Templ/Wagner: Viel Pathos, aber auch Substanz –  Rede zur Lage der Union 2023
Infobrief 3 2023 | Templ/Wagner: Viel Pathos, aber auch Substanz – Rede zur Lage der Union 2023 © AK WIEN
Oktober 2023

Viel Pathos, aber auch Substanz: Rede zur Lage der Union 2023

Am Mittwoch, den 13. September 2023, hielt Kommissionspräsidentin von der Leyen im EU-Parlament in Straßburg die jährliche Rede zur Lage der Union (SOTEU 2023). Die letzte SOTEU in dieser Legislaturperiode vor den anstehenden EU-Wahlen im Juni 2024 setzte inhaltliche Schwerpunkte im Bereich des grünen Wandels, bei der Künstlichen Intelligenz (KI) und in der Frage der Erweiterung. Die soziale Perspektive wurde zwar mit einzelnen wichtigen Punkten angesprochen, wie z.B. im Hinblick auf die Rolle der Sozialpartner. Insgesamt kam sie  aber viel zu kurz. Es fehlte etwa ein grundsätzliches Bekenntnis zur Weiterführung der Europäischen Säule sozialer Rechte. 

Autor:innen: Norbert Templ | Alice Wagner

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Vor dem Hintergrund, dass in weniger als 300 Tagen EU-Wahlen stattfinden, war die Rede ein Rückblick auf die Arbeit der vergangenen Jahre. Sie skizzierte verbleibende Projekte in der laufenden Legislaturperiode, enthielt aber auch Themen für die nächste Kommission. Als erfolgreiche Projekte der letzten Jahre nannte von der Leyen etwa die geopolitischen Union, die führende Rolle Europas bei digitalen Rechten und beim Green Deal sowie die Bedeutung von NextGenerationEU für Investitionen und Jobs. Aus Arbeitnehmer:innensicht zu begrüßen ist von der Leyens starkes Bekenntnis zur EU-Gleichstellungspolitik: Hier verwies die Kommissionspräsidentin auf die Richtlinie zu Frauen in Aufsichtsräten, den Beitritt zum Übereinkommen von Istanbul zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt sowie die Lohntransparenzrichtlinie als „wegweisende und bahnbrechende Arbeit“ der EU. Letztere Richtlinie gilt es gerade auch in Österreich, in einem der EU-Länder mit dem größten Gender Pay Gap, zeitnahe und umfangreich umzusetzen. Zu begrüßen ist auch der Nachdruck der Kommissionspräsidentin, die Verhandlungen zur Richtlinie zu Gewalt gegen Frauen zu einem baldigen Abschluss zu bringen. Hier – so von der Leyen – solle auch ein klares „Nein heißt nein“ verankert werden, somit (anders als in der derzeitigen Ratsposition vorgesehen) auch das Thema Vergewaltigung inkludiert werden.

Über die Autor:innen

Norbert Templ ist Referent in der Abteilung EU und Internationales der AK Wien.

Norbert Templ
Norbert Templ © Lisi Specht
Alice Wagner ist Referentin bei AK EUROPA, dem Brüsseler Büro der Arbeiterkammer.
Alice Wagner
Alice Wagner © AK WIEN


Kurz & Knapp

  • Erfolgreiche Projekte zeigen, was Europa alles schaffen kann.
  • Die angekündigte Anti-Subventions-Untersuchung zu Elektrofahrzeugen aus China ist umstritten. 
  • In der Rede fehlen wichtige Weichenstellungen für ein soziales Europa, notwendig ist neuer Schub für ein starkes soziales Europa. 
  • Zu kritisieren ist, dass die notwendige Reform der EU-Fiskalregeln keinen Eingang in die Rede gefunden hat.
  • Eine Reform der EU-Verträge ist aus AK-Sicht eine wichtige Voraussetzung für die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten.

