Demokratien unter Druck: Reicht das Demokratiepaket der Europäischen Kommission aus?
Die repräsentative Demokratie stellt einen der grundlegenden Werte in der Europäischen Union dar. Damit ein Land Mitglied der Europäischen Union werden kann, muss es unter anderem sicherstellen, dass es die demokratischen Werte achtet und sich für deren Förderung einsetzt. Doch welche Rolle spielt die Demokratie im Alltag? Wie die Kommission erst vor wenigen Monaten selbst feststellte, gibt es in einigen EU-Mitgliedsstaaten und Drittstaaten demokratiepolitisch beunruhigende Entwicklungen. Sie kündigte aus diesem Grund ein Maßnahmenpaket an.
Autor: Frank Ey
Diesen Artikel downloadenIn den vergangenen Jahren haben die EU-Institutionen bereits einige Schritte ergriffen, um die Demokratie auf EU-Ebene zu stärken. Darunter fällt insbesondere die Einführung der Konditionalität zum Schutz des EU-Haushalts im Jahr 2018, die nun seit 2021 zum Einsatz kommt. EU-Staaten können demnach Förderungen gekürzt oder gestrichen werden, wenn sie die im EU-Vertrag verankerten Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit nicht einhalten.
In ihrer Antrittsrede am 15. Juli 2019 vor dem Europäischen Parlament hat Kommissions-Präsidentin Ursula Von der Leyen weitere Maßnahmen zur Stärkung der Demokratie in Europa versprochen. Unabhängige und faire Wahlen, die Förderung von Medienfreiheit und Medienpluralismus sollen damit gesichert werden. Der Verbreitung von Desinformationen und verdeckte ausländische Einflussnahme sagt die Kommission den Kampf an.
In der Zwischenzeit hat die Europäische Kommission Rechtsvorschläge zur Transparenz und zum Targeting politischer Werbung sowie zur Korruptionsbekämpfung vorgelegt. Zudem hat die Kommission eine Konsultation zu einem Maßnahmenpaket zur Verteidigung der Demokratie vor verdeckter ausländischer Einflussnahme durchgeführt.
Alle drei Themenbereiche befinden sich noch in Verhandlung und werden daher in absehbarer Zeit noch nicht in Kraft treten. Dass diese Maßnahmen sehr spät kommen, haben die Entwicklungen der letzten Jahre gezeigt. Die Missstände in mehreren EU-Mitgliedsstaaten sowie in den EU-Institutionen selbst zeigen wie überfällig dieses Vorhaben ist, wie im Folgenden beschrieben wird.
Ungarn: Demokratie oder nicht mehr?
Zu den Ländern in der Europäischen Union, die demokratiepolitisch am problematischsten agieren, ist Ungarn sicher zuallererst zu erwähnen. Bei zahlreichen ungarischen Vorhaben wie dem Mediengesetz, der Justizreform, dem Hochschulgesetz oder hinsichtlich von Asylbestimmungen hat Orbáns Regierung massiv gegen EU-Grundsätze verstoßen. 2015 kokettierte der ungarische Premier sogar mit der Idee, in seinem Land die Todesstrafe wiedereinzuführen.
Ein Besuch von Vertreter:innen des Haushaltskontrollausschusses des Europäischen Parlaments in Ungarn im Mai 2023 zeigte, dass sich an der Einstellung der ungarischen Regierung nach wie vor nichts geändert hat. Manager von österreichischen, deutschen und französischen Unternehmen berichten, dass sie unter Druck gesetzt werden, ungarischen Oligarchen Anteile an ihren Firmen abzugeben. Passiert das nicht, werden sie mit Schikanen überzogen: Demnach tauchten auch schon bewaffnete Geheimdienstleute mit einem Übernahmeangebot bei den Firmen auf oder es gab plötzlich Inspektionen und behördliche Anordnungen. Sogar von „Besuchen“ bei der Familie zuhause wird berichtet.
Das Europäische Parlament steht den Entwicklungen in Ungarn äußerst kritisch gegenüber und spricht in einer Entschließung vom September 2022 sogar von einer Wahlautokratie, die systematisch europäische Werte untergrabe. Es fänden zwar Wahlen statt, demokratische Normen und Standards würden aber nicht eingehalten werden. Den Rat fordert das EU-Parlament auf, ihre zögerliche Haltung zu beenden und Maßnahmen gegen das ungarische Verhalten zu setzen.
