Infobrief 4|23 – Kommentar Templ: Eskalation der Gewalt im Nahen Osten
Infobrief 4|23 – Kommentar Templ: Eskalation der Gewalt im Nahen Osten © AK WIEN
Dezember 2023

Eskalation der Gewalt im Nahen Osten: Der Konflikt kann nur politisch gelöst werden

Die Verbrechen der Hamas-Terroristen in Israel sind bestialisch, grauenhaft und mit nichts zu rechtfertigen. Sie zeigen aber auch: der Status quo ist nicht haltbar. Es braucht endlich eine umfassende Friedenslösung, die von den gemäßigten Kräften in Israel und Palästina unterstützt wird. Die Konturen dieser Friedenslösung sind bekannt. Ihre Umsetzung darf nicht länger hinausgezögert werden. Ein Kommentar. 

Autor: Norbert Templ

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Der Nahostkonflikt ist militärisch nicht zu lösen. Der israelische Ex-Geheimdienstchef Ami Ajalon stellte kürzlich klar: „Die Hamas ist nicht nur eine militärische Kraft, sondern auch eine Ideologie. Um eine Ideologie zu besiegen, muss man mit stärkeren Ideen kontern. Wenn wir den Palästinensern nicht eine bessere Zukunft bieten, einen politischen Horizont, der ein Ende der israelischen militärischen Besatzung ihrer Gebiete mit einem palästinensischen Staat beinhaltet, werden wir die Hamas niemals besiegen. In fünf oder zehn Jahren wird sie wieder aufgerüstet haben“.

Über den Autor

Norbert Templ ist Referent in der Abteilung EU und Internationales der AK Wien.
Norbert Templ
Norbert Templ © Lisi Specht

Kurz und Knapp

  • Die Konturen einer Friedenslösung sind seit Jahrzehnten bekannt.

  • Der Status Quo ist nicht haltbar – allein schon aus demographischen Gründen und mit Blick auf die Klimakrise.

  • USA müssen aktiv auf eine umfassende Friedenlösung drängen.

  • Jede Lösung muss israelische Sicherheitsbedürfnisse respektieren.

  • Gibt es einen „Nelson Mandela“ auf palästinensischer Seite?

  • Es braucht eine Vision für den ganzen Nahen Osten.


Diesen politischen Horizont gibt es, er muss nicht neu erfunden werden. Die Konturen einer Friedenslösung sind seit Jahrzehnten bekannt: Anerkennung Israels in den Grenzen von 1967, Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates (Westbank, Gazastreifen) mit Ostjerusalem als Hauptstadt, eine gerechte Lösung der Flüchtlingsfrage.

In seinen Schlussfolgerungen vom 26./27. Oktober 2023 bekannte sich der Europäische Rat erneut zur Zweistaatenlösung und sprach sich für die baldige Ausrichtung einer internationalen Friedenskonferenz aus. 

Allerdings: Es gibt wohl keinen Konflikt, für dessen Lösung sich in den letzten Jahrzehnten mehr Politiker:innen erfolglos eingesetzt haben als für den Nahost-Konflikt. Der 1993 so hoffnungsvoll begonnene Osloer-Friedensprozess ist nach 30 Jahren endgültig zum Erliegen gekommen. Es braucht einen Neustart der Verhandlungen auf Basis von zwei Friedensinitiativen, die aus meiner Sicht die verbleibenden Hoffnungsträger für die Region sind: Die „Arabische Friedensinitiative“ vom März 2002 und das 2003 von Vertreter:innen der israelischen und palästinensischen Zivilgesellschaft (unter ihnen auch ehemalige Minister:innen) vorgelegte „Genfer Abkommen“

