Infobrief 4|23 | Kraitt: Comeback der US-Gewerkschaften
Infobrief 4|23 | Kraitt: Comeback der US-Gewerkschaften © AK WIEN
Dezember 2023

State of the Unions: Das Comeback der US-Gewerkschaften

Der amerikanische Individualismus hat ausgedient. In Zeiten eklatanter Ungleichheit setzen immer mehr US-Bürger:innen auf ein Kollektiv. Die aus ihrem Dämmerungsschlaf erwachte Gewerkschaftsbewegung bildet hierfür den zentralen Bezugspunkt.

Autorin: Tyma Kraitt

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„Ihr habt die Automobil-Industrie gerettet. Ihr habt viel aufgegeben, als es den Unternehmen schlecht ging. Jetzt geht es ihnen unglaublich gut. Wisst ihr was? Euch sollte es auch unglaublich gut gehen!” Diese ungewöhnlich direkte und klare Ansage von US-Präsident Joe Biden fand letzten September viel Resonanz in der nationalen wie internationalen Berichterstattung. Nicht nur der Ton, auch das Setting seiner Ansprache war bemerkenswert. In Detroit im Bundesstaat Michigan besuchte Biden einen Streikposten der United Auto Workers. Ein historischer Besuch, den kein amtierender Präsident vor ihm gewagt hat. Die offene Unterstützung für den Kampf von Lohnabhängigen in der Automobilindustrie unterstreicht Bidens pro-Gewerkschaftsimage. Ein Image, das er spätestens seit den letzten Wahlen bemüht und von dem er sich auch 2024 einen großen Vorteil gegen seinen republikanischen Herausforderer, sei es wieder Donald Trump oder Ron DeSantis, verspricht. Wenig überraschend werfen ihm seine Gegner:innen reine Symbolpolitik vor. 

In der politischen Kommunikation setzt Joe Biden viel auf Gesten und Symbolik. Dies lässt sich nicht abstreiten und ist per se auch nicht verwerflich. So wurde das Amt der Arbeitsministerin März 2023 der Juristin Julie Sue übertragen, einer Tochter chinesischer Einwander:innen und langwierige Kämpferin gegen Lohnraub. Sue vertrat in den 90er Jahren dutzende thailändische Arbeiter:innen. Diese waren illegal ins Land gebracht worden, um für einen Hungerlohn in einem kalifornische Sweatshop zu arbeiten. Eine Persönlichkeit wie Julie Sue zur Arbeitsministerin zu machen ist natürlich ein mahnendes Signal an Unternehmen, die schon viel zu lange ausbeuterische Praktiken kultiviert haben.



Über die Autorin

Tyma Kraitt ist Autorin und Erwachsenenbildnerin mit Schwerpunkt auf Außenpolitik. Sie studierte Philosophie an der Universität Wien und ist aktuell Mitarbeiterin der Nationalratsabgeordneten Muna Duzdar (SPÖ).

Tyma Kraitt
Tyma Kraitt © privat

Kurz und Knapp

  • Über 450.000 Arbeitnehmer:innen nahmen 2023 aktiv an einem Streik teil.

  • Über 300 Streiks zählte das Jahr 2023. Größere mediale Aufmerksamkeit bekam der Streik der Drehbuchautor:innen in Hollywood, der die Traumfabrik praktisch lahmlegte.

  • Biden sieht in der Gewerkschaftsbewegung eine Partnerin, um die Mittelschicht wirtschaftlich wieder zu stabilisieren. Aktionismus ist dabei sehr willkommen, Radikalität weniger.

  • Die Ausgangsposition könnte keine bessere sein. Die Arbeitslosigkeit ist relativ niedrig. Von 4,6 Prozent im Oktober 2021 hat sie sich derzeit auf 3,9 Prozent eingependelt.

  • Im Großen und Ganzen stellen die Bidenomics tatsächlich eine Abkehr dar von den seit der Präsidentschaft Ronald Reagans dominanten neoliberalen Praktiken dar.

