Alte Verhaltensmuster bei den neuen Prioritäten der EU-Kommissionspräsidentin: Zunehmende Ausrichtung der EU-Kommission auf Unternehmensinteressen
Zu Beginn ihrer Amtszeit machte EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen den Eindruck, dass nach Jahren einer auf wirtschaftspolitische Wünsche ausgerichteten EU-Gesetzgebung nun gesellschaftspolitische Themen eine stärkere Rolle spielen sollen. Tatsächlich wurden einige Gesetzesvorschläge im Umwelt-, Verbraucher:innenschutz- und Beschäftigtenbereich prioritär behandelt. Mit Ende der EU-Legislaturperiode zeigt sich aber, dass die EU-Kommission nun wieder auf ihre alte Verhaltensweise zurückfällt und vor allem Unternehmensinteressen Vorrang einräumt.
Autor: Frank Ey
Diesen Artikel downloadenGesellschaftspolitik zu Beginn im Vordergrund
Unter dem Eindruck der rasch voranschreitenden ökologischen Krise und der Umsetzung des Klimaschutzübereinkommens von Paris stand zu Beginn der EU-Legislaturperiode unter Führung von Ursula Von der Leyen ein zentrales gesellschaftspolitisch wichtiges Thema im Mittelpunkt: Die Bekämpfung der Klimakrise. Zahlreiche gesetzliche Maßnahmen wurden im Rahmen des sogenannten Grünen Deals auf den Weg gebracht, um die dringend nötige Reduktion der CO2-Emissionen und anderer Treibhausgase zu erreichen.
Auch den längst überfälligen Rechtsrahmen für den digitalen Sektor hat die Europäische Kommission vorgelegt. Darin sind verbindliche Regeln insbesondere für große Digitalkonzerne enthalten, die einen besseren Schutz für Verbraucher:innen, sowie für kleinere Anbieter im Wirtschaftssektor bieten. Im Zentrum stehen dabei die Gesetze über digitale Dienstleistungen und dem digitalen Binnenmarkt.
Beschäftigungspolitisch ist beispielsweise die Richtlinie über die Arbeitsbedingungen von Plattformarbeiter:innen hervorzuheben, die ein Ende der Narrenfreiheit von Plattformunternehmen im Internet bringen und den Beschäftigten der Branche grundlegende Rechte einräumen soll. Beim Arbeitnehmer:innenschutz sticht wiederum ein Richtlinienvorschlag zum besseren Schutz von Beschäftigten gegen Asbest hervor.
Unternehmensinteressen wieder im Zentrum
Als Teil ihrer Prioritäten formulierte Von der Leyen aber schon als nominierte Kommissionschefin Ende 2019, dass es eines ihrer Ziele ist, „gesetzliche Belastungen“ für Unternehmen und Menschen zu reduzieren. So sollte mit dem One In, One Out-Prinzip (OIOO) für jedes neue EU-Gesetz ein bestehendes gestrichen werden. Flankiert wurde dieser Plan mit einer Fit for Future Plattform, die bestehende Gesetze vereinfachen soll. In einer von der Arbeiterkammer Wien in Auftrag gegebenen Studie wurde hingegen aber deutlich, dass ein rein an der Anzahl von Gesetzen formuliertes Ziel kontraproduktiv wäre und dass ein derartiges Prinzip den Nutzen von Rechtsnormen für die Gesellschaft außer Acht lässt.
Zunächst traten diese Arbeiten der Europäischen Kommission für eine Reduktion von „gesetzlichen Belastungen“ vergleichsweise in den Hintergrund. Dies ist auf eine Vielzahl an globalen Krisensituationen wie der COVID-Pandemie oder der Aggression Russlands gegen die Ukraine sowie andere vorrangige Ziele, wie den Grünen Deal oder auch Vorhaben im digitalen Sektor, zurückzuführen. In den letzten Monaten hat sich das jedoch merkbar geändert.
Wenn gesellschaftspolitische Anliegen zu Verwaltungslasten erklärt werden
Alljährlich veröffentlicht die Europäische Kommission den sogenannten Annual Burden Survey, der vor allem im Zeichen der „Besseren Rechtsetzungsagenda“ auf EU-Ebene steht und mögliche unnötige Verwaltungskosten aufgrund von EU-Gesetzen hervorhebt. Unter anderem setzt die Kommission auf das seit Jahren bestehende Programm REFIT, welches über Folgenabschätzungen und Fitness-Checks für eine effizientere Gesetzgebung sorgen soll.
