Die Europäische Mindestlohn-Richtlinie: Paradigmenwechsel für ein soziales Europa
Mit der Verabschiedung der „Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union“ durch den Rat der EU am 4. Oktober 2022 wurde Geschichte geschrieben. Zum ersten Mal überhaupt wurde eine EU-Rechtsvorschrift mit dem expliziten Ziel erlassen, angemessene Mindestlöhne zu garantieren und nationale Tarifvertragssysteme zu stärken. Die Mindestlohn-Richtlinie gehört daher zu den wichtigsten arbeits- und sozialpolitischen Maßnahmen, die bislang auf europäischer Ebene verabschiedet wurden.
Autoren: Torsten Müller und Thorsten Schulten
Diesen Artikel downloadenZielsetzung der Europäischen Mindestlohn-Richtlinie
Das explizite Ziel der Mindestlohn-Richtlinie besteht in der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Europäischen Union durch die Förderung von angemessenen Mindestlöhnen und die Stärkung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung, um dadurch Lohnungleichheit sowie Erwerbsarmut zu bekämpfen. Bemerkenswert ist an dieser Zielsetzung insbesondere das Bekenntnis zur Förderung von Tarifverhandlungen. Damit wird der ursprünglich sehr enge Fokus der Gesetzesinitiative auf gesetzliche Mindestlöhne um eine starke tarifpolitische Komponente erweitert.
Bei der Mindestlohn-Richtlinie geht es ausdrücklich nicht um die Festlegung eines europaweit einheitlichen Mindestlohnniveaus, sondern um die Vorgabe bestimmter Kriterien, um angemessene Mindestlöhne auf nationaler Ebene sicherzustellen. Artikel 5(2) nennt vier Kriterien, die die Mitgliedstaaten bei der Festsetzung gesetzlicher Mindestlöhne berücksichtigen sollen:
- (a) die Kaufkraft des Mindestlohns unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten;
- (b) das allgemeine Niveau der Löhne und ihre Verteilung;
- (c) die Wachstumsrate der Löhne sowie
- (d) langfristige nationale Produktivitätsniveaus und -entwicklungen.
Die Mitgliedstaaten können jedoch frei entscheiden, welches relative Gewicht sie den einzelnen Kriterien beimessen.
Doppelte Angemessenheitsschwelle
Die wichtigste Bestimmung für die Festlegung gesetzlicher Mindestlöhne findet sich jedoch in Artikel 5(4). Dieser besagt, dass sich die Mitgliedstaaten bei der Beurteilung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne von indikativen Referenzwerten leiten lassen sollen und dabei zu diesem Zweck international übliche Referenzwerte wie 60 Prozent des Brutto-Medianlohns und 50 Prozent des Brutto-Durchschnittslohns verwenden können. Damit legt die Richtlinie de facto eine doppelte „Angemessenheitsschwelle“ fest. Diese ist zwar nicht rechtsverbindlich, formuliert aber einen starken normativen Maßstab für die Festlegung von Mindestlöhnen auf nationaler Ebene, dem sich die Mitgliedstaaten nur schwer entziehen können.
In der Praxis beeinflusst die doppelte Angemessenheitsschwelle bereits heute in einigen Ländern die Diskussion über die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns. In Deutschland, zum Beispiel, wurde die am 1. Oktober 2022 erfolgte Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde auch damit begründet, dass sich hierdurch der Mindestlohn deutlich einem Niveau von 60 Prozent des nationalen Medianlohns annähert. In Irland hat die Regierung angekündigt, in den nächsten vier Jahren den Mindestlohn schrittweise auf ein Living-Wage-Niveau anzuheben, das 60 Prozent des irischen Medianlohns entspricht. In Belgien verkündete der Arbeitsminister, dass der belgische Mindestlohn nicht den europäischen Normen entspreche und, um die Zielmarke von 60 Prozent des Medianlohns zu erreichen, nun auf 12 Euro pro Stunde angehoben werden müsse. In den Niederlanden forderte der Gewerkschaftsbund FNV die Regierung auf, den Mindestlohn auf 14 Euro pro Stunde zu erhöhen, um die Vorgaben der europäischen Mindestlohn-Richtlinie zu erfüllen. Würden alle EU-Mitgliedsstaaten ihre gesetzlichen Mindestlöhne entsprechend der doppelten Angemessenheitsschwelle anheben, so könnten nach Berechnungen der Europäischen Kommission EU-weit bis zu 25 Millionen Beschäftigte hiervon profitieren.
Stärkung der Tarifbindung
Im Hinblick auf die Stärkung von Tarifverhandlungen wird in der Richtlinie (Artikel 4.2) ein Referenzwert für eine angemessene Tarifbindung festgelegt. Danach werden alle Mitgliedsstaaten, in denen weniger als 80 Prozent der Beschäftigten tarifgebunden sind, verpflichtet, Maßnahmen zur Förderung von Tarifverhandlungen zu ergreifen und diese in konkreten Aktionsplänen mit klaren Zeitplänen niederzulegen. Die Pläne sind in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zu entwickeln, regelmäßig zu überprüfen und mindestens alle fünf Jahre zu aktualisieren.
