Neue Publikation: EU-Industriepolitik zwischen doppelter Transformation und Aufrüstung
Die erneute Hinwendung der EU zur Industriepolitik birgt die Gefahr, dass Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit Vorrang vor sozialer Gerechtigkeit und Klimaschutz erhalten – doch eine progressive Agenda ist weiterhin möglich.
Autor: Werner Raza
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Renaissance der Industriepolitik
Nach Jahrzehnten der Marginalisierung ist die Industriepolitik mit bemerkenswerter Kraft auf die politische Agenda der Europäischen Union zurückgekehrt. Während diese Verschiebung im wirtschaftlichen Diskurs grundsätzlich zu begrüßen ist, müssen Progressive dringend die grundlegenden Fragen untersuchen, die diese Renaissance vorantreiben: Warum sollte Industriepolitik betrieben werden, wie sollte sie funktionieren und – ganz entscheidend – wer profitiert davon? Welche Motive liegen diesen Initiativen zugrunde? Welche Ziele haben Priorität? Wer sitzt am Entscheidungstisch und wer trägt die Verantwortung für die Umsetzung?
Diese Fragen haben ÖFSE (Österreichische Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung) und AK Wien in einem gemeinsamen Projekt untersucht. Jüngst ist dazu ein von Werner Raza, Christa Schlager, Viktor Skyrman und Michael Soder herausgegebenes digitales Buch mit kurzen und politikorientierten Beiträgen erschienen. Die Beiträge behandeln: (i) die externen Abhängigkeiten der EU bei Energie, kritischen Rohstoffen und grünen bzw. digitalen Technologien, (ii) die beschäftigungspolitischen Herausforderungen, (iii) institutionelle Herausforderungen und Defizite, sowie (iv) Finanzierungsfragen einer EU-Industriepolitik. Alle Beiträge verfolgen das Ziel, die Gestaltung einer industriepolitischen Agenda voranzutreiben, welche die grüne und digitale Transformation (auch bekannt als doppelte Transformation) wirksam fördert und gleichzeitig soziales Gleichgewicht und demokratische Legitimität gewährleistet.
Von der grünen und digitalen Transformation zu Deregulierung und Aufrüstung?
Die aktuellen industriepolitischen Maßnahmen der Europäischen Union sind ursprünglich aus zwei existenziellen Herausforderungen entstanden: der Klimakrise und der digitalen Revolution. In jüngster Zeit haben jedoch die Krise der liberalen internationalen Ordnung und die sich verschärfenden Rivalitäten zwischen den Großmächten – insbesondere den Vereinigten Staaten und China – sowie der Krieg in der Ukraine dazu geführt, dass die europäischen Entscheidungsträger:innen einen zunehmend geopolitischen Ansatz in der Wirtschaftspolitik verfolgen. Sicherheitsüberlegungen überschatten nun die grüne und soziale Agenda.
Dieser Wandel droht Initiativen wie den Europäischen Grünen Deal, die wichtigen Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEIs) und zahlreiche in den letzten fünf Jahren entwickelte Maßnahmen der Mitgliedstaaten grundlegend zu verändern. Die Besorgnis über die schwache Dynamik der EU-Wirtschaft und ihren technologischen Rückstand gegenüber den USA und China – umfassend analysiert im Draghi-Bericht – hat die neue Europäische Kommission dazu veranlasst, die Debatte wieder auf die Förderung der globalen Wettbewerbsfähigkeit der EU zu konzentrieren. Während diese Programme in der Regel in enger Zusammenarbeit mit der Wirtschaft entstehen, werden die Interessen anderer Akteur:innen – insbesondere der Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft – weit weniger berücksichtigt. Letztere fordern zurecht eine stärkere Rolle im politischen Prozess in Brüssel.
Besonders besorgniserregend ist, dass die neue Kommission durch die Priorisierung der Wettbewerbsfähigkeit offenbar beabsichtigt, sich von ihrer Sozial- und Umweltagenda zurückzuziehen. Aufrüstung, die sogenannte wirtschaftliche Sicherheit und die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit werden zu den zentralen Motivationen für die künftige Industriepolitik. Dazu verfolgt die Kommission eine radikale Deregulierungsagenda mit Schwerpunkt auf der Schleifung von wichtigen sozialen und ökologischen Schutzvorschriften, etwa dem EU-Lieferkettensorgfaltsgesetz (EU-CS3D) und der EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (EU-CSRD). Die Industriepolitik der EU befindet sich somit an einem kritischen Punkt, und droht in die falsche Richtung gelenkt zu werden.
Vorschläge für eine progressive Agenda
Das erwähnte Buch enthält Vorschläge für eine progressive industriepolitische Agenda zur Förderung der doppelten Transformation, sowohl für die Europäische Union als auch in globaler Perspektive. Dazu gehören die Nutzung ausländischer Direktinvestitionen für die Diversifizierung der Produktion, der Aufbau regionaler Produktionsnetzwerke und stärkerer regionaler Finanzierungsstrukturen, die Gewährleistung der digitalen Souveränität und die Stärkung der institutionellen Kapazitäten für die Industriepolitik.
Das abschließende Kapitel fasst alle Beiträge zusammen und schlägt eine progressive Agenda für die EU-Industriepolitik vor, die auf sechs Säulen basiert: (1) Verbesserung der Beteiligungsmöglichkeiten; (2) Gewährleistung einer fairen Verteilung von Nutzen und Kosten; (3) Beschleunigung der doppelten Transformation; (4) Förderung eines Governance-Rahmens mit mehr Kapazitäten und Fähigkeiten; (5) Schließung der Finanzierungslücke; und (6) Vertiefte Zusammenarbeit mit Partnern im Globalen Süden.
Klar ist: die demokratische Politik in der EU steht an einem Scheideweg. Die Verwendung öffentlicher Gelder und der Industriepolitik für die militärische Aufrüstung bei gleichzeitiger Deregulierung, Kürzung der Sozialausgaben und Verschleppung der grünen Transformation wird weder zukunftsfähiges Wirtschaftswachstum noch gute Beschäftigung bringen. Stattdessen wird dieser Weg die ökologische Krise und die sozialen Ungleichheiten verschärfen und geopolitische Konflikte womöglich anheizen. Ein solcher Ansatz spielt letztlich dem autoritären Populismus in die Hände. Die Industriepolitik in der EU sollte stattdessen ein neues Wirtschaftsmodell fördern, das sowohl dem Planeten als auch den Menschen dient. Sich in die Diskussion um ihre strategische Ausrichtung für die kommenden Jahre einzubringen, ist gerade jetzt besonders wichtig.
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Werner Raza, Christa Schlager,
Viktor Skyrman, Michael Soder
Industrial Policy In The European Union –
Towards A Progressive Agenda
ÖFSE/Social Europe, 2025
Das digitale Buch „Industrial Policy in the European Union“ bietet Ansätze für eine industriepolitische Agenda und kann hier abgerufen werden.
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