Dem weiter oben beschriebenen One In, One Out-Prinzip kommt im Survey 2022 eine besondere Bedeutung zu: Erstmals wurde der Grundsatz 2022 auf alle neuen EU-Rechtsvorschläge voll umfänglich angewandt. Nach der von Arbeitnehmer:innenorganisationen und der Zivilgesellschaft laut gewordenen Kritik bemüht sich die Europäische Kommission mittlerweile ein Wording zu verwenden, das auch die Gesellschaftspolitik miteinschließt. So geht es nicht mehr nur um Belastungen für Kleine und Mittlere Unternehmen, die berücksichtigt werden sollen, sondern auch um jene der Zivilgesellschaft. Zudem wird nun auch erwähnt, dass der Nutzen von Gesetzen mitberücksichtigt wird.
In einer neuen Version der „Better Regulation Toolbox“ vom Juli 2023 ist zu lesen, dass ein „sozialer Abzinsungssatz“ bei der Gegenrechnung von Kosten und Nutzen zur Anwendung kommen soll. Damit soll eine bessere Berücksichtigung des Nutzens möglich sein, insbesondere weil Kosten und Nutzen oft zu verschiedenen Zeitpunkten eintreten. Der Abzinsungssatz wird beim OIOO-Prinzip mit drei Prozent festgelegt. Gleichzeitig unterstreicht die Kommission jedoch, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis je nach dem jeweils gewählten Abzinsungssatz ganz erheblich variieren kann. Politikoptionen, die einen hohen Nutzen versprechen, können im nächsten Moment bei Verwendung eines anderen Abzinsungssatzes plötzlich unattraktiv erscheinen.
Die Kommissionsanalyse zu den einzelnen Politikbereichen, die unter dem OIOO-Prinzip vorgenommen wurde, lässt zum Teil erhebliche Zweifel darüber aufkommen, ob Kosten und Nutzen richtig gewichtet wurden. Auffallend ist auch, dass alle Kosten direkt als Verwaltungskosten subsumiert werden, gleich ob es sich etwa um Umweltinvestitionen oder beispielsweise Maßnahmen zum Schutz von Arbeitnehmer:innen handelt.
Die höchsten „Verwaltungskosten“ fielen demnach im Politikbereich des Grünen Deals an. Zwar wurde hier laut den Ergebnissen der Kommission ein Nutzen von geschätzten 387 Mio. € jährlich ermittelt, dem jedoch Kosten von 2,35 Mrd. € gegenüberstehen. Daraus resultiert also eine dem Grünen Deal zugewiesene „Nettoverwaltungslast“ von 1,96 Mrd. €. Ein positives Resümee zieht die Kommission im Bereich der Digitalisierung: Hier konnten im Politikbereich „Ein Europa fit für das Digitale Zeitalter“ netto 4,19 Mrd. € an Lasten abgebaut werden. Im Bereich „Eine Wirtschaft, die für die Menschen arbeitet“ konnten laut EK ebenfalls 4,78 Mrd. € eingespart werden, was insbesondere einer Gesetzesinitiative zur „Mehrwertsteuer im digitalen Zeitalter“ geschuldet sei und Einsparungen in Höhe von 4,7 Mrd. € bringen soll. Unter diese Kategorie fällt jedoch auch ein Vorhaben, das den Schutz der Arbeitnehmer:innen vor der gesundheitlichen Belastung durch Asbest erhöhen soll und mit Netto-Verwaltungskosten von 33 Mio. € jährlich beziffert wird. Inwiefern hingen der Nutzen dieser Regelung einkalkuliert wurde, ist nicht ersichtlich: Dieser umfasst nicht zuletzt etwa vermiedene Krankenstände, geringere Gesundheitsausgaben oder auch die Erhaltung der Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten samt des damit verbundenen Steuer- und Pensionsbeitragsaufkommens.
Dass ein System, das sich vor allem an Verwaltungskosten orientiert, höchst problematisch ist, sollte der Europäischen Kommission allerspätestens beim Punkt Kampf gegen sexuellen Missbrauch bei Kindern bewusst werden: Den hat die Behörde jedoch bloß lapidar mit 82,5 Mio. € an Verwaltungskosten beziffert.
