Der EU-Ausschuss für Regulierungskontrolle: Ein unscheinbares Gremium mit großem Einfluss auf die EU-Gesetzgebung
Eines ist unbestritten: Die EU-Gesetzgebung ist ein komplexer Prozess an dem verschiedene EU-Institutionen und Akteur:innen beteiligt sind. Die Europäische Kommission (EK) legt einen Gesetzesvorschlag vor, der dann im Europäischen Parlament und im Rat der EU verhandelt und schließlich verabschiedet wird. Kaum bekannt ist jedoch die Tatsache, dass es ein Gremium nicht-gewählter Vertreter:innen innerhalb der Kommission gibt, das einen wesentlichen Einfluss auf Gesetzesvorlagen ausüben kann.
Autorin: Brigitte Pircher
Diesen Artikel downloadenAusschuss bei allen wichtigen Gesetzesvorschlägen involviert
Dieser Ausschuss, im Englischen Regulatory Scrutiny Board (RSB) genannt, wurde im Rahmen der EU-Agenda zur „besseren Rechtsetzung“ im Jahr 2015 von der EK als Überwachungsgremium geschaffen. Seine Hauptaufgabe besteht darin, die Qualität von Entwürfen zu Folgenabschätzungen, Eignungsprüfungen (‚fitness checks‘) und wichtigen Evaluierungen innerhalb der Kommission zu bewerten. Alle wichtigen Gesetzesvorschläge werden von solchen Berichten begleitet und das RSB gibt hierzu Stellungnahmen und Empfehlungen ab. Damit ist dieses Gremium in jeden Schritt des Politikprozesses involviert.
Die Stellungnahmen des RSB haben einen potenziell weitreichenden Einfluss. Wenn das Gremium eine negative Stellungnahme zu einem Entwurf erstellt, muss dieser von den Diensten der Kommission überarbeitet und erneut dem RSB vorgelegt werden. Im Falle einer zweiten negativen Stellungnahme durch das Gremium, kann nur der für Interinstitutionelle Beziehungen und Vorausschau zuständige Vizepräsident der EU-Kommission darüber entscheiden, ob der Vorschlag dem Kommissionskollegium vorgelegt und damit weiterverfolgt werden soll oder nicht. Folglich besitzt das RSB eine De-facto-Vetoposition im legislativen Prozess.
Trotz dieser mächtigen Position ist das RSB weitgehend unbekannt. So bleiben die Arbeitsweisen des Gremiums und dessen Einfluss auf die EU-Gesetzgebung intransparent. Während viele Akteur:innen – auch auf EU-Ebene – lange wenig oder gar nichts über das RSB wussten, änderte sich das schlagartig bei den Verhandlungen zum Lieferkettengesetz. Mit einem Mal kam das RSB in der öffentlichen Debatte an und wurde stark politisiert. Aber wer „versteckt“ sich eigentlich hinter dem recht sperrigen Namen?
Die Expert:innen des RSB
Das RSB wurde als unabhängiges Überwachungsorgan innerhalb der EK gegründet. Da jedoch die Hälfte der Mitglieder und der Vorsitzende aus der Kommission selbst kommen, kann es bestenfalls als semi-unabhängig klassifiziert werden. Aktuell setzt sich das RSB aus nur sechs Expert:innen zusammen (drei interne und zwei externe Mitglieder sowie ein Vorsitzender). Vorgesehen wäre eigentlich eine Anzahl von neun Mitgliedern. Die aktuelle Zusammensetzung des RSB benachteiligt Frauen (nur zwei von sechs Mitgliedern sind weiblich) und hat einen Überhang an Mitgliedern mit einer ökonomischen Ausbildung.
Die Expert:innen im RSB sollen eine umfangreiche Expertise in den Bereichen Makroökonomie, Mikroökonomie, oder Sozial- und Umweltpolitik haben und arbeiten Vollzeit für das Board für einen Zeitraum von drei Jahren, mit der Möglichkeit einer Verlängerung um ein weiteres Jahr. Das Board wird außerdem von drei Assistent:innen unterstützt. Die Mitglieder obliegen einem strengen Verhaltenskodex sowie Regeln der Vertraulichkeit und Regeln im Hinblick auf Interessenkonflikte. Zum Beispiel werden Mitglieder angewiesen, unabhängig zu handeln, sich eine eigene Meinung zu bilden und darauf zu achten, „keine Anweisungen zu suchen oder entgegenzunehmen“. Da ein derartiges Board mit Elite-Expert:innen und breit angelegten Kompetenzen innerhalb der Kommission anfällig für Einflüsse oder Lobbyarbeit verschiedener Akteur:innen ist, sind die Mitglieder dazu verpflichtet, die höchsten Standards für Ethik und Verhalten einzuhalten. Die Entscheidungen und Meinungen des RSB werden nach dem Prinzip der kollektiven Verantwortung verabschiedet.