Die von der Arabischen Liga beschlossene Friedensinitiative wurde 2007 erneut bestätigt. Die Initiative sieht die volle Anerkennung Israels durch alle arabischen Länder sowie die völlige Normalisierung der Beziehungen vor – im Austausch für den Rückzug Israels auf die Grenzen von 1967, die Errichtung eines palästinensischen Staates in der Westbank und im Gazastreifen mit Ost-Jerusalem als seiner Hauptstadt sowie einer gerechten Lösung des Flüchtlingsproblems. Das Genfer Abkommen regelt viele Bereiche im Detail und bietet Lösungen auch für höchst umstrittene Bereiche: So wird Israel zugestanden, 2,5% des Westjordanlandes zu annektieren, um die größten israelischen Siedlungen im Großraum Jerusalem anzubinden. Zum Ausgleich dazu soll Israel ein gleich großes Territorium zur Verbreiterung des Gaza-Streifens abtreten. Der Staat Palästina soll entmilitarisiert, seine Hauptstadt Ostjerusalem sein. Eine internationale Schutztruppe soll den freien Zugang der Gläubigen zu den religiösen Stätten gewährleisten. Israel verpflichtet sich, alle Siedler aus dem Gaza-Streifen (bereits geschehen aufgrund von Sharons Entflechtungsplan) und Westjordanland nach Israel zurückzuführen. Israelische Behörden werden darüber entscheiden, ob palästinensische Flüchtlinge im Rahmen der Familienzusammenführung nach Israel zurückkehren können. 

Das Genfer Abkommen wurde von der israelischen Politik offiziell nie anerkannt, aber Anfang Oktober 2008 hat der damaligen Ministerpräsident Eduard Olmert kurz vor seinem Rücktritt mit Aussagen aufhorchen lassen, die dem Genfer Abkommen entnommen sein könnten: „Wir müssen mit den Palästinensern ein Abkommen schließen, das einen Rückzug aus fast allen, wenn nicht aus allen [besetzten] Gebieten vorsieht. Ein gewisser Prozentsatz dieser Gebiete würde in unseren Händen bleiben, aber wir müssen den Palästinensern den gleichen Prozentsatz [an anderen Orten] geben – ohne dies wird es keinen Frieden geben“. Auch auf palästinensischer Seite wurde das Abkommen nicht ausdrücklich unterstützt und reiht sich damit in eine der vielen verpassten Möglichkeiten für eine umfassende Friedenslösung ein. 

Was bleibt ist die Hoffnung, dass jetzt ein neues Momentum für eine Friedenslösung auf Basis dieser beiden Initiativen entsteht, wobei vieles von der Position der USA abhängt. Der Status Quo ist nicht haltbar – allein schon aus demographischen Gründen und mit Blick auf die Klimakrise nicht. Die Gesamtbevölkerung von Israel wird bis 2050 von heute über 9 Mio. Menschen auf 13 Millionen anwachsen, die Gesamtbevölkerung von Palästina (Westjordanland, inkl. Ost-Jerusalem und Gazastreifen) von derzeit über 5 Mio. auf fast 9 Mio. Menschen. Das heißt: Auf einem Gesamtgebiet von ca. 27.000 km2 (etwas mehr als Kärnten und Niederösterreich zusammen) werden 2050 voraussichtlich 22 Mio. Menschen leben. Sie werden in einer Region leben, die jetzt schon massiv von der Klimakrise betroffen ist und in einigen Jahrzehnten zum Teil unbewohnbar sein könnte.

Die zentrale Rolle der USA 

2011 haben hochrangige US-Spitzenbeamte (unter ihnen Zbigniew Brzezinski und Paul Volcker) in einem Brief an den damaligen US-Präsidenten Barack Obama den Rahmen für eine Lösung abgesteckt, die sich an den oben angeführten Friedensinitiativen orientiert. Im Brief wird festgehalten, dass es die „israelische Besatzung“ ist, „die unaufhaltsame Ausweitung der Siedlungen, die Enteignung des palästinensischen Volkes im Westjordanland und in Ostjerusalem und die humanitäre Katastrophe, die durch die Blockade des Gazastreifens verursacht wird“, die Israel zur „Zielscheibe internationaler Wut und Verurteilung“ macht. Das war 2011 und Israel hat in den Jahren seither keine Schritte gesetzt, diese Wut einzudämmen. Im Gegenteil – es folgten weitere Gaza-Kriege und eine massive Ausweitung der Siedlertätigkeit im Westjordanland. Ich behaupte nicht, dass die Schuld nur bei der israelischen Politik liegt. Auf beiden Seiten haben extremistische Kräfte die Oberhand gewonnen, in Israel sitzen sie heute in der Regierung. 

