20.06.2022

Europäisches Semester 2022: Licht & Schatten 

Autor: Norbert Templ

Die Europäische Kommission (EK) hat am 23.5.2022 die Länderberichte und länderspezifischen Empfehlungen (LSE) – die wichtigsten Dokumente1 im Kontext des Europäisches Semesters – vorgelegt. In Bezug auf Österreich enthalten beide Dokumente2 positive Aspekte besonders hinsichtlich des notwendigen Ausbaus der Kinderbetreuung und Verbesserungen im Bildungssystem.

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Dass die EK im Bereich der Sozialpolitik kaum Handlungsbedarf sieht, trübt allerdings den positiven Eindruck. Das gilt auch für die Ausführungen zum Fiskalföderalismus und zum Steuersystem. Dennoch: Sowohl der Länderbericht als auch die LSE zeigen, dass die EK in ihren Analysen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Österreich zunehmend auch auf die Argumente der Arbeitnehmer:innenseite eingeht. 

Hat die Kommission dazugelernt? Für Österreich gibt es diesmal keine Empfehlung für einen Pensionsautomatismus. 

In einem Schreiben an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und zuständige Kommissare sowie in offiziellen Gesprächen mit Vertreter:innen der EK hat die Arbeiterkammer in den letzten Monaten beharrlich ihre Positionen und Forderungen in die Diskussion eingebracht und konkrete Vorschläge gemacht. Diese spiegeln sind zum Teil in den nun vorgelegten Dokumenten wider und nähren die Hoffnung, dass in der EK zumindest in Bezug auf einzelne Politikbereiche ein Umdenkprozess stattfindet. 

Rückt die EK endlich vom Pensionsautomatismus ab?

Insbesondere die Verhinderung einer neuerlichen Empfehlung zur Einführung eines Pensionsautomatismus stand im ersten Halbjahr 2022 im Fokus der interessenspolitischen Arbeit der AK im Rahmen des Europäischen Semesters. 2012 wurde Österreich erstmals von der EK empfohlen, das gesetzliche Pensionsantrittsalter im Einklang mit der steigenden Lebenserwartung anzuheben (Pensionsautomatismus). Diese Empfehlung für eine konkrete pensionspolitische Maßnahme wurde - bis auf die Jahre 2017 und 2020 - in ähnlich lautenden Formulierungen jährlich erneuert, obwohl von den jeweiligen Bundesregierungen beharrlich und unmissverständlich dargestellt wurde, dass in Hinblick auf die langfristige Sicherung des gesetzlichen Pensionssystems die Anhebung des tatsächlichen Pensionsantrittsalters im Fokus steht. Die AK hat in zahlreichen Analysen dargelegt, dass die finanzielle Nachhaltigkeit des Pensionssystems nicht gefährdet ist und die Einführung eines Pensionsautomatismus eine große soziale Ungerechtigkeit bedeuten würde. Denn zum Anstieg der Lebenserwartung ist festzustellen, dass dieser erhebliche Unterschiede in Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status aufweist: Sozial besser gestellte Gruppen profitieren wesentlich stärker von den Zugewinnen an fernerer Lebenserwartung als sozial schlechter gestellte. Eine Anhebung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters würde daher für ohnehin sozial schlechter gestellte Gruppen zu deutlich höheren relativen Leistungskürzungen als für besser gestellte führen. Das widerspricht jedem Verständnis von Fairness!

Und tatsächlich: Die EK hat diesmal keine Empfehlung zur Koppelung des Pensionsalters an die Lebenserwartung vorgelegt. Die beharrlich vorgetragenen Gegenargumente dürften einen Nachdenkprozess ausgelöst haben. Ob dieser nachhaltig ist, muss sich allerdings noch erweisen, denn nach wie vor behauptet die Kommission im Länderbericht: „Die Anhebung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters oder zumindest die Schaffung von Anreizen, länger erwerbstätig zu bleiben, könnte die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen stärken“. Es wird noch viel Überzeugungsarbeit bedürfen, um die EK von ihrer Fixierung auf den Pensionsautomatismus endgültig abzubringen, aber Optimismus ist angebracht. 