Probleme auch mit Polen
Als problematisch muss auch die Beziehung zu Polen beschrieben werden. Denn auch dort wurde die Medienfreiheit massiv beschnitten und durch Einzelmaßnahmen auf Linie gebracht. Zudem wurde das Justizsystem umgekrempelt und der Verfassungsgerichtshof entmachtet.
Der jüngste EU-Rechtsstaatlichkeitsbericht äußert erhebliche Kritik an Polen und listet zahlreiche Verfehlungen auf, die umgehend behoben werden sollen. Haarsträubend ist in Bezug auf die bevorstehenden Wahlen in Polen vor allem das sogenannte „Anti-Tusk-Gesetz“, das einen politischen Machtwechsel verhindern soll. Offiziell dient das Gesetz dazu „russische Agent:innen“ von öffentlichen Ämtern auszuschließen. Personen, die aufgrund dieses Gesetzes verurteilt werden, können dagegen berufen, allerdings ist dafür ein Sondergericht zuständig und bis zu einem Urteil kann es Jahre dauern.
EU-Rechtsstaatlichkeitsverfahren wirkt
Sowohl im Falle Ungarns als auch Polens laufen mehrere Verfahren wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit. Für Ungarn geht es mittlerweile um Mittel in Höhe von rund 30 Mrd. € aus dem Kohäsions- sowie dem Wiederaufbaufonds, die bislang eingefroren wurden.
Aufgrund der zahlreichen Verstöße gegen EU-Recht hat die Europäische Kommission derzeit sogar rund 110 Mrd. € an Fördermittel für Polen eingefroren. 75 Mrd. € betreffen den Kohäsionsfonds, rund 35 Mrd. € den EU-Wiederaufbau-Fonds NextGenerationEU.
Beide Länder haben Reformmaßnahmen präsentiert, mit denen sie eine Aufhebung der Maßnahmen erreichen wollen. Die Europäische Kommission hat beispielsweise die Justizreform Ungarns begrüßt, macht aber darauf aufmerksam, dass Ungarn damit erst vier von 27 Meilensteinen auf dem Weg zur Auszahlung der EU-Förderungen erreicht hat. Die von Polen vorgeschlagene Justizreform jedoch wurde vom Europäischen Gerichtshof abgelehnt. Unter anderem fehle es nach wie vor an Garantien hinsichtlich eines unabhängigen und unparteiischen durch Gesetz errichteten Gerichts. Wegen der Säumigkeit bei der Umsetzung der Justizreform musste Polen bislang mehr als 550 Mio. Euro Strafe ins EU-Budget abführen.
Von Interessenkonflikten bis zu Korruption in EU-Institutionen
Korruption, also Missbrauch der eigenen Machtposition zum eigenen Vorteil, schadet den Demokratien, der Gesellschaft und der Wirtschaft als Ganzes und ist auch in der Europäischen Union ein Problem, wie Vorfälle in diesem Jahr bereits gezeigt haben. Grundsätzlich liegen viele EU-Mitgliedsländer im Korruptionswahrnehmungsindex sehr gut und es gibt nur wenig Machtmissbrauch. Im Ranking des von Transparency International erstellten Index sind sieben EU-Staaten unter den Top Ten-Ländern mit der geringsten Korruption. Zu den drei EU-Staaten mit dem EU-weit höchsten Grad an Korruption zählen Rumänien (Rang 63), Bulgarien (Rang 72) und wenig überraschend Ungarn (Rang 77) als schlechtestes EU-Land. Österreich ist in diesem Ranking im Vergleich zu den Vorjahren abgerutscht und befindet sich nur mehr auf Platz 22 (2021 Platz 13). Zum Vergleich: Dänemark und Finnland befinden sich auf den Plätzen eins und zwei, Deutschland auf Platz 9.