Bis auf den letzten Punkt, der sich für eine Aussöhnung von Fatah und Hamas ausspricht, bleibt der im Brief angeführte Verhandlungsrahmen aktuell und sollte zur Leitlinie der US-Politik werden:  

  1. Die USA werden sich jedem Versuch widersetzen, die Legitimität des Staates Israel innerhalb international anerkannter Grenzen in Frage zu stellen oder zu untergraben.

  2. Die USA werden sich für die Errichtung eines souveränen und lebensfähigen palästinensischen Staates auf der Grundlage der Grenzen von 1967 einsetzen, vorbehaltlich eines vereinbarten, geringfügigen und gleichen Landtauschs, um die an die ehemalige Grüne Linie angrenzenden Gebiete zu berücksichtigen, die stark von Israelis besiedelt sind. Einseitige Änderungen der Grenzen von 1967 werden von den USA nicht anerkannt oder legitimiert.

  3. Die USA werden eine Lösung des Flüchtlingsproblems unterstützen, die mit dem Prinzip „zwei Staaten für zwei Völker“ vereinbar ist und das Gefühl der Ungerechtigkeit der palästinensischen Flüchtlinge anspricht, indem sie ihnen sinnvolle Möglichkeiten zur Neuansiedlung und finanziellen Entschädigung bietet. Vorschläge, die das Prinzip von zwei Staaten für zwei Völker untergraben – wie etwa Vorschläge für eine unbegrenzte Einreise palästinensischer Flüchtlinge in den Staat Israel – werden von den USA abgelehnt werden.

  4. Die USA sind der Meinung, dass beide Staaten starke Sicherheitsgarantien genießen müssen. In diesem Zusammenhang werden die USA die Errichtung eines nicht-militarisierten palästinensischen Staates zusammen mit Sicherheitsmechanismen unterstützen, die legitime israelische Anliegen berücksichtigen und gleichzeitig die palästinensische Souveränität respektieren. Die USA werden die Präsenz einer von den USA geführten multinationalen Truppe unterstützen, um die Sicherheitsvorkehrungen und Grenzübergänge zu überwachen.

  5. Die USA sind der Meinung, dass Jerusalem die Heimat der Hauptstädte beider Staaten sein sollte, wobei die jüdischen Viertel unter israelischer Souveränität und die arabischen Viertel unter palästinensischer Souveränität stehen sollten. Zwischen den Parteien sollten Vereinbarungen über die Altstadt getroffen werden, die vorsehen, dass jede Seite ihre heiligen Stätten kontrolliert und jeder Gemeinde ungehinderten Zugang zu ihnen gewährt.

  6. Die USA werden die Aussöhnung von Fatah und Hamas unter Bedingungen fördern, die mit diesen Prinzipien und den Resolutionen 242 und 338 des UN-Sicherheitsrats vereinbar sind.

Die USA müssen Israel „motivieren“ (mit welchen Mittel auch immer), seine Politik radikal zu ändern und auf Basis des Genfer Abkommens und der arabischen Friedensinitiative eine umfassende Lösung des Nahostkonflikts aktiv angehen. 

Ein palästinensischer Staat mit eingeschränkter Souveränität

Ein eigener palästinensischer Staat ist unumgänglich, kann aber nicht über völlige Souveränität verfügen. Auch das Genfer Abkommen schreibt einen entmilitarisierten Staat vor, vielleicht vergleichbar mit Costa Rica, dessen Verfassung seit 1949 ein stehendes Militär in Friedenszeiten verbietet. Daran sollte sich ein Staat Palästina orientieren. 

Israel ist ein Land ohne strategische Tiefe. Die schmalste Stelle zwischen Mittelmeer und der Grenze zum Westjordanland ist nur 15 Kilometern breit. Die größte West-Ost-Ausdehnung beträgt lediglich 135 Kilometer. Wer nie vor Ort war, kann die besondere Topographie des Raums nicht verstehen. Als ich 1986 erstmals Jerusalem besuchte und vom Skopusberg über das Land blickt, wurde mir erst bewusst, wie kleinräumig alles ist. Eine Rücksichtnahme auf israelische Sicherheitsbedürfnisse muss Teil eines jeden Abkommens sein. 

Mit wem soll Israel verhandeln?

