche Haushaltsdefizit von 3 % wurde im Rahmen der Konvergenzkriterien, um dem Euro beitreten zu können, eingeführt  und die Grundzüge des Defizitverfahrens im Primärrecht festgelegt. 

1997 wurde mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) im Zuge der Euro-Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion die Verpflichtung, übermäßige öffentliche Defizite für immer zu vermeiden, operationalisiert und mit der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 des Rates präzisiert. Die EU-Kommission hat die Haushaltsdisziplin der EU-Mitgliedsstaaten nun in zweierlei Hinsicht zu prüfen: Einerseits, ob das Verhältnis des Defizits zum Bruttoinlandsprodukt den Referenzwert von 3% überschreitet und andererseits, ob der öffentliche Schuldenstand im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt über 60% liegt. Ausnahmen sind vorgesehen, wenn dieses Verhältnis rückläufig und nahe dem Referenzwert ist oder wenn nur eine kurzfristige, ausnahmsweise Überschreitung vorliegt. In diesen Fällen wird kein Verfahren eingeleitet.

Erfüllt ein Mitgliedsstaat eines oder beide Kriterien nicht, erstellt die EU-Kommission zunächst einen Bericht. Ist die EU-Kommission nach der Stellungnahme des Mitgliedsstaates und des (heutigen) Wirtschafts- und Finanzausschusses der Auffassung, dass ein übermäßiges Defizit besteht, legt sie dem Rat eine Stellungnahme mit einer Empfehlung vor. Der Rat entscheidet sodann auf Grundlage der Empfehlung der Kommission, ob ein ÜDV eingeleitet wird und richtet nicht-öffentliche Empfehlungen zur Behebung des Defizits binnen einer Frist von maximal sechs Monaten an den betroffenen Mitgliedsstaat. Wird der Mitgliedsstaat nicht tätig, kann der Rat seine Empfehlungen veröffentlichen. Setzt der Mitgliedsstaat weiterhin keine Korrekturmaßnahmen, kann der Rat den Mitgliedsstaat mit der Maßgabe in Verzug setzen, binnen eine gewissen Frist Maßnahmen zu setzen. Wird dieser letztgenannte Beschluss des Rates durch den Mitgliedsstaat nicht befolgt, können letztendlich Sanktionen verhängt werden (mehr dazu siehe gleich). 

Der erste Fall des Defizitverfahrens

In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre kam es daraufhin in den EU-Mitgliedstaaten zu einer Konsolidierungswelle, die einen wirtschaftlichen Abschwung mit sich brachte. Infolgedessen schnellten die Schuldenstände und Defizite der Länder nach oben. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt verschärfte diese Krise und konnte das Ansteigen der Budgetdefizite nicht verhindern. Das ÜDV, der so genannte korrektive Arm des Stabilitäts- und Wachstumspakts, kam 2003 zum ersten Mal gegenüber Deutschland und Frankreich zum Einsatz und sorgte gleich für ein Politikum: Wiewohl es der Kommission obliegt, initiativ Vorschläge über Einleitung und Fortgang des Verfahrens an den Rat heranzutragen, so ist es der Rat, der die finale Entscheidung zu treffen hat. Das deutsche und französische Defizit lag über mehrere Jahre über 3%. Entgegen dem Vorschlag der Kommission wurden im Rat auf politischen Druck Deutschlands und Frankreichs hin keine Verschärfungen des Verfahrens beschlossen, die noch strengere Sparauflagen und ein Näherrücken von Sanktionen bedeutet hätten. Schon damals konnten vier Arten von Sanktionen verhängt werden: Neben den bekannten Geldbußen waren das die Veröffentlichung zusätzlicher Angaben vor der Emission von Schuldverschreibungen und sonstigen Wertpapieren; die Überprüfung der Darlehenspolitik durch die Europäische Investitionsbank sowie die Zahlung unverzinslicher Einlagen. Als Regelsanktion war zu diesem Zeitpunkt die unverzinsliche Einlage vorgesehen, die sich zwischen 0,2% – 0,5% des BIP bewegen konnte. 

Eine Klage der Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof brachte gewisse Klarstellungen:  Einerseits, dass es immer dem Rat obliegt zu entscheiden und ihm dabei ein Ermessen zukommt, welches ihn zu einer von der Kommission abweichenden Beurteilung der Wirtschaftsdaten, aber auch der zu treffenden Maßnahmen und Zeitpläne kommen lassen kann. Der Rat muss sich jedoch an die in Art. 126 AEUV (damals: Art. 104 EGV) und der VO (EG) Nr. 1467/97 fixierten Spielregeln halten und kann insbesondere auch das Initiativrecht der Kommission nicht umgehen. 