In Summe kommt die Europäische Kommission auf Einsparungen in Höhe von 7,3 Mrd. €, die durch die Anwendung des neuen OIOO-Prinzips bei den 52 Gesetzesinitiativen aus 2022 erreicht werden konnten. Grundsätzlich wäre das ein begrüßenswertes Ergebnis. Die Euphorie endet jedoch sehr rasch, wenn ein näherer Blick darauf folgt, was überhaupt als Verwaltungskosten definiert wird und welche Methodik bei der Ermittlung des Nutzens zum Einsatz kommt.
Kritik der Gewerkschaften an der Besseren Rechtsetzungs-Ideologie
Die Gewerkschaften wie auch die Arbeiterkammer üben bereits seit vielen Jahren heftige Kritik an der Agenda zur Besseren Rechtsetzung. In Stellungnahmen, Studien und persönlichen Gesprächen haben die Arbeitnehmer:innenvertretungen angemahnt, dass viele gesetzliche Regelungen auf EU-Ebene einen hohen Nutzen für Beschäftigte, die Gesellschaft sowie auch für die Unternehmen haben und nicht aufgrund einseitiger Wünsche einiger Wirtschaftsvertreter:innen abgeschwächt oder gestrichen werden dürfen. In vielen Fällen wurden Rechtsvorschläge mit großem Nutzen für Arbeitnehmer:innen und die Gesellschaft trotz vorheriger Ankündigung gar nicht erst vorgelegt. Das betrifft beispielsweise die Gesetzesvorschläge zu Erkrankungen des Bewegungsapparats, zu Passivrauchen oder Karzinogenen. Eine von der Europäischen Kommission eingesetzte Beratungsgruppe berichtete von großen Irritationen der Unternehmen wegen Informationspflichten, die sie zu leisten haben. So mussten laut dieser Expert:innengruppe nur wegen der Finanzkrise ab 2009 Informationsblätter zu Finanzanlageprodukten für Kleinanleger:innen zur Verfügung gestellt werden und konnten nicht einfach eingespart werden. Dass derartige Informationen gerade für Durchschnittsverdiener:innen, die ihr Erspartes möglichst sicher anlegen wollen, ganz wesentlich für die Einschätzung sind, wie hoch das Risiko mit dem Anlageprodukt ist, wurde nicht erwähnt.
Die Arbeitnehmer:innenvertretungen konnten die EU-Behörden schließlich erfolgreich überzeugen, dass geplante Regelungen zum Arbeitnehmer:innenschutz wie zu Erkrankungen des Bewegungsapparats und zu Karzinogenen einen sehr hohen Mehrwert haben und die Gesetzesvorschläge wurden schließlich vorgelegt und erfolgreich verhandelt.
Gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen haben die Gewerkschaften immer wieder auf die zweifelhaften Ziele der Agenda der Besseren Rechtsetzung und des unter EU-Kommissionspräsidentin Ursula Van der Leyen ins Leben gerufenen OIOO-Prinzips hingewiesen. Das machten zuletzt der Europäische Gewerkschaftsbund und der WWF u.a. in einem gemeinsamen offenen Brief deutlich, in dem der Wert von qualitativ hochwertigen EU-Gesetzen hervorgehoben wurde.
Trotz dieser Kritik fällt in den letzten Monaten immer deutlicher auf, dass die Europäische Kommission in ihrer Politik eine Kehrtwende vollzieht: Stand in den letzten Jahren die Gesellschaftspolitik stärker im Vordergrund, so zeigt sich nun, dass die Erfüllung von Unternehmenswünschen wieder absolute Priorität eingeräumt wird.
Das dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass die EU-Wahlen vor der Tür stehen (6. bis 9. Juni 2024). Es ist abzusehen, dass es zu einer deutlichen Verschiebung Richtung Wirtschaftsparteien kommen dürfte. Bei den meisten Wahlen in den EU-Mitgliedsländern haben konservative, teils sogar rechtspopulistische Parteien gewonnen, und stellen nun den Regierungschef bzw die Regierungschefin. Auch bei den Koalitionspartner:innen innerhalb der neuen Regierungen ist ebenfalls festzustellen, dass es zu einer Verschiebung hin zu wirtschaftsnahen und rechtspopulistischen Parteien kommt, während Parteien, die eher gesellschaftspolitische Ziele verfolgen, zuletzt vermehrt ins Hintertreffen gelangt sind.