In den EU-Institutionen selbst gab es in der Vergangenheit immer wieder Fälle von Korruption und Günstlingswirtschaft. Erst vor wenigen Monaten wurde bekannt, dass das Emirat Katar offensichtlich eine griechische EU-Abgeordnete sowie einen ehemaligen italienischen EU-Abgeordneten bestochen hat, um Einfluss auf das EU-Parlament nehmen zu können. Vor einigen Jahren wurde auch ein Korruptionsfall durch einen österreichischen EU-Abgeordneten bekannt, der gegen Geldzahlungen auf die Gesetzgebung im EU-Parlament im Sinne seiner „Mandanten“ Einfluss genommen hat. Die illegalen Aktivitäten des Politikers flogen auf und er wurde schließlich zu einer Gefängnisstrafe in Österreich verurteilt.
Auf Ebene der Europäischen Kommission hat es in den letzten Jahrzehnten immer wieder Fälle gegeben, bei denen ehemalige EU-Kommissar:innen nach dem Ende ihrer Amtszeit ausgerechnet in dem Wirtschaftsbereich tätig werden, in dem sie vorher tätig waren. Interessenkonflikte waren beispielsweise im Telekommunikations-, im digitalen und im Bankensektor zu beobachten, bei denen die zuständigen Kommissar:innen Liberalisierungsschritte setzten und dann später genau nach ihrer EU-Tätigkeit genau in diese Bereiche in hochrangige Konzernpositionen wechselten.
Mit dem von der Kommission im Mai 2023 vorgelegten Rechtsvorschlag soll die Gesetzgebung zur Verfolgung von Korruptionsdelikten verschärft werden. Regelungen zu Bestechung, Geldwäsche, Veruntreuung, unerlaubte Einflussnahme, Amtsmissbrauch und Bereicherung sollen europaweit einheitlich mit empfindlichen Strafen geahndet werden. Im Zusammenhang damit steht auch eine Empfehlung der Kommission zum Schutz von Journalist:innen und von Personen, die sich gegen derlei illegale Aktivitäten engagieren.
Derweil hat das Europäische Parlament einen neuen Verhaltenskodex gegen Korruption vorangebracht, der sicherstellt, dass es zu keinen Bestechungsfällen wie bei „Qatargate“ mehr kommt.
Der Rechtsvorschlag ist dezidiert zu begrüßen. Er kommt jedoch angesichts der seit Jahren bekannten Korruptionsfälle sehr spät. Zudem haben die Verhandlungen dazu erst vor kurzem begonnen und es ist noch nicht geklärt wie der endgültige Rechtstext nach den Verhandlungen im Europäischen Parlament und im Rat aussehen wird bzw. wann er in Kraft tritt. Die Empfehlung zum Schutz von Journalist:innen ist zudem nicht ausreichend, weil sie keinerlei Verbindlichkeit für die Mitgliedsstaaten enthält, entsprechend tätig zu werden.
Zweifelhafte Methoden der Wahlbeeinflussung als zunehmendes Problem
Interventionen und Aktionen, die den Wahlausgang beeinflussen sollen, stellen ein ganz zentrales Problem dar. Desinformation sowie manipulierte Nachrichten spielen in den sozialen Medien eine große Rolle und oft ist zu hinterfragen, von wem diese Informationen stammen. Unmittelbar damit verbunden ist auch die Frage, wer derartige Aktionen finanziert. Schwerwiegende Auswirkungen können zudem Einflussnahmen auf Wahlprozesse haben. Zu nennen sind hier die Neueinteilung von Wahlbezirken, der ungerechtfertigte Ausschluss vom aktiven und passiven Wahlrecht, Stimmenkauf oder Hürden bei der Abgabe der Wahlstimme.
Derzeit steht beispielsweise gerade die polnische Regierung in Kritik, weil sie ein Gesetz verabschiedet hat, das offiziell gegen russische Einflussnahme gerichtet ist, tatsächlich aber zum Ausschluss der Wahlen von Mitbewerber:innen führen könnte. Von vielen wird dieses Gesetz daher als Lex Tusk bezeichnet, weil konkret der Oppositionsführer und ehemalige polnische Premierminister Donald Tusk unter den Anwendungsbereich dieses Rechtsaktes fallen könnte.