Mit dieser Klärung wurden die Bestimmungen zum Defizitverfahren 2005 erstmals überarbeitet und die nationalen fiskalischen Spielräume in geringem Maße erweitert. So wurden die mittelfristigen Haushaltsziele festgelegt, indem Länderspezifika wie Schuldenstand und Wachstumspotenziale berücksichtigt werden. Zudem wurden die Möglichkeiten für ein sanktionsloses, vorübergehendes Überschreiten der 3 % Defizitgrenze etwas erweitert. Trotz dieser Reform blieb der SWP ein Stabilitäts-, aber kein Wachstumspakt mit enggeführtem Fokus auf Haushaltsdisziplin.

Nach der Finanzkrise: Austerität und Defizitverfahren en masse

Die zweite Welle an ÜDV war nach der Finanzkrise 2008 zu verzeichnen: Der Zenit wurde 2011 erreicht, als sich 24 von 28 Mitgliedsstaaten (darunter auch Österreich) in einem Defizitverfahren befanden. Die Dominanz neoliberaler Ideen führte zu einem Stakkato an verschärfenden Maßnahmen in den Folgejahren: So wurde der SWP durch zwei Legislativpakete, den Sixpack (2011) sowie den Twopack (2013), verschärft und der Fiskalpakt (2012) als internationaler Vertrag abgeschlossen. Diese beinhalteten folgende zentrale Änderungen: 

  • Das Sanktionsregime des ÜDV wurde deutlich verschärft und Geldbußen als Regelsanktion anstelle unverzinslicher Einlagen vorgesehen. Sanktionen für Mitgliedsländer der Eurozone wurden erweitert: Im Falle schwerer Verstöße gegen den SWP ist eine unverzinsliche Einlage in Höhe von 0,2 % des BIP vorgesehen.  Bei unzureichenden Maßnahmen zur Defizitbehebung können Sanktionen in Höhe von 0,2 % des BIP verhängt werden.
  • Das Europäische Semester wird als jährlicher Koordinierungs- und Überwachungszyklus eingeführt. So sind zwei Mal jährlich Anfang April und Anfang Oktober Daten zu Defizit und Schuldenstand an die EU-Kommission zu melden. Euro-Länder hatten Stabilitätsprogramme, Nicht-Euro-Länder Konvergenzprogramme an die Kommission zu übermitteln. Diese wurden jetzt vom neuen Fiskalstrukturplan abgelöst.
  • Ein eigener Passus wurde Sanktionen im Falle der Manipulation von Daten gewidmet, die ebenfalls bis maximal 0,2 % des BIP erreichen können, wenn Daten zu Defizit und Schuldenstand absichtlich oder durch schwerwiegende Nachlässigkeit falsch dargestellt werden. Hintergrund für diese Maßnahme war insbesondere, dass Griechenland jahrelang gefälschte Finanzdaten an die EU-Kommission übermittelt hatte.  
  • Die Machtfülle der EU-Kommission als Exekutive wurde im Zuge dieser Novellierungen ausgebaut: Wenn die Kommission dem Rat eine Empfehlung über einen solchen Beschluss vorlegt, braucht es eine qualifizierte Mehrheit des Rates, um den Beschluss abzulehnen (umgekehrte qualifizierte Mehrheit). 
  • Mit dem Fiskalpakt verpflichten sich die Vertragsparteien, die Schuldenregeln in nationales Recht umzusetzen. Die Automatizität des ÜDV soll durch Koppelung an den Fiskalpakt erhöht werden. In diesem ist auch vorgesehen, dass Empfehlungen der Kommission zur Eröffnung eines ÜDV beim Überschreiten der 3% Defizitgrenze unterstützt werden sollen, sofern sich nicht eine qualifizierte Mehrheit der Euroländer dagegen ausspricht
  • Durch den Twopack werden schließlich zusätzliche Maßnahmen bei Vorliegen eines ÜDV verlangt: So müssen Länder im ÜDV zusätzliche Wirtschaftspartnerschaftsprogramme vorlegen. Diese enthalten politische Maßnahmen und strukturelle Reformen, die „eine wirkliche und dauerhafte Korrektur des übermäßigen Defizits sicherstellen und das den Empfehlungen des Rates über die Umsetzung der integrierten Leitlinien für die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik des betroffenen Mitgliedsstaates umfassend Rechnung tragen“ (Art 9 (1) VO (EU) Nr. 473/2013). 
  • Des Weiteren sind umfassende Berichtspflichten im Zuge des ÜDV zu Haushaltsvollzug und gesetzten Maßnahmen vorgesehen (Art. 10). Die Kommission kann laut Verordnung direkt öffentliche Empfehlungen an den Mitgliedsstaat stellen, über deren Umsetzung der Mitgliedsstaat in der Folge zu berichten hat. 