Sozial- und Umweltgesetze besonders von negativen Stellungnahmen betroffen
Das RSB veröffentlicht Berichte und Stellungnahmen zu den Entwürfen der Folgenabschätzungen und Evaluierungen sowie Jahresberichte. Basierend auf den verfügbaren Berichten für die Jahre 2016 bis 2021 ergeben sich einige interessante Erkenntnisse, die im Folgenden näher beschrieben werden. In diesem Zeitraum hat das RSB insgesamt 314 Entwürfen zur Folgenabschätzung überprüft (siehe Grafik). Die Anzahl hat jedoch von Jahr zu Jahr erheblich variiert. Die produktivsten Jahre waren 2018 und 2021. Im Jahr 2018 erstellte das RSB 76 Stellungnahmen, während die größte Anzahl im Jahr 2021 mit insgesamt 83 Fällen erreicht wurde. Dies war auch das Jahr, in dem das RSB die meisten negativen Stellungnahmen (insgesamt 31) sowie die meisten zweiten negativen Stellungnahmen (insgesamt vier) abgegeben hat. Insgesamt kann gesagt werden, dass Im Schnitt 39% der Stellungnahmen des RSB negativ ausfallen.
Bei Betrachtung aller neun zweitnegativen Stellungnahmen von 2016 bis 2021, zeigt sich, dass sich die Mehrheit (insgesamt sechs) auf den Bereich der Umwelt- und Sozialgesetzgebung beziehen. Zwei dieser Gesetzesvorschläge zielen darauf ab, die Geschlechterrechte in Europa zu stärken: die Initiative zur Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen und die Initiative zur Verhinderung geschlechtsbasierter Gewalt. In beiden Fällen wurde kritisiert, dass die Verhältnismäßigkeit nicht ausreichend dargelegt und eine unzureichende Kosten-Nutzen-Analyse gemacht worden sei. Nachdem die sogenannte „better regulation toolbox“– das Instrument für den RSB zur Bewertung einer Folgenabschätzung – mehrheitlich aus der Tradition der „besseren Rechtsetzung“ kommt und vorrangig ökonomische Kriterien beinhaltet, kann jedoch genauso argumentiert werden, dass wirtschaftliche Kriterien oft ungeeignet sind, um Sozial- und Umweltaspekte zu bewerten. Nachdem es nach zwei negativen Stellungnahmen eine Entscheidung im Kollegium der Kommission braucht, kann es dadurch zu erheblichen Verzögerungen für diese Gesetze kommen. Damit wird deutlich, dass der De-facto-Veto-Position des RSB dem Gremium eine zu einflussreiche Rolle beim Ausarbeiten von Gesetzesvorschlägen zukommt.
Während diese Beispiele jedoch kaum in der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit dem RSB diskutiert wurden, ist das RSB in anderen gesetzgeberischen Beispielen (wie dem Lieferkettengesetz) stark debattiert, kritisiert und politisiert worden.
Die Rolle des RSB anhand ausgewählter Beispiele
Während einige Forschungsarbeiten argumentieren, dass das RSB zu einer besseren Regulierung beiträgt und als „aktiver Wachhund“ fungiert, gibt es vermehrt Bedenken darüber, dass die negativen Stellungnahmen des RSB zugunsten großer Industrien ausfallen und somit zu einer Beeinflussung der Entscheidungsfindung führen können.