Mit der EU-Gesetzesinitiative soll ein EU-einheitlicher Rahmen bei politischer Werbung und Transparenz im Rahmen des Wahlprozesses geschaffen werden. Das Ziel der geplanten EU-Verordnung ist gezielte Werbung zu politischen Zwecken einzuschränken und dazu beizutragen, Desinformation und manipulierte Informationen wie „fake news“ in den sozialen Medien sowie Einflussnahmen rund um die Wahlen zu bekämpfen.
Der Verordnungsentwurf sieht vor, dass die neue Regelung für alle politischen Ebenen gelten sollen, also auch für die Landes- und Gemeindeebene. Zu klären ist unter anderem welche Werbung als politisch definiert werden soll. Das könnte der Fall sein, wenn ein Akteur als politisch definiert wird oder wenn Inhalte, Zielsetzung und Kontext entsprechende Merkmale aufweisen. Nicht geklärt ist damit aber auch, ob zivilgesellschaftliche Organisationen in den Anwendungsbereich fallen. Einer der heikelsten Punkte ist jedoch die Frage der Techniken, die bei der Bewerbung angewandt werden. Bei zielgerichteter Werbung besteht immer die Gefahr des Einsatzes von sensiblen Daten wie sexuelle Orientierung, Religionszugehörigkeit, ethnische Zugehörigkeit etc.
Seit Anfang 2023 verhandeln das Europäische Parlament und der Rat über die Verordnung, bislang ohne Ergebnis. Ob es nun im Herbst zu einer Einigung kommt, bleibt offen. Damit ist auch ungewiss, ob die Verordnung bis zu den EU-Wahlen 2024 angewandt werden kann.
Demokratiepolitik in Drittstaaten
Nicht nur innerhalb der Europäischen Union, sondern weltweit werden demokratische Systeme auf die Probe gestellt, beschnitten und im schlimmsten Fall sogar gänzlich außer Kraft gesetzt. Beispielsweise bei Staaten, die durch Militärputsche in die Diktatur getrieben werden wie in Myanmar oder dem Niger. Die Europäische Union verhängte dazu Sanktionen bzw. bereitet sie vor. Ob sie erfolgreich sein werden, ist jedoch bislang unsicher.
Die Ereignisse in den USA mit dem Sturm auf das Kapitol im Jänner 2021 werden zudem nur langsam aufgearbeitet, was Grund zur Sorge ist. Nicht zur Beruhigung trägt auch bei, dass es wenige Monate vorher bereits einen Sturm auf den deutschen Bundestag durch „Reichsbürger:innen“ gab, der jedoch wesentlich glimpflicher verlaufen ist. Im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat sich Russland zu einer Diktatur entwickelt, in dem es Strafen für freie Meinungsäußerung, Demonstrationen und ähnliches gibt. In China wiederum wurde Staatschef Xi Jinping zum Staatspräsidenten auf Lebenszeit erklärt, während es in dem Land zunehmend unruhig wird. Zuletzt ist mit BRICS ein neues Bündnis entstanden, das zu einem bedeutenden Teil aus Autokratien, Monarchien und Diktaturen besteht. Nur Indien und Argentinien sind demokratische Staaten. Was dieses bunte Gemisch an Staaten eint, ist teilweise heftige Kritik am Westen, was ebenfalls zu denken gibt.
Auf EU-Ebene fehlt bisher ein Konzept, wie mit diesen internationalen Veränderungen am besten umgegangen werden soll. Eine rasche Strategie wäre jedenfalls notwendig.
Ausblick
Weltweit sind seit Jahren immer stärkere Angriffe auf die demokratiepolitischen Systeme zu beobachten. Die Initiative der Europäischen Union, Schritte für eine Sicherung der Demokratien zu ergreifen, ist daher ausdrücklich zu begrüßen. Die Arbeiten daran gehen aber leider nur sehr langsam voran, obwohl die Entwicklungen auch auf EU-Ebene besorgniserregend sind, angefangen von populistischen Parteien, die Verbreitung von Fake News über Soziale Medien bis hin zur Entwicklung von Autokratien mitten in Europa. Die Empfehlung kann daher nur sein, die Arbeiten am Demokratiepaket wesentlich zu beschleunigen.
Diesen Artikel downloadenKontakt
Kontakt
Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien
Abteilung EU & Internationales
Prinz Eugenstraße 20-22
1040 Wien
Telefon: +43 1 50165-0
- erreichbar mit der Linie D -