Die hochkontrovers diskutierten Verschärfungen des EU-Fiskalrechts konnten teils nur durch Rechtsbiegung vorgenommen werden: Einerseits durch Flucht aus dem Europarecht beim Fiskalpakt mit dem Abschluss in Form eines internationalen Vertrags und andererseits durch rechtswidrige Einpressung von Sekundärrecht in die Europäischen Verträge, indem sekundärrechtliche Verordnungstexte Sanktionen und Kommissionsbefugnisse festschreiben, die das Primärrecht in Art. 121 AEUV, dem präventiven Arm des SWP, nicht vorsieht.

Das Defizitverfahren in Zeiten multipler Krisen

Die dritte Welle an ÜDV setzte schließlich 2024 ein. Nachdem die EU-Kommission im Zuge der Corona-Pandemie und des Angriffskriegs gegen die Ukraine ein Abweichen von den Haushaltsanforderungen ermöglicht hatte, indem die allgemeine Ausweichklausel des SWP bis Ende 2023 aktiviert wurde, wurden im Sommer 2024 Verfahren gegen sieben Mitgliedsstaaten eröffnet. Dazu kommt das seit 2020 laufende Verfahren gegen Rumänien

Die jüngsten Änderungen der wirtschaftspolitischen Steuerung – inklusive Änderungen am ÜDV –  traten nur wenige Wochen zuvor in Kraft: Während das Verfahren beim Überschreiten der 3 %-Defizitgrenze weitgehend unangetastet blieb, wurden Änderungen beim Überschreiten des öffentlichen Schuldenstands von 60 % vorgenommen. Mit den neu eingeführten Fiskalstrukturplänen, die Nettoausgabenpfade enthalten, führt die Kommission Kontrollkonten ein, die Abweichungen von den Ausgabenpfaden festhalten. Bei allen Mitgliedsstaaten mit einem öffentlichen Schuldenstand von mehr als 60 %, die künftig negative Abweichungen in einem gewissen Ausmaß von ihren Kontrollkonten zu verzeichnen haben, erstellt die Kommission automatisch einen Erstbericht zur Evaluierung, ob ein schuldenbasiertes ÜDV zu eröffnen ist. Damit soll dem schuldenbasierten ÜDV ein größeres Gewicht zukommen. Wie sich diese Änderungen auswirken, wird sich erst zeigen.

Wie dehnbar – wenn politisch gewünscht – die Einhaltung der Regeln weiterhin ist, zeigt wiederum eine Mitte März 2025 veröffentlichte Mitteilung der Kommission. In dieser wird den Mitgliedsstaaten zugesagt, erhebliche Ausnahmen von den EU-Fiskalregeln für Verteidigungsausgaben über die nationale Ausweichklausel zu ermöglichen.  Bis dato haben 12 Mitgliedsstaaten angekündigt, von der nationalen Ausweichklausel Gebrauch zu machen und damit von ihrem im Fiskalstrukturplan festgelegten Nettoausgabenpfad bzw. vom Korrekturpfad im Rahmen des Defizitverfahrens abzuweichen.

Die Schattierungen von Sanktionen

Trotz all der angeführten Verschärfungen der Fiskalregeln kam es bisher nie zur formalen Sanktionierung eines Mitgliedsstaats. Zuletzt kamen im Jahr 2016 Spanien und Portugal einer Sanktionierung nahe: Die EU-Kommission hatte beiden Ländern Sanktionen in Aussicht gestellt, weil die Länder nicht die laut Kommission erforderlichen Maßnahmen getroffen hatten, um ihr übermäßiges Defizit zu korrigieren. Schlussendlich entschied die Kommission jedoch, beiden Ländern mehr Zeit zu geben und neue fiskalische Referenzpfade vorzulegen. Dies auch vor dem Hintergrund, dass der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nur wenige Wochen zuvor offen bekannt gab, die EU-Fiskalregeln gegenüber Frankreich weniger strikt anzuwenden, „weil es Frankreich ist“ (because it is France). 