  • Auf dem Papier lesen sich die Zahlen zwar gut, sie bleiben aber abstrakt. Denn in einer verbesserten Lebensrealität haben sie sich für viele Bürger:innen noch nicht niedergeschlagen.

Die Frage nach dem Sein und Schein von Bidens Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik ist berechtig. Um sie genauer zu erörtern, ist jedoch ein Blick auf jüngste gesellschaftspolitische Entwicklungen nötig.

Streiks im Trend

Die Krisen der vergangenen Jahre, von der Pandemie bis zur Inflation, trugen wesentlich zur Entstehung und Mobilisierung einer neuen Arbeiter:innenbewegung bei. Die eklatanten ökonomischen Missstände – der seit Jahrzehnten nicht angehobene Mindeststundenlohn (auf Bundesebene beträgt er immer noch 7,25 USD), die hohe Haushaltsverschuldung wegen teurer Gesundheitsversorgung, Bildung u.v.m. – haben aber vorher schon eine gesellschaftliche Zuspitzung vorangetrieben.

Über 450.000 Arbeitnehmer:innen nahmen 2023 aktiv an einem Streik teil. In unterschiedlichsten Branchen und Industrien wurde für bessere Gehälter, neue Tarifverträge und sichere Arbeitsbedingungen gekämpft. Ob Krankenpfleger:innen, Drehbuchautor:innen oder die Kolleg:innen, die in den Werken der großen Automobilhersteller General Motors, Ford und Stellantis tätig sind. Diese Entwicklung zeigt sehr deutlich: Wo Arbeitskämpfe erfolgreich geführt werden, inspirieren sie viele weitere. Dabei beträgt der Anteil von Arbeitnehmer:innen, die Gewerkschaftsmitglied sind, gerade einmal zehn Prozent (Stand:2022). Wenig verwunderlich, dass sich die großen Auseinandersetzungen der letzten Jahre bei Konzernen wie Amazon oder Starbucks stark um das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung drehten. Um wirksam zu sein, ist der Aufbau einer gewissen Organisationsmacht notwendig. Aus dem kollektiven Zusammenschluss ergibt sich die Möglichkeit, Kräfte zu bündeln, Infrastruktur aufzubauen und materielle wie personelle Ressourcen, die für den Arbeitskampf nötig sind, zur Verfügung zu stellen. Dies hatten auch Stripperinnen im kalifornischen Star Garden Club im Sinne, als sie im Mai 2023 nach langen Auseinandersetzungen endlich erstmals eine Gewerkschaft gründen konnten. Unterstützt wurden sie dabei von der Actor Equity Association, deren Präsidentin, Kate Shindle, das so kommentierte: „Jeder arbeitende Mensch, der eine Gewerkschaft will, verdient eine Gewerkschaft. Die Star Garden-Tänzerinnen waren während dieses langen Prozesses absolute Kämpferinnen und ich bin begeistert, dass wir die Anerkennung ihrer Rechte auf Sicherheit und Demokratie am Arbeitsplatz erhalten haben sowie einen Platz am Verhandlungstisch.“

Über dreihundert Streiks zählte das Jahr 2023. Größere mediale Aufmerksamkeit bekam der Streik der Drehbuchautor:innen in Hollywood, der die Traumfabrik praktisch lahmlegte und nach 150 Tagen eine Einigung mit den großen Filmstudios erzielte. Die Writers Guild of America (kurz WGA) vertritt rund 11.000 Autor:innen in der Film- und Fernsehindustrie. Mit ihrem Protest waren sie nicht alleine. Auch die Schauspieler:innen-Gewerkschaft SAG-AFTRA streikte zeitgleich im Sommer für bessere Löhne, Sicherheitsstandard am Arbeitsplatz und vieles mehr in einer Industrie, die durch Streamingdienste und Künstliche Intelligenz zusehends in Bedrängnis gerät.