Priorität KMU
In welche Richtung die Maßnahmen zur „Besseren Rechtsetzung“ in nächster Zeit gehen könnten, wird im Rahmen einer neuen Initiative zur Entlastung der KMU und im Kommissionsarbeitsprogramm 2024 mehr als deutlich. Demnach unterstreicht die Kommission, dass sie sich für ein unternehmensfreundliches Regelungsumfeld einsetzt. Mittels eines eigenen KMU-Tests soll bei jedem neuen Rechtsvorschlag analysiert werden, welche Auswirkungen das geplante neue Gesetz auf KMU hat und ob es verhältnismäßig ist.
In der Mitteilung wird die Kommission dann mit jedem Absatz deutlicher. So stellt die Kommission folgendes fest: „Um den Interessen von KMU bei der Ausarbeitung neuer Legislativvorschläge besser Rechnung zu tragen, wird die Kommission bestimmte Arten von KMU-freundlichen Bestimmungen systematisch berücksichtigen.“ Schade nur, dass dies für Interessen in anderen Politikfeldern wie beispielsweise dem Gesundheits-, dem Beschäftigungs-, dem Verbraucher:innenschutz- oder dem Umweltbereich nicht gilt.
Dem aber noch nicht genug: Die Arbeiterkammer hat bereits mehrmals über das zweifelhafte Gremium des Regulatory Scrutiny Boards (RSB) berichtet: Dieses hat die Möglichkeit, einen neuen Gesetzesvorschlag der Europäischen Kommission zu bewerten, noch bevor er den eigentlichen Gesetzgebern, dem Europäischen Parlament und dem Rat, vorgelegt wurde. Das RSB kann einen Vorschlag sogar an die Kommission zurückverweisen und so die Gesetzgebungsarbeit verzögern und Anpassungen in ihrem Sinne einfordern. Das RSB betont gerne, dass es seine Aufgaben unabhängig von äußeren Einflüssen ausübt. Mit der neuen Mitteilung der Kommission zur Entlastung der KMU wird mit der Mär der Unabhängigkeit nun aufgeräumt: Denn die Kommission wird einen eigenen KMU-Beauftragten ernennen, der „unbeschadet der Arbeitsweise und Unabhängigkeit des Ausschusses Probleme zur Sprache bringen und den Ausschuss auf erhebliche negative Auswirkungen auf KMU“ aufmerksam machen kann. Das RSB-Gremium wird außerdem künftig dazu verpflichtet, die Wettbewerbsfähigkeit in den Mittelpunkt ihrer Beurteilung bei neuen Gesetzesvorhaben zu stellen.
Zusätzlich schlägt die Europäische Kommission im Arbeitsprogramm für 2024 vor, zahlreiche Berichtspflichten zu streichen. Der Europäische Gewerkschaftsbund warnt hingegen davor, Regelungen zu streichen, die Auswirkungen auf Gewerkschaftsrechte und den Arbeitnehmer:innenschutz haben könnten und nennt als Beispiel die Umsetzung der Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung. Nach den Vorstellungen der Kommission soll aber genau dieser Rechtsakt vorerst um zwei Jahre nach hinten verschoben werden. Sorgen kommen in diesem Zusammenhang auch bei den Arbeiten zum Lieferkettengesetz auf, der zahlreichen KMU-Vertreter:innen ein Dorn im Auge ist. Gleichzeitig wird die Kommission aber nicht müde zu betonen, dass Sozial-, Verbraucherschutz-, Sicherheits-, Umwelt- oder wirtschaftliche Standards nicht abgesenkt werden sollen.
Gleichzeitig versucht die Kommission den Kreis von Unternehmen auszuweiten, die als KMUs gelten und daher nicht von den umfassenderen Pflichten, die für Konzerne zur Anwendung kommen, erfasst sind. Derzeit sind ohnehin bereit 99,8 Prozent der Unternehmen nach der gültigen EU-Definition Klein- und Mittelunternehmen. Sollte es tatsächlich zu einer Neudefinition kommen, könnten so gut wie keine Großunternehmen mehr übrigbleiben, für die EU-Gesetze vollumfänglich gelten. Damit wären wohl auch Sozial-, Verbraucher:innenschutz- und andere Standards negativ betroffen.
Resümee
Sollte es zu der zu erwartenden Verschiebung der Kräfteverhältnisse im EU-Parlament nach den Wahlen 2024 kommen, ist zu befürchten, dass sich der nun zu beobachtende neue Kurs von EU-Kommissionspräsidentin Ursula Von der Leyen noch verschärft – zum Nachteil von Arbeitnehmer:innen und der Gesellschaft.
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