Nicht zu unterschätzen ist die Wirkung „negativer Sanktionen“: Dabei werden Förderungen der EU an Konditionalitäten gekoppelt, deren Nichteinhaltung das Aussetzen der Förderung bewirkt. Dieses Werkzeug, welches ursprünglich als Element auswärtiger Politik eingesetzt wurde, etwa wenn Entwicklungshilfen an Drittländer vergeben wurden, kam von Anfang an auch bei der Gründung der Währungsunion in Form der makroökonomischen Konditionalität zur Anwendung: 1994, als der Kohäsionsfonds eingerichtet wurde, war darin die Aussetzung finanzieller Unterstützung vorgesehen, wenn Mitgliedsstaaten ihre übermäßigen Defizite nicht fristgerecht behoben. Den Weg der Koppelung an makroökonomische Konditionalitäten beschreitet die EU-Kommission in den letzten Jahren verstärkt. So wird etwa die Vergabe von Geldern aus den bestehenden Kohäsionsfonds und aus der bis 2026 laufenden Aufbau- und Resilienzfazilität an Konditionalitäten im Bereich der wirtschaftspolitischen Steuerung gekoppelt. Damit wird auch versucht, nicht-verbindliche Empfehlungen in Bereichen, die der Kompetenz der Nationalstaaten unterliegen, wie etwa Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, sanktionsbewehrt auszugestalten. So wird die Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedsstaaten zu Ungunsten der Letztgenannten perforiert und in Verbindung mit dem der EU-Kommission zustehenden Ermessensspielraum unerwünschte Kompetenzgraubereiche geschaffen.

Was aus Kommissionssicht förderlich für die Einhaltung der EU-Fiskalregeln ist, ist nicht zwangsläufig förderlich für jene Bereiche, die durch die Konditionalitätenregelung mit der wirtschaftspolitischen Governance verknüpft werden. Dies gilt insbesondere auch für Kohäsionsmittel, mit denen – aus gutem Grund - benachteiligte Regionen in der EU gefördert werden sollen und denen Gelder gestrichen werden können, wenn die Zentralregierung Haushaltsvorgaben der EU nicht einhält. Mit der Androhung des Vorenthaltens von Fördermitteln hat die EU-Kommission ein potenziell mächtiges Werkzeug zur Verfügung. Hierauf ist auch bei der künftigen Ausgestaltung von Fördertopfen zu achten, denn Konditionalitäten sind nicht gleich Konditionalitäten. Die begrüßenswerte Einhaltung der primärrechtlich verankerten Charta der Grundrechte ist etwa als grundlegende Voraussetzung für die Vergabe von Fördermitteln nicht gleichzusetzen mit der Einhaltung makroökonomischer Konditionalitäten, die die Auszahlung von Fördermitteln an die Umsetzung der (nicht-verbindlichen) Länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des EU-Semesters koppeln. 

Ausblick

Wenn demnächst das EU-Defizitverfahren über Österreich eröffnet wird, ist es damit nicht alleine: Acht weitere Mitgliedsstaaten befinden sich derzeit in einem ÜDV und auch bei einigen weiteren Ländern überlegt die EU-Kommission, ein solches zu eröffnen. Mit der Eröffnung des Verfahrens kommen viele Berichtspflichten und ein enger Austausch mit der EU-Kommission auf Österreich zu: Die Vielzahl an EU-Sekundärrechtsakten, die hierzu Vorschriften machen, bewirken eine hohe Komplexität des ÜDV. Zudem ist noch nicht in allen Bereichen klar, wie das Zusammenspiel zwischen dem ÜDV als korrektivem Arm mit den neuen Regeln zum Fiskalstrukturplan als präventivem Arm Hand in Hand gehen. Formale Sanktionen der EU braucht Österreich – wie die Vergangenheit auch zeigt – indes keine zu befürchten.

Dessen ungeachtet bleibt die allgemeine Kritik an den EU-Fiskalregeln auch in Zeiten dringend nötiger Budgetsanierung bestehen: Eine einseitige Ausrichtung auf Budgetdisziplin vernachlässigt wesentliche andere Ziele wie Wohlergehen, Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt. Die durchaus widersprüchlichen Entwicklungen bei den Fiskalregeln, die chronologisch nicht linear Auflockerungen sowie Verschärfungen mit sich brachten, heben den politisch hoch umstrittenen Charakter derselben hervor. Insgesamt nahm die Machtfülle der EU-Kommission als nicht gewähltem Exekutivorgan zu, während dem demokratisch legitimierten EU-Parlament im gesamten Prozess keine Mitentscheidungsrechte zukommen. Diese Entwicklung stimmt bedenklich. Aus der Tatsache, dass noch nie Sanktionen im Rahmen des ÜDV verhängt wurden, darf nicht auf deren Wirkungslosigkeit geschlossen werden: Gerade in Bezug auf Länder, die sich über einen langen Zeitraum in einem ÜDV befanden oder befinden (Ungarn führt hier das Ranking mit einem ÜDV von 2004-2013 an), stellt die Androhung von Sanktionen oder dem Entzug von Fördermitteln gekoppelt mit Vorgaben zu Strukturreformen ein potenziell wirkmächtiges Instrument dar, das stark auf nationale Handlungsspielräume einwirkt.

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