Doch damit nicht genug, denn während in Hollywood langsam Ruhe einkehrte, kündigte im Herbst das Gesundheitspersonal beim Unternehmen Kaiser Permante Protestmaßnahmen an. 75.000 Pfleger:innen, Therapeut:innen, Techniker:innen und viele mehr traten drei Tage lang in den Streik. Der Erfolg blieb nicht aus. Nach einmonatigen Verhandlungen wurde beschlossen, die Löhne um 21 Prozent zu erhöhen, allerdings in einem Zeitraum von vier Jahren. Weiters soll in die Fortbildung der Beschäftigten investiert werden.

Die Macht einer Gewerkschaft

Lange Zeit schien die US-Gewerkschaftsbewegung in eine Lethargie verfallen zu sein, gebändigt von Ronald Reagen, der als Präsident ab 1981 dem Land eine harte neoliberale Doktrin auferlegte. Arbeiterlieder wie „There is power in a union“, geschrieben vom Liedermacher und Wanderarbeiter Joe Hill, erinnern an andere Zeiten und Traditionen. Die Gewerkschaften schöpften jedoch ab den 1980er Jahren dieses Machtpotenzial immer weniger aus. Stattdessen war ihr Agieren von Konfliktscheue geprägt. Verhandelt wurde in Hinterzimmern, und Streiks waren als Druckmittel kaum mehr denkbar. Wenig verwunderlich kam es allmählich zu einem Mitgliederschwund. Nun schlägt das Pendel jedoch wieder in die andere Richtung. Selbst die pragmatischen Teamsters setzten 2023 in ihrem Disput mit UPS auf Streik. Wobei es in diesem Falle nur bei der Drohung blieb: UPS lenkte ein und erfüllte die Mehrheit der Forderungen wie z.B. höhere Gehälter für Teilzeitkräfte, ehe es überhaupt zu den Kampfmaßnahmen kam. Die Teamsters (auch: International Brotherhood of Teamsters) sind die größte Einzelgewerkschaft in den USA und vertreten 1,4 Millionen Kolleg:innen. Davon sind etwa 340.000 als Transportarbeiter:innen bei UPS beschäftigt.

Im angloamerikanischen Kontext wird in der Regel zwischen dem gemäßigten business unionism und dem klassenkämpferischen social unionism unterschieden. Ersterer stellte lange Zeit den dominanten Gewerkschaftstypus. Letzterer ist immer noch nicht stark verbreitet, erlebt aber einen Aufschwung, wie ganz allgemein progressive Stimmen in der politischen Landschaft. Im Großen und Ganzen dürfte aber aktuell eher ein liberal unionism, der sich als Mittelweg präsentiert, an Bedeutung gewinnen. Grund dafür ist der Rückhalt seitens der Biden-Administration. Diese sieht in der Gewerkschaftsbewegung eine Partnerin, um die Mittelschicht wirtschaftlich wieder zu stabilisieren. Aktionismus ist dabei sehr willkommen, Radikalität weniger. Die Demokratische Partei steht bekanntlich mehr für Ausgleich und moderate Veränderung als für eine Umwälzung der bestehenden Verhältnisse. Mit dem sogenannten PRO-Act präsentierte sie einen Gesetzesentwurf, der die gewerkschaftliche Organisierung schützen und erleichtern soll und sich insgesamt stark für engagierte Arbeitnehmer:innenvertretungen einsetzt. Das Gesetz scheiterte bisher am Widerstand der Republikanischen Partei. Die Demokrat:innen haben den Kampf jedoch noch nicht aufgegeben. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Biden im Wahlkampf 2024 mit dem Gesetzesvorschlag kampagnisieren wird.

Auf institutioneller Ebene ist die „pro“-Haltung der Demokratischen Partei zu gewerkschaftlichen Engagements schwer zu widerlegen. In realen Auseinandersetzungen sieht die Sache wie so oft ambivalenter aus. So intervenierten die Biden-Administration und der Kongress Ende letzten Jahres in einen Disput von Güterbahnarbeiter:innen mit ihren Arbeitgeber:innen. Als gedroht wurde, die vier großen Güterbahnen des Landes stillzulegen, wurde von der Politik eine Einigung erzwungen. Die Demokrat:innen rechtfertigten ihr Vorgehen damit, dass sie einen großen Schaden für die US-Wirtschaft verhindern mussten. Ein wesentlicher Streitpunkt zwischen Gewerkschaft und Bahnunternehmen war die Anzahl bezahlter Krankenstände. In der Einigung wurde dies zum Missfallen der Arbeitnehmer:innen ausgeklammert. Viele betrachteten die Einigung als Niederlage, trotz zugesprochener Gehaltserhöhungen von 14 Prozent.