Kinderbetreuung: Kommission auf AK-Linie

Im Länderbericht wird klar darauf hingewiesen, dass das begrenzte Angebot an erschwinglicher, qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung den Eltern, insbesondere Müttern, eine aktivere Teilnahme am Arbeitsmarkt erschwert. Aufschlussreich ist der Satz: „Obwohl im österreichischen Aufbauplan rund 28 Mio. EUR für die Ausgestaltung des Kinderbetreuungsangebots vorgesehen sind, werden die Kosten für einen flächendeckenden Ausbau der Kinderbetreuung einer aktuellen Studie zufolge auf 1,6 Mrd. EUR beziffert“. Damit teilt die EK indirekt die AK-Kritik, dass Österreich aus dem EU-Wiederaufbaufonds zu wenig Mittel für den Ausbau der Elementarpädagogik lukriert hat und unterstützt gleichzeitig die AK-Forderung nach einer deutlichen Anhebung der öffentlichen Investitionen in diesem Bereich. Leider verabsäumt die Kommission darauf hinzuweisen, dass die durch den Ausbau einer flächendeckenden und qualitativ hochwertigen Kinderbetreuung entstehenden Kosten schon kurzfristig zu 2/3 durch zusätzliche Einnahmen aus öffentlichen Abgaben gedeckt würden (durch erhöhte Erwerbsbeteiligung und Anstieg des Privatkonsums)6.

Auch für die Kommission ist der Ausbau einer flächendeckenden und qualitativ hochwertigen Kinderbetreuung von zentraler Bedeutung. 

Die Aussagen im Länderbericht sind jedenfalls aus AK-Sicht eine Steilvorlage für die Bundesregierung, endlich das gemeinsame Forderungspapier der Sozialpartner und Industriellenvereinigung zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, das u.a. einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr vorsieht, rasch umzusetzen. Die aktuelle 15a-Vereinbarung zur Elementarpädagogik zeigt erneut, dass nur zaghaft investiert und kaum reformiert wird und die Bundesregierung weiterhin keine politische Verantwortung für die erste Bildungseinrichtung übernimmt. Dass ein flächendeckender Ausbau der Kinderbetreuung gleichzeitig auch ein wesentlicher Beitrag zum Abbau des hohen „gender pay gap“ und des relativ hohen „gender pension gap“ wäre, wird im Länderbericht ebenfalls hervorgehoben. Die konkrete Empfehlung der EK, die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu fördern, indem Österreich u.a. bei hochwertiger Kinderbetreuung nachbessert, wird von der AK jedenfalls ausdrücklich begrüßt. 

Bildungssystem: Positive, aber noch ausbaufähige Analyse der Kommission 

Österreichs Schulsystem ist sehr ungerecht: Geld, Bildung und Herkunft der Eltern entscheiden über den Schulerfolg der Kinder. Was es in Österreich daher dringend braucht, ist der weitere Ausbau der Ganztagsschulen und mehr Geld für Schulen mit besonderem Förderbedarf. Dadurch würden Schulen mit größeren Herausforderungen bei der Förderung der Kinder mehr Mittel erhalten. Das aktuelle Regierungsprogramm sieht ein Pilotprogramm für 100 Schulen mit besonderen Herausforderungen vor. Dies kann lediglich ein erster Schritt sein, denn nur eine flächendeckende Anwendung des AK-Chancenindex, der für Schulen mit großen Herausforderungen zusätzliche finanzielle Mittel vorsieht, stellt die Unterstützung aller betroffenen Schulstandorte sicher. 

Positiv ist, dass die Kommission in ihrer Analyse die sich im österreichischen Bildungssystem manifestierende Ungerechtigkeit deutlich anspricht und eine bessere Verfügbarkeit frühkindlicher Betreuung und von Ganztagsschulen, eine verbesserte Ausbildung von Lehrkräften und eine Aufstockung der Mittel befürwortet. Auch der Grundgedanke des AK-Chancenindex spiegelt sich ansatzweise in den Ausführungen wider. Es wäre allerdings wichtig, wenn die EK zukünftig diese zentrale AK-Forderung deutlich in den Fokus ihrer bildungspolitischen Analyse und Empfehlung rücken würde. 