Nach Angaben der OECD/AIAS ICTWSS-Datenbank liegt die Tarifbindung derzeit in 19 von 27 EU-Staaten unterhalb der 80-Prozent-Marke. Mit der Implementierung der Mindestlohn-Richtlinie in nationales Recht ist daher die große Mehrzahl der EU-Mitgliedsstaaten gefordert, konkrete Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung zu ergreifen. Die Richtlinie nennt hier u.a. die Förderung von Tarifverhandlungen auf Branchenebene, die stärkere Ahndung von gewerkschaftsfeindlichem Verhalten (sog. „Union Busting Praktiken“) und die Unterstützung der Tarifvertragsverbände. Hinzu kommt die explizite Aufforderung an den Staat, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen das Kriterium der Tariftreue und die Einhaltung tarifvertraglicher Grundrechte zu berücksichtigen.
Inwieweit die Mindestlohn-Richtlinie tatsächlich dazu beitragen kann, die Tarifbindung auf nationaler Ebene zu fördern, hängt davon ab, ob relevante politische Akteuer:innen in der Lage sind, entsprechend geeignete Maßnahmen durchzusetzen. Mit dem in der Mindestlohn-Richtlinie vorgesehenen europäischen Monitoring-Prozess und den damit einhergehenden permanenten Vergleichen zwischen den EU-Staaten wird die Position derjenigen nationalen Akteur:innen unterstützt, die für eine Stärkung der Tarifvertragssysteme eintreten. Je mehr Länder gute Praktiken zur Förderung der Tarifbindung entwickeln, desto größer wird der politische Druck auf die verbleibenden Länder mit niedriger Tarifbindung.
Auswirkungen für tarifvertragliche Mindestlohnregime
Obwohl die Regeln und Kriterien für angemessene Mindestlöhne ausschließlich für Länder mit gesetzlichen Mindestlöhnen gelten, könnten sie durchaus auch die Mindestlohnregime, die bislang ausschließlich auf tarifvertraglichen Regelungen basieren, beeinflussen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel Zyperns, das eine relativ geringe Tarifbindung aufweist und bislang gesetzliche Mindestlöhne nur für einige wenige Berufsgruppen kennt. Aufgrund der hohen tarifvertraglichen Regelungslücken und eines relativ ausgeprägten Niedriglohnsektors hat die zypriotische Regierung nunmehr beschlossen, zum 1. Jänner 2023 einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, der annähernd bei 60 Prozent des Medianlohns liegen soll.
Auch in Italien wird bereits seit einigen Jahren intensiv über die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns diskutiert. Zwar ist die Tarifbindung in Italien formal sehr hoch, zugleich gibt es jedoch relevante Bereiche insbesondere in der informellen Ökonomie, die de facto durch die Tarifverträge nicht erfasst werden. Außerdem ist das tarifvertragliche Mindestlohnniveau in vielen Branchen sehr niedrig. Vor diesem Hintergrund hat die Mindestlohn-Richtlinie die Debatte über einen gesetzlichen Mindestlohn noch einmal forciert.
Anders sieht es hingegen in den skandinavischen Ländern Dänemark und Schweden aus, wo eine hohe Tarifbindung mit hohen tarifvertraglichen Mindestlöhnen von 70 Prozent des Medianlohns (und darüber hinaus) einhergeht. Der Anteil der Beschäftigten in Schweden, die zu tarifvertraglichen Mindestlöhnen unterhalb von 60 Prozent des Medianlohns arbeiten, ist demgegenüber mit weniger als einem Prozent verschwindend gering. Während der Einfluss der europäischen Mindestlohn-Richtlinie auf das Niveau der tarifvertraglichen Mindestlöhne in Dänemark und Schweden daher eher gering sein dürfte, könnte er in Zypern und Italien durchaus an Bedeutung gewinnen, indem die doppelte Angemessenheitsschwelle auch als Referenzwert für eine allgemeine Untergrenze bei tarifvertraglichen Mindestlöhnen oder gar die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns dient.
Mögliche Auswirkungen auf Österreich
Ähnliches gilt für Österreich, wo die umfassende Tarifbindung zwar eine nahezu flächendeckende sektorale Mindestlohnsicherung garantiert. Trotzdem bewegen sich in einer Reihe von Branchen – insbesondere im privaten Dienstleistungssektor – die kollektivvertraglich festgelegten Mindestlöhne auf einem eher niedrigen Niveau. Vor diesem Hintergrund haben die österreichischen Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten immer wieder einen bestimmten Mindestlohnbetrag gefordert, der in den Kollektivverhandlungen auf sektoraler Ebene durchgesetzt werden sollte.