Wachsende Popularität und Glaubwürdigkeit

Auch die öffentliche Meinung bestärkt einen konfrontativeren Kurs in Auseinandersetzungen zwischen Unternehmen und Lohnabhängigen. Laut einer Umfrage des Gallup-Instituts vom August 2023 unterstützten 72 Prozent der Befragten den Streik der Drehbuchautor:innen und immer noch 67 Prozent jenen von Schauspieler:innen der TV- und Filmbranche. Dabei waren die Studiobosse bemüht, letzteren als elitären Hollywood-Protest reicher Promis zu diffamieren. Mit der Realität hat dies freilich wenig zu tun. Laut US-Büro für Arbeitsstatistik beträgt der durchschnittliche Stundenlohn von Schauspieler:innen 27,73 USD. Zu bedenken ist, dass die Aufträge nicht regelmäßig kommen und es sich hier nicht um einen klassischen 9-to-5 Job handelt. SAG-AFTRA hat geschätzte 160.000 Mitglieder, doch nur sieben Prozent verdienen über 80.000 USD im Jahr. Sehr viele Schauspieler:innen können sich nicht einmal eine Gesundheitsversicherung leisten.

So unterschiedlich die Branchen auch sein mögen, die allgemeine Unterstützung für die Anliegen von Arbeitnehmer:innen ist in den USA sehr hoch. Ebenso die Zustimmung für Gewerkschaften. Das Bewusstsein dafür, dass eine gewerkschaftliche Interessensvertretung immens wichtig ist, nimmt zu. Gemäß der zuvor schon zitierten Gallup-Umfrage schätzen 61 Prozent der Befragten die Rolle von Gewerkschaften als positiv ein – nicht nur für Lohnabhängige. Geht es ihnen gut, geht es der gesamten Wirtschaft gut, lautet die Prämisse. Während ein Jahr nach der großen Rezession von 2008 nur ein Viertel der Befragten US-Bürger:innen die Meinung vertrat, dass Gewerkschaften mehr Einfluss haben sollten, sind es heute 43 Prozent. Eine Imagepolitur, die sich durchaus sehen lassen kann. Im Grunde genommen zeigt sich darin, dass die Arbeiter:innenbewegung wieder als gesellschaftlich relevanter Faktor betrachtet wird. Sie hat die öffentliche Meinung, teilweise auch die „veröffentlichte“ Meinung in Form der Medienberichterstattung auf ihrer Seite. Eine neue Generation von Arbeitsjournalist:innen mischt die Branche aktuell auf. Aus einer Medienlogik heraus wurde das Thema „Arbeit“ nicht gerade als besonders emotionalisierend empfunden. Damit sei es ungeeignet, für mehr Reichweite und Klicks zu sorgen. Das hat sich mittlerweile geändert, denn das Interesse von Leser:innen an diesen neuen Auseinandersetzungen ist groß. Es ist mittlerweile nicht mehr ungewöhnlich, dass Medienhäuser auch Reporter:innen mit Schwerpunkt auf Arbeit und Gewerkschaftspolitik beschäftigen. Diese Tendenz ist mitunter einer jüngeren Generation von Journalist:innen zu verdanken. Weil sie sich (in der Medienbranche durchaus verbreitet) in prekären Arbeitsverhältnissen befinden, sind sie für soziale Problematiken stärker sensibilisiert. Die größte Unterstützung für Gewerkschaften soll heute von der sogenannten Gen Z (geb. ab 1997) ausgehen. Diese neue Diskursmacht von Arbeitnehmer:innenorganisationen gründet einerseits auf einen neuen engagierteren Journalismus und andererseits auf sozio-ökonomischen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Stimmungslagen in den USA.