Steuersystem: Eindeutig mehr Schatten als Licht

Österreich gehört zu den EU-Ländern mit der größten Vermögensungleichheit und der größten Schieflage im Steuermix (hohe Belastung von Arbeitseinkommen, niedrige Belastung von Vermögen). Insofern war die Erwartung, dass diese Problematik im Länderbericht und bei den länderspezifischen Empfehlungen klar angesprochen wird. Österreich braucht dringend eine Steuerstrukturreform mit einer Entlastung des Faktors Arbeit und einer stärkeren Nutzung vermögensbezogener Steuern, zumal auch in der letzten Steuerreform diesbezüglich keine Fortschritte erzielt werden konnten. 

Die AK sieht keinen Spielraum für eine weitere Senkung der Lohnnebenkosten, da diese als Sozialstaatsbeiträge das soziale Netz finanzieren.

Ein Satz im Länderbericht hat diesbezüglich in Verbindung mit der Empfehlung, den Steuermix zugunsten eines inklusiven und nachhaltigen Wachstums zu verbessern, Erwartungen geweckt: „Eine weitere Verringerung der Steuer- und Abgabenbelastung des Faktors Arbeit, insbesondere für Geringverdiener, und ein stärkerer Einsatz wachstumsfreundlicher Steuern (z. B. periodische Immobiliensteuern oder Erbschafts- und Schenkungssteuern) können jedoch das Wirtschaftswachstum ankurbeln und für mehr Fairness im Steuersystem sorgen“3. Allerdings wird im Erwägungsgrund 23 der Empfehlung ein deutlicher Fokus auf eine Senkung der Lohnnebenkosten gelegt, um den Faktor Arbeit zu entlasten. Die AK sieht keinen Spielraum für eine weitere Senkung der Lohnnebenkosten, da diese als Sozialstaatsbeiträge das soziale Netz finanzieren. Das gilt auch in Bezug auf Geringerverdiener:innen, wenn damit eine Senkung von Sozialversicherungsbeiträgen ins Auge gefasst werden soll. Eine solche bringt die Gefahr von Leistungskürzungen mit sich, da sie zulasten des Budgets der Sozialversicherung geht. Bei einem Ersatz des Einnahmenausfalls aus dem Steuerbudget wird die Selbstverwaltung der Versicherten beschnitten und die Finanzierung der Versicherungsleistungen vom Willen des Finanzministeriums abhängig. Eine Entlastung von Geringverdiener:innen kann stattdessen besser durch die Rückerstattung von Sozialversicherungsbeiträgen im Rahmen der Einkommenssteuer (Negativsteuer) erreicht werden. Hier wird es jedenfalls noch viel „Überzeugungsarbeit“ bedürfen, damit die Kommission ihre steuerpolitischen Analysen und Empfehlungen mit der realen Situation und den zentralen Herausforderungen in Österreich in Einklang bringt. 

Fiskalföderalismus: Alle Jahre wieder mit einem falschen Fokus

Erneut wird Österreich empfohlen, die Finanzbeziehungen und Zuständigkeiten der verschiedenen staatlichen Ebenen zu vereinfachen und zu rationalisieren und die Finanzierungs- und Ausgabenverantwortlichkeiten anzugleichen. Die seitens der Kommission eingeforderte Transparenz und Vereinfachung der innerstaatlichen Transferströme sowie die Kompetenzbereinigung ist aus AK-Sicht ein wichtiges Anliegen. Angesichts der auch auf europäischer Ebene ersichtlichen negativen Auswirkungen auf die öffentlichen Einnahmen durch Steuerwettbewerb sowie Steuerhinterziehung und -vermeidung ist allerdings die Empfehlung einer stärkeren Abgabenautonomie für Länder und Gemeinden (die hinter der Angleichung der Verantwortlichkeiten steckt) unverständlich. Ein Mehr an Abgabenautonomie birgt abseits von Steuern auf unbewegliches Eigentum (wie etwa die Grundsteuer) die Gefahr eines innerösterreichischen Steuerwettbewerbs. Stattdessen sollte die 2018 aus dem Finanzausgleichsgesetz gestrichene Aufgabenorientierung, bei der die Transferzahlungen an die Qualität öffentlicher Leistungserbringung gebunden sind, wieder aufgenommen werden. Zum Beispiel: Wenn eine Gemeinde einen Kindergarten mit hohen Qualitätsstandards betreibt, soll diese auch entsprechende Finanzmittel erhalten. So kann der Sozialstaat bundesweit verbessert und die Mittelzuteilung klarer werden, ohne am Grundprinzip des Staatswesens in Österreich zu rütteln. 