Im Vorfeld der Herbstlohnrunde 2022 haben die österreichischen Gewerkschaften die Forderung nach einem kollektivvertraglichen Mindestlohn von monatlich 2.000 Euro brutto erhoben. Bei einer durchschnittlichen kollektivvertraglich vereinbarten Wochenarbeitszeit von 38,8 Stunden (168 Stunden pro Monat) entspricht dies einem Stundenlohn von 11,90 Euro. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass in Österreich in der Regel 14 Monatslöhne bezahlt werden, erhöht sich der entsprechende Stundenlohn sogar auf 13,88 Euro.
Mit der Verabschiedung der Mindestlohn-Richtlinie könnte einer solchen Forderung der Gewerkschaften nun zusätzlich Nachdruck verliehen werden. Zwar ist die in der Richtlinie formulierte doppelte Angemessenheitsschwelle rechtlich nicht bindend. Sie könnte aber auch für die österreichische Diskussion eine neue normative Orientierungsmarke für die Mindestlohnpolitik werden. Legt man die in der Richtlinie empfohlenen Schwellenwerte zugrunde, so lag ein angemessener Mindestlohn in Österreich im Jahr 2021 bereits bei 1.954 Euro. Die Forderung der österreichischen Gewerkschaften nach einem kollektivvertraglichen Mindestlohn von 2.000 Euro bewegt sich damit im Rahmen dessen, was in der Mindestlohn-Richtlinie als ein angemessenes Mindestlohnniveau angesehen wird.
Paradigmenwechsel für ein soziales Europa
Die Mindestlohn-Richtlinie markiert einen Paradigmenwechsel in der europäischen Arbeits- und Sozialpolitik. Über Jahrzehnte hinweg wurde die europäische Einigung von einer neoliberalen Politik der Liberalisierung dominiert. Noch vor zehn Jahren empfahl die Europäische Kommission im Kontext der großen Krise Anfang der 2010er-Jahre die Senkung von Mindestlöhnen, die Dezentralisierung von Tarifverhandlungen und die Verringerung der Tarifbindung sowie die allgemeine Schwächung des gewerkschaftlichen Einflusses auf die Lohnentwicklung als „beschäftigungsfreundliche Reformen“.
Im Vergleich dazu liest sich die Mindestlohn-Richtlinie wie ein komplettes Gegenprogramm. Angemessene Mindestlöhne und umfassende Tarifverhandlungen werden nicht mehr als Hindernis für Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum gesehen, sondern als zentrale institutionelle Voraussetzung für eine nachhaltige und inklusive Wirtschaftsentwicklung. Sie sind nicht mehr Teil des Problems, sondern Teil der Lösung.
Die Mindestlohn-Richtlinie gehört zu den wichtigsten arbeits- und sozialpolitischen Maßnahmen, die bislang auf europäischer Ebene verabschiedet wurden. Sie hat das Potenzial, zu einem wirklichen „Game-Changer“ im Kampf gegen Erwerbsarmut und soziale Ungleichheit zu werden. Dies liegt nicht nur an den in der Richtlinie festgelegten Maßnahmen, die direkt auf die Sicherung eines angemessenen (gesetzlichen) Mindestlohnniveaus abzielen, sondern vor allem auch an den festgelegten Maßnahmen zur Förderung von Tarifverhandlungen und der damit verbundenen Stärkung der institutionellen Macht der Gewerkschaften.
Die konkrete Bedeutung der Mindestlohn-Richtlinie entscheidet sich schließlich mit ihrer Umsetzung auf nationaler Ebene. Wie auch beim Prozess der Verabschiedung der Richtlinie, gibt es auch bei deren Umsetzung auf nationaler Ebene erhebliche Widerstände. Am 18. Jänner 2023 hat zum Beispiel die dänische Regierung beim Europäischen Gerichtshof eine Klage gegen das Europäische Parlament und den Rat erhoben, um die Nichtigerklärung der Mindestlohn-Richtlinie zu erreichen. Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich nicht genau sagen, wann mit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu rechnen ist. Die Verpflichtung zur Umsetzung der Richtlinie bleibt jedoch von der Klage unberührt und muss bis Oktober 2024 erfolgen. Dabei definiert die Richtlinie keine rechtlich verbindlichen Standards, sondern schafft einen wichtigen politischen Referenzrahmen, der auf nationaler Ebene diejenigen Positionen und Akteur:innen stärkt, die für angemessene Mindestlöhne und starke Tarifverhandlungen eintreten. Ihre Durchsetzung muss jedoch nach wie vor im nationalen Rahmen erkämpft werden, und zwar nicht nur in Ländern mit einem gesetzlichen Mindestlohn, sondern auch in Ländern, in denen Mindestlöhne tarifvertraglich festgelegt werden.
Diesen Artikel downloaden_______
Dieser Beitrag beruht auf dem Artikel: Müller, T. und Schulten, T. (2022): Die europäische Mindestlohn-Richtlinie – Paradigmenwechsel hin zu einem Sozialen Europa, Wirtschaft und Gesellschaft, 48. Jahrgang (2022), Heft 3, 335–365.
Kontakt
Kontakt
Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien
Abteilung EU & Internationales
Prinz Eugenstraße 20-22
1040 Wien
Telefon: +43 1 50165-0
- erreichbar mit der Linie D -