Bidenomics: Von unten nach oben

Die Ausgangsposition könnte keine bessere sein. Die Arbeitslosigkeit ist relativ niedrig. Von 4,6 Prozent im Oktober 2021 hat sie sich derzeit auf 3,9 Prozent eingependelt. Zu bedenken ist hierbei, dass nach Ausbruch der Covid 19-Pandemie im Jahre 2020 die Arbeitslosenzahlen auf 13,3 Prozent angestiegen waren. Die große Krise ist jedoch vorerst überwunden. Jetzt ist es vor allem ein Arbeitskräftemangel, der Menschen die Möglichkeit bietet, für gute Löhne und Tarife zu verhandeln. Und dies wird bis zu einem gewissen Grad auch von der US-Regierung unterstützt. Laut einem jüngeren Bericht des US-Finanzministeriums erzeugen Gewerkschaften einen positiven Spillover-Effekt für die Gesamtwirtschaft und auch für nicht-organisierte Arbeitnehmer:innen – unter anderem weil sie eine Art Firewall gegen Stagnation von Gehältern oder gar Lohndumping bilden. Darüber hinaus verdienen gewerkschaftlich Organisierte im Durchschnitt zehn bis fünfzehn Prozent mehr als unorganisierte Kolleg:innen und haben einen einfacheren Zugang zur medizinischen Grundversorgung sowie höhere Pensionen. Der Bericht kommt zum Schluss, dass engagierte Gewerkschaften zu höherer Produktivität und Wirtschaftswachstum beitragen. Auftraggeber war übrigens die 2021 vom Weißen Haus ins Leben gerufene Pro Union-Taskforce. Ihr Ziel ist es, Arbeiter:innen und Angestellte zur Organisierung zu motivieren. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf benachteiligte Gruppen wie Afro- und Hispanoamerikaner:innen, die häufig im Niedriglohnsektor beschäftigt sind.

Das Schlagwort „Bidenomics“ wurde ursprünglich von Republikaner:innen in die Debatte eingebracht und war eher ironisch gemeint. Die Demokratische Partei hat es jedoch übernommen und für Bidens Wirtschaftspolitik positiv umgedeutet, die als ein großer Wurf präsentiert wird. Eine engere Zusammenarbeit mit Gewerkschaften ist nur ein Pfeiler davon, ebenso liegt das Augenmerk auf einer Reichensteuer und massiven Investitionen in die Infrastruktur. In vielen Punkten steht dieser Ansatz in diametralem Widerspruch zu den sogenannten „Reaganomics”. Letztere bezeichnen eine Doktrin, die eine radikale Deregulierung der Wirtschaft anstrebt. Zu ihren wesentlichen Kernelementen gehören Steuerkürzungen für Reiche sowie Beendigungen von Gewerkschaftsverträgen. Beispielsweise ließ Präsident Reagan unter anderem mit dem Tax Reform Act of 1986 den Spitzensteuersatz für Bestverdienende von 50 auf 28 Prozent senken. Größere Gewinne und Steuerbegünstigungen für Reiche sollten gemäß eines Trickle-Down-Effektes nach unten zur Mittelschicht und ärmeren Gruppen durchsickern. Eine These, die mittlerweile ruhig angezweifelt werden darf. Auch Joe Bidens Wirtschaftsagenda setzt nicht mehr bei den Reichen an, sondern bei der Stärkung der Mittel- und unteren Schichten. Im Großen und Ganzen stellen die Bidenomics eine Abkehr von den seit der Präsidentschaft Ronald Reagans eingeführten neoliberalen Praktiken dar. In einem Punkt wird jedoch die Kontinuität gewahrt. Bis zum Ende der Präsidentschaft Reagans wurde das Militärbudget auf 300 Milliarden USD verdoppelt. Die Biden-Administration hat ihrerseits für das Fiskaljahr 2023 einen Verteidigungshaushalt in der Höhe von 858 Milliarden USD durchgesetzt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Budget 2024 noch höher ausfallen wird. Diese immensen Ausgaben werden von links bis rechts scharf kritisiert. Auch innerhalb der Bevölkerung gibt es großen Unmut über Unsummen an Militärhilfen für Verbündete wie die Ukraine, Israel oder Ägypten. Sollte Donald Trump wieder zur Wahl antreten, ist es sehr wahrscheinlich, dass er seine alte „Amerika zuerst!“-Parole wiederbelebt, um Protestwähler:innen zu mobilisieren – obgleich Trumps Militärbudget in Vergangenheit nicht wesentlich geringer ausfiel.