Green Deal mit Fokus auf Industrie  

Vor dem Hintergrund des heißesten Sommers der Geschichte mit Waldbränden und Überschwemmungen quer durch Europa („ein kochender Planet ist Realität“) verwies von der Leyen auf die Bedeutung der Klimaagenda, die zu einer Wirtschaftsagenda geworden sei. Konkret angekündigt wurden Clean Transition-Dialoge mit der Industrie, ein Paket für Windkraft in Europa sowie eine Anti-Subventions-Untersuchung zu Elektrofahrzeugen aus China. Um die Lebensmittelversorgung in der EU zu sichern und Landwirtschaft eng mit Naturschutz zu verbinden, möchte die Kommission einen strategischen Dialog zur Zukunft der Landwirtschaft in der EU starten. Ein fairer und gerechter Übergang, der niemanden zurücklässt und gute Jobs wurden in der Rede genannt, konkrete Vorhaben in diesem Bereich enthielt die Rede jedoch nicht.

Produktion in Europa statt China 

„Von Windkraft bis Stahl, von Batterien bis hin zu Elektrofahrzeugen, unser Ziel ist ganz klar: Die Zukunft unserer Clean-Tech-Industrie muss in Europa liegen“ – mit dieser Aussage legte die Präsidentin erneut ein klares Bekenntnis ab, dass in zentralen zukunftswichtigen Technologien europäische Wertschöpfung gefördert und vorangetrieben werden muss, wie es auch im Industrieplan für den Grünen Deal vorgesehen ist. Der „Grüne Industrieplan“ ist eine Antwort auf die ökonomischen und technologischen Ambitionen der Dominanz, die im US-amerikanischen „Inflation Reduction Act“ sowie Chinas „Seidenstraßeninitiative“ und in der „Made in China 2025-Strategie“ zum Ausdruck kommen. Diese Bemühungen sind zu unterstützen, müssen aber auch die Interessen der Arbeitnehmer:innen im Fokus haben. Öffentliche Gelder und wirtschaftspolitische Maßnahmen dürfen nur unter der Bedingung zur Verfügung gestellt werden, dass sie Beschäftigungssicherheit und hohe Beschäftigungsqualität sowie nachhaltigen Wohlstand schaffen. Unternehmen, die staatliche Subventionen erhalten und durch strategische Investitions- und Innovationsförderung unterstützt werden, müssen Auflagen zur Standort- und Beschäftigungssicherung, zur Aus- und Weiterbildung ihrer Beschäftigten und zur betrieblichen Mitbestimmung erfüllen.

Ob die angekündigte Anti-Subventions-Untersuchung zu Elektrofahrzeugen aus China, die vor allem bei günstigen Elektroautos zunehmend mehr Marktanteile in Europa gewinnen, der richtige Weg ist, um die europäische Autoindustrie vor der chinesischen Konkurrenz zu schützen, ist umstritten. Als weltweit größter Automobilmarkt hat China viele Trümpfe in der Hand. Dass chinesische Unternehmen auf dem E-Auto-Segment wettbewerbsfähiger sind, liegt vor allem auch an ihrem Vorsprung bei der Batterietechnologie. Die europäischen Hersteller haben sich zu lange auf ihr etabliertes Verbrenner-Geschäft konzentriert und laufen nun dem chinesischen Vorsprung, aber auch Tesla hinterher. Zudem rächt sich, dass sich europäische Hersteller, insb. die deutsche Autoindustrie stark auf das Premiumsegment fokussiert haben, anstatt erschwingliche Elektroautos für die breite Masse anzubieten. Zielführender als mit Strafzöllen das ohnehin angespannte Verhältnis zu China weiter zu belasten, dürfte eine Strategie sein, die darauf abzielt, die ökologisch anspruchsvolleren Methoden der europäischen Hersteller zu belohnen. Frankreich geht diesen Weg, indem es seine E-Auto-Förderung zukünftig „ökologisiert“, d.h. mit dem CO2-Ausstoß bei Produktion und Transport der Autos nach Frankreich verknüpft. Das trifft vor allem die chinesischen Hersteller, die noch massiv vom Kohlestrom abhängig sind (in China deckt Kohlestrom aktuell noch rund 60 Prozent des chinesischen Bedarfs ab). Zudem wäre es sinnvoll, chinesische Autohersteller zu motivieren, ihre Elektroautos auch am europäischen Wirtschaftsstandort zu produzieren und damit europäische Beschäftigung und Kaufkraft zu schaffen. 