Oft wird argumentiert, dass Israel gar keinen Verhandlungspartner auf palästinensischer Seite habe. Die Hamas kommt nicht in Frage, der amtierende Präsident Mahmud Abbas regiert seit Jahren ohne politische Legitimation und hat in der Bevölkerung wenig Unterstützung. In einem israelischen Gefängnis sitzt seit über 20 Jahren ein Politiker und Führer der Fatah, dem das Potenzial eines „palästinensischen Nelson Mandelas“ zugesprochen wird und in der palästinensischen Bevölkerung nach wie vor hohe Wertschätzung genießt: Marwan Barghouti. Desillusioniert vom gescheiterten Oslo-Prozess zählte er zu den Anführern der 2000 ausgebrochenen zweiten Intifada und wurde von einem israelischen Zivilgericht 2004 wegen fünffachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Ich weiß nicht, ob der Vergleich mit Nelson Mandela berechtigt ist, aber vielleicht hat Barghouti das Potenzial, in die Fußstapfen von Menachem Begin zu treten, der als Anführer der zionistischen Irgun-Gruppe für den Anschlag auf das King-David-Hotel in Jerusalem 1946 – dem Sitz der britischen Kolonialverwaltung in Palästina – verantwortlich war, die 91 Menschen tötete. Trotz seiner terroristischen Vergangenheit wurde Menachem Begin als israelischer Ministerpräsident zu einem Wegbereiter des Friedens und unterzeichnete im März 1979 in Washington mit dem ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat einen Friedensvertrag, der noch heute anhält. Barghouti will Frieden und Zusammenarbeit mit Israel, seine Botschaft an Israel aus der Jahr 2002 ist auch heute noch aktuell: „Beenden Sie die Besatzung, erlauben Sie den Palästinensern, in Freiheit zu leben, und lassen Sie die unabhängigen und gleichberechtigten Nachbarn Israels und Palästinas über eine friedliche Zukunft mit engen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen verhandeln“. Laut einer aktuellen Umfrage würde Barghouti bei Wahlen sowohl im Westjordanland als auch im Gazastreifen mit großem Vorsprung gewinnen. Israel sollte ihm die Chance geben, sich als Mann des Friedens zu erweisen.

„Jerusalem-Charta“ – Eine neue Vision für den ganzen Nahen Osten 

Das Momentum für eine Friedenslösung kann noch verstärkt werden, indem diese in eine Vision für den gesamten Nahen Osten eingebettet wird, die da lautet: Israel und Palästina werden gemeinsam mit allen dazu bereiten Staaten des Nahen Ostens eine „Jerusalem-Charta“ ausarbeiten. Ein Konvent aus Beauftragten der Regierungschefs, Abgeordneten der nationalen Parlamente und Vertreter:innen von Organisationen der Zivilgesellschaft wird zusammentreffen und innerhalb einer bestimmten Frist einen Entwurf vorlegen. Die „Jerusalem-Charta“ sollte folgendes umfassen, und dementsprechend wäre das Mandat für den Konvent zu definieren:

  • die Schaffung eines Raums des Friedens und der Sicherheit nach dem Vorbild der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE); 
  • die Entwicklung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums nach dem Modell des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), in dem die vier klassischen Freiheiten des EU-Binnenmarktes (freier Güter,- Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr) so weit wie möglich verwirklicht werden;
  • die Ausarbeitung eines länderübergreifenden Grünen Deals für eine klimaneutrale Zukunft.

Ich habe bewusst den Namen „Jerusalem“ für die Charta gewählt, weil es gerade diese Stadt – seit Jahrtausenden trauriges Opfer des religiösen Fundamentalismus auf diesem Planeten – verdienen würde, nach all den Zerstörungen und Kriegen zu einem Synonym für eine neue Friedensordnung im Nahen Osten zu werden. 

Wahrscheinlich werden viele diese Vision als unrealistisch oder blanken Unsinn bezeichnen. Galt diese Einschätzung nicht auch lange Zeit für den europäischen Integrationsprozess? Es brauchte die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, um über allen Gräben hinweg die Hand zur Zusammenarbeit auszustrecken. Möge der 7. Oktober in diesem Sinne einen Wendepunkt markieren. Das wäre die größte Niederlage für alle Terroristen, Extremisten und Antisemiten. 

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