Große Vorhaben, die nicht ganz überzeugen

Seit Joe Bidens Amtsantritt wurden aus der Privatwirtschaft Investitionszusagen in der Gesamthöhe von rund 500 Milliarden USD für den Produktionssektor (z.B. Herstellung von Halbleitern und E-Fahrzeugen) und Erneuerbare Energie angeregt. Dies ist auf drei beschlossene Bundesgesetze, die jeweils riesige Hilfspakete inkludieren, zurückzuführen: dem Infrastructure Investment and Jobs Act, dem Inflation Reduction Act und dem CHIPS and Science Act. Mit öffentlichen Investitionen sowie dem Ausbau öffentlicher Dienstleistungen will man die USA modernisieren und fit machen für die künftige Herausforderungen, etwa jene des Klimawandels. In der Umsetzung seiner Wirtschaftsprojekte musste Biden viele Abstriche machen. Nicht nur die Republikanische Partei leistet erbitterte Opposition, auch in den eigenen Reihen durchkreuzen politisch konservativere Kolleg:innen immer wieder die Pläne des Präsidenten.

Insgesamt sind die Bidenomics durchaus erfolgreich. Das BIP ist heuer im dritten Quartal um 4,9 Prozent gewachsen. Eine Entwicklung, die dem Amtsinhaber bei den kommenden Präsidentschaftswahlen den Sieg sichern soll. Doch sicher ist momentan gar nichts. Auf dem Papier lesen sich die Zahlen zwar gut. Sie bleiben aber abstrakt. Zu verbesserten Lebensrealitäten vieler Bürger:innen  haben sie noch nicht geführt. Und deren Unmut schlägt sich aktuell in den Umfragewerten nieder. Insbesondere in wichtigen Swing States, also Staaten, in denen es keine klare Tendenz für einen demokratischen oder einen republikanischen Kandidaten gibt, nimmt die Popularität Donald Trumps wieder zu. Eine Befragung der New York Times ergab, dass 59 Prozent der Wahlberechtigten in sechs wichtigen Swing States mehr Vertrauen in die Wirtschaftskompetenz Trumps haben. Solange die Erfolge der Bidenomics nicht bei der Bevölkerung angekommen sind, wird es schwierig für die Demokrat:innen. Die Inflation ist zwar gesunken, doch Lebensmittelerhaltungskosten sind immer noch viel höher als noch vor zwei Jahren. So robust sich die Gesamtwirtschaft auch präsentiert, sie kann nicht über die bittere Realität hinwegtäuschen: 64 Prozent aller US-Haushalte leben von einem Gehaltsscheck zum nächsten. Diese Problematik wird selbstverständlich seitens der Republikaner:innen instrumentalisiert. Ex-Vizepräsident Mike Pence kritisierte dies unlängst: „Bidenomics hat versagt. Die Gehälter kommen der Inflation nicht nach.“

Und dennoch: für US-Verhältnisse ist Joe Bidens Wirtschaftspolitik ambitioniert und schlägt in vielen Punkten neue Wege ein. Die Aufwertung von Gewerkschaften als Verbündete ist durchaus bemerkenswert. Dadurch erhalten neue Arbeitskämpfe Rückenwind und Legitimation. Die demokratische Regierung mag vorerst zu wenig geliefert haben. Sie ermöglichte aber eine leichte Veränderung der Rahmenbedingungen, die es nun Arbeitnehmer:innen eine Spur einfacher machen, sich selbst für eine Verbesserung ihrer Situation einzusetzen. Strebt Biden 2024 seine Wiederwahl an, muss er den eingeschlagenen Weg konsequenter weitergehen.

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