Das beste Beispiel dafür ist der Entscheidungsprozess zur Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit, auch bekannt unter dem Namen „Lieferkettengesetz“. Die Richtlinie zielt darauf ab, nachhaltiges und verantwortungsvolles Verhalten von Unternehmen entlang globaler Wertschöpfungsketten zu fördern. So sollen sich Unternehmen dazu verpflichten, negative Auswirkungen ihrer Aktivitäten auf die Umwelt und/oder auf die Menschenrechte zu identifizieren, zu verfolgen, zu beenden und zu verhindern. Im November 2021 hat das RSB zum Entwurf der Folgenabschätzung dieses Gesetzes eine zweite negative Stellungnahme erstellt mit der Begründung, dass die Problemdefinition und die Verhältnismäßigkeit unklar seien, es an Beweisen mangele, dass Unternehmen in Europa nicht ohnehin schon die geforderten Anforderungen erfüllen würden und dass die Auswirkungen des Gesetzes nicht ausgewogen und neutral bewertet worden seien. Im Zuge der Entscheidungsfindung innerhalb der Kommission kam es zu Lobbykontakten zwischen der Industrie und dem RSB. Ziel der Industrie war es dabei, freiwillige statt gesetzlich verpflichtende Maßnahmen bei der Umsetzung des Gesetzes sicherzustellen und damit potenziell ehrgeizige Sozial- und Umweltziele zu untergraben. Das Gesetz wurde am Ende sehr abgeschwächt angenommen, wodurch die meisten Unternehmen in Europa nun von dem Gesetz ausgenommen sind. Zur Rolle des RSB kann gesagt werden, dass es zur Politisierung beigetragen hat. Aus demokratiepolitischer Sicht sollte ein Board mit Expert:innen innerhalb der Kommission nicht Teil einer solchen Politisierung und Polarisierung sein.
Sowohl das Lieferkettengesetz als auch das Beispiel des Rechts auf Reparatur zeigen weiterhin auf, dass der Entscheidungsfindungsprozess innerhalb der EK bis zum Kommissionsvorschlag und damit auch die Hauptarbeit und Tätigkeiten des RSB intransparent sind. Weder den Gesetzgeber:innen noch der Öffentlichkeit liegen diese Dokumente vor und der Zugang zu diesen wird nicht gewährleistet. Aufgrund der fehlenden Transparenz finden derzeit auch zwei laufende Untersuchungen durch die Europäische Ombudsstelle statt.
Die Rolle des RSB kann auch in anderen Beispielen, wie der Richtlinie zu den Mindestlöhnen oder der Work-Life Balance Richtlinie, kritisiert werden. Auch hier gab es negative Stellungnahmen des RSB in denen das Gremium Positionen gewisser Mitgliedsstaaten vertreten hat, die später im Rat der EU diskutiert wurden.
Was kann getan werden?
Basierend auf einer Analyse der offiziell verfügbaren RSB-Dokumente, zahlreicher Dokumente der Kommission, von Zeitungsartikeln, Berichten von Interessengruppen und NGOs sowie sieben Eliteinterviews, ergeben sich vier konkrete Politikempfehlungen für den RSB. Erstens sollte die Agenda für bessere Rechtssetzung und die RSB-Toolbox erneut im Lichte der derzeit hohen Nachhaltigkeitsziele der aktuellen EU-Kommission unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen evaluiert werden. Um höhere Sozial- und Umweltstandards zu gewährleisten, ist oft eine „smartere“ und nicht weniger Regulierung erforderlich. Anstatt sich auf arithmetische Grundsätze wie das „One In, One Out“-Prinzip zu konzentrieren, sollten Folgenabschätzungen stärker langfristige Auswirkungen auf die Gesellschaft berücksichtigen. Zweitens soll nicht zwischen positiven und negativen Stellungnahmen unterschieden werden. Die Möglichkeit des RSB eine zweite negative Stellungnahme abzugeben, fördert die Politisierung des EU-Gesetzgebungsprozesses. Drittens soll die De-facto-Vetomacht des RSB abgeschafft werden, da zweite negative Stellungnahmen dazu neigen, den Gesetzgebungsprozess zu verzögern und die Polarisierung unter den politischen Entscheidungsträger:innen zu verstärken. Viertens soll die EK größere Transparenz und den erleichterten Zugang zu den RSB-Dokumenten gewährleisten. Das RSB fördert aufgrund seiner Struktur die Politikgestaltung hinter verschlossenen Türen und lässt öffentliche Rechenschaftspflicht vermissen. Darüber hinaus lassen Struktur und Prioritäten des RSB vermuten, dass es möglicherweise einen parteiischen Einfluss ausübt. Die aufgeworfenen Probleme des RSB zeigen, dass ein grundsätzliches Überdenken der Arbeit des RSB notwendig ist.
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Brigitte Pircher
The EU's Commission Regulatory Scrutiny Board:
Better regulation or biased influence on legislation?
Die Studie ist hier abrufbar.
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