Buchbesprechung: Inseln der Wenigen
Der kanadische Historiker Quinn Slobodian beschreibt in seinem neuen Buch „Kapitalismus ohne Demokratie“, wie Marktradikale und libertäre Milliardäre die Welt in Zonen aufteilen, um dort eine Gesellschaft ohne Demokratie zu erproben – und was das mit dem globalen Erstarken Rechtsextremer zu tun hat.
Autorin: Lisa Mayr-Sinnreich
Diesen Artikel downloadenBei Quinn Slobodian gleicht unsere Welt einem Emmentaler. Der Historiker beschreibt in seinem neuen Buch kenntnisreich und gut lesbar die Löcher im Käse: Das sind mehr als 4500 geografische, politische und rechtliche Zonen auf der ganzen Welt, in denen Demokratie keine Rolle mehr spielt, weil dort ein von der Idee der Gemeinschaft befreiter Hyperkapitalismus floriert.
Das Sagen in diesen Zonen haben libertäre Milliardäre vom Schlage eines Peter Thiel, Anarchokapitalisten, als Politiker getarnte Staatsfeinde. Ihr gemeinsames Ziel: Den Staat zu überwinden, den Markt von allen Beschränkungen zu befreien und die Idee der Allgemeinheit dauerhaft zu vergiften. Immer mehr Löcher stanzen die Marktradikalen ins globale soziale Gewebe und machen sich damit die Welt, wie sie ihnen gefällt.
Zone als Modell des neuen Staates
Slobodian beschreibt die demokratielosen Zonen in all ihrer Vielfalt – es sind Stadtstaaten wie Singapur, abgeriegelte Enklaven der Superreichen, Sonderwirtschafts- und Freihandelszonen als sub-nationale Territorien auf der ganzen Welt, es sind „Freeports“ und „Enterprise Zones“, in denen Steuer-, Arbeits- und Umweltgesetze zugunsten von Investoren und nicht zum Wohle der Vielen gezimmert sind.
Das gelobte Land der Marktradikalen sei nicht zufällig Hongkong: Historische Blaupause für einen Kapitalismus ohne Demokratie, mit verstümmelten Bürgerrechten unter britischer Verwaltung höchst erfolgreich und bis heute Magnet für internationales Kapital – eine Zone, die die klassischen Nationalstaaten mit ihren behäbigen Sozialsystemen und ihrem demokratischen Firlefanz feixend diszipliniert. Hongkong ist das Zukunftslabor für jenen Gesellschaftsentwurf, den die Marktradikalen im Großen auszurollen trachten: eine stets in Bewegung befindliche Festung für das Kapital, sicher vor dem Zugriff des Volkes. Die Zone entwickle so im Kleinen das Modell eines neuen Staates.
Freier Markt und Stacheldraht
Dass jeder Staat unweigerlich in der Tyrannei der Massen ende, ist laut Slobodian der ideologische Kerngedanke der Libertären und Anarchokapitalisten: Individuelle Freiheit gilt daher als ihr höchstes Gut, nicht Gemeinschaft oder Sozialstaat, nicht Bürger:innenrechte oder formale Demokratie. Kundig und reich an Belegen beschreibt er die Netzwerke der Marktradikalen und zeigt, woher das Geld für ihre Thinktanks kommt, wer wen berät und wie sich ihre Ideen fort- und festsetzen.
Buchempfehlung
Quinn Slobodian
Kapitalismus ohne Demokratie.
Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen.
Suhrkamp, 2023.
Zum Autor: Quinn Slobodian, geboren 1978 im kanadischen Edmonton, ist Associate Professor am Department of History des Wellesley College. Seine Spezialgebiete sind deutsche Geschichte, soziale Bewegungen und das Verhältnis zwischenden Industrieländern und dem Globalen Süden.
Ethischer Nationalismus und hyperkapitalistischer Neoliberalismus sind da kein Widerspruch, schreibt Slobodian, sondern ein „perfect match“. Den Aufstieg der extremen Rechten in den letzten Jahrzehnten deutet er daher anders als viele rezente Ansätze es tun: Zeitgenössische Rechtsradikale wollen nicht etwa zurück zu einem plumpen Nationalismus Marke 1930. Vielmehr sehen sie in den nach außen streng abgeschotteten postdemokratischen Miniaturen des Hyperkapitalismus ihren ideologischen Traum verwirklicht. Die neuen Rechten wissen: Mit weniger Staat und freiem Markt allein kriegt man weder Grenzen dicht noch die Unerwünschten raus.
Vollzogen sei die ideologische Paarung von Anarchokapitalismus und rassistischem Sezessionismus etwa in den Weltbildern des argentinischen Neo-Präsidenten Javier Milei, bei Donald Trump und den Protagonisten der Tea Party, zuletzt bei Jair Bolsonaro in Brasilien, bei Techmilliardären wie Peter Thiel oder Elon Musk und modernen Staatsverweigerern.
Slobodian gelingt es blendend, diese alarmierende gesellschaftliche Entwicklung als Ergebnis konkreter politischer Schritte einiger Weniger mit viel Kapital zu beschrieben. Er hat keine Scheu vor verständlicher Sprache und starken Bildern und ermöglicht damit ein breites Verständnis für den Zustand unserer Welt. Für seine Klarheit und Prägnanz ist Slobodian zu danken, sein Buch eine dringende Empfehlung – auch wenn der versöhnliche Ausblick am Ende ausbleibt.
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