Sozialpolitik: Eine große Leerstelle in der Analyse der Kommission 

Dass die Kommission im Bereich der Armutsbekämpfung kaum Handlungsbedarf sieht, trübt am stärksten die an sich positive Grundeinschätzung der vorgelegten Kommissionsdokumente. Im Länderbericht wird hingewiesen, dass „das starke Sozialschutzsystem und umfangreiche politische Maßnahmen die sozialen Auswirkungen der COVID-Pandemie abgefedert (haben)“4. Das stimmt nur zum Teil. Ein detaillierter Blick zeigt, dass sich die Lage bei manchen Bevölkerungsgruppen dramatisch verschlechtert hat. Das betrifft vor allem Alleinerzieher:innen, Arbeitslose und Kinder. Die aktuellen Teuerungen bei Wohnen, Energie und Lebensmitteln verschärfen die materielle Situation für viele Menschen zusätzlich. 

Der Sozialstaat hat die massiven Folgen der Corona-Krise abgefedert, aber er muss aus Sicht der AK dringend armutsfest gemacht werden. 

Diese Herausforderung muss dringend angegangen werden. Die zuletzt erfolgten einzelnen Verbesserungen in der Sozialhilfe sind jedenfalls nur ein erster Schritt. Zwar stellt auch die Kommission bei ihrer Bewertung der Fortschritte Österreichs bei den UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung fest, dass Österreich bei der sozialen Inklusion (SDG 10) Verbesserungsbedarf hat, aber eine Empfehlung für entsprechende Maßnahmen findet sich nicht5. Dabei ist aus Sicht der AK völlig klar: Es müssen rasch Schritte eingeleitet werden, um das österreichische Sozialsystem armutsfest zu machen. Vorrangig geht es dabei um Verbesserungen bei den Sozialleistungen. Dazu zählen u.a. eine Erhöhung der Nettoersatzrate beim Arbeitslosengeld auf 70% sowie eine Erhöhung der armutsrelevanten Sozialleistungen wie Sozialhilfe, Notstandshilfe und Ausgleichszulagenrichtsatz. Eine aktuelle Studie des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung im Auftrag der Arbeiterkammer Oberösterreich zeigt, dass eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf mindestens 70 Prozent Nettoersatzrate Ungleichheit und Armut verringert, Familieneinkommen erhöht, den Konsum belebt und somit zu mehr Jobs führt. Ein besonderer Schwerpunkt muss aus Sicht der AK auch auf die Bekämpfung der steigenden Kinderarmut gelegt werden. Wichtig sind auch Maßnahmen zur Bekämpfung von Energiearmut und ein starker Fokus auf leistbares Wohnen. 

Die Kommission ist lernbereit, aber es bleibt noch einiges zu tun!

Trotz der dargelegten Kritikpunkte lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Europäische Kommission in einigen Politikbereichen AK-Forderungen unterstützt bzw. sich ihnen annähert. Was darauf zurückzuführen sein könnte, dass die Kommission die von AK-Expert:innen erarbeiteten und ihr zugegangenen Stellungnahmen durchaus zur Kenntnis nimmt. Allerdings zeigen sich in verschiedenen Bereichen nach wie vor analytische Leerstellen bzw. werden aus unserer Sicht falsche Maßnahmen zur Bewältigung struktureller Herausforderungen vorgeschlagen. Hier wird noch viel „Aufklärungsarbeit“ von Seiten der Arbeitnehmer:innenorganisationen notwendig sein. 

Norbert Templ, AK Wien

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  1. Europäisches Semester – Frühjahrspaket (europa.eu); abgerufen am 30.5.2022.
  2. 2022-european-semester-country-report-austria_de_0.pdf (europa.eu) bzw. 2022-european-semester-csr-austria_de.pdf (europa.eu), abgerufen am 30.5.2022.
  3. 2022-european-semester-country-report-austria_de_0.pdf (europa.eu), S. 65.
  4.  2022-european-semester-country-report-austria_de_0.pdf (europa.eu), S. 53
  5. Siehe Anhang 1 zum Länderbericht Österreich 2022, S. 25-26.

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