Kinderbetreuung, Sozialpartner, aber keine starke soziale Orientierung

Als Erfolge in der EU-Sozialpolitik wurde in der SOTEU auf das EU-Kurzarbeitsinstrument SURE und NextGenerationEU hingewiesen, welche geholfen haben, Arbeitslosigkeit zu verhindern. Thematisch aufgegriffen wurde auch der Fachkräftemangel, etwa in den Bereichen KMU, Tourismus, Krankenhäuser, Pflege und IT-Fachkräfte. Richtigerweise wies die Kommissionspräsidentin in dem Zusammenhang auf das Fehlen von Kinderbetreuungseinrichtungen in der EU hin. Dies mache – wie auch die Arbeiterkammer immer wieder betont – den Arbeitsmarktzugang bzw. die Vollzeitbeschäftigung für vielen Frauen unmöglich. Positiv hervorzuheben ist das starke Bekenntnis von der Leyens zu den Sozialpartnern, auf deren Expertise die EU etwa in den Bereichen Skills, Arbeitskräftemangel und KI vermehrt zurückgreifen will. Hier verwies die Kommissionpräsidentin auch auf den hohen Stellenwert des vor 40 Jahren in Val Duchesse begründeten Europäischen sozialen Dialogs. Im kommenden Halbjahr soll unter belgischer Präsidentschaft wieder ein Sozialpartner-Gipfel in Val Duchesse stattfinden. 

Davon abgesehen fehlten in der SOTEU-Rede jedoch wichtige Weichenstellungen für ein soziales Europa. Unverständlich ist, dass die Europäische Säule sozialer Rechte mit keinem Wort erwähnt wurde. Auch sonst gab es kein Bekenntnis zu weiteren Rechtsakten im Bereich der EU-Sozialpolitik, welche europäische soziale Mindeststandards schaffen könnten. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) wies in dem Zusammenhang darauf hin, dass die Rede „keine Lösungen für die Arbeitnehmer:innen, die aktuell mit den Lebenshaltungskosten zu kämpfen haben“, angeboten habe. S&D-Fraktionsvorsitzende Iratxe García Pérez forderte ein stärkeres Bekenntnis zu sozialen Rechten, darunter auch lebensnotwendige Mindesteinkommen und eine Strategie zur Armutsbekämpfung. 

KMU, Wettbewerbsfähigkeit & KI

Zur Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) möchte die Kommission noch dieses Jahr einen KMU-Beauftragten der EU ernennen, der direkt an die Kommissionspräsidentin berichten soll. Zudem sollen bereits im Oktober 2023 die ersten Legislativvorschläge zur Verringerung der Berichtspflichten auf europäischer Ebene um 25% vorgelegt werden. Hier ist vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen mit der Better Regulation-Agenda der Kommission, etwa zum „One In-One Out“-Prinzip große Vorsicht geboten, da unter dem Titel der Verwaltungslastenreduktion Einschnitte in wichtige Schutzvorschriften drohen könnten. Geplant sind der Abschluss weiterer Handelsabkommen mit Australien, Mexiko, sowie auch des Mercosur-Abkommens, welche seitens der Arbeiterkammer aus sozialen und ökologischen Gründen abgelehnt werden. In der Handelspolitik braucht es aus AK-Sicht grundsätzlich eine Neuausrichtung in Form von Klima- und Nachhaltigkeitsabkommen. Von Mario Draghi soll ein Bericht über die Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit der EU vorbereitet werden. Zu kritisieren ist, dass das wichtige und aktuelle Thema der notwendigen Reform der EU-Fiskalregeln keinen Eingang in die Rede gefunden hat. 

Im Bereich Digitales betonte von der Leyen die Vorreiterrolle der EU, welche in den Bereichen Desinformation, Verbreitung schädlicher Inhalte und Schutz privater Daten mit dem Gesetz über digitale Dienste (DSA) und jenem über digitale Märkte (DMA) neue Standards gesetzt hat. In diesem Sinne solle die Union nun auch im Bereich Künstliche Intelligenz (KI) vorgehen. Hier schlägt die Kommissionspräsidentin ein neues globales Rahmenwerk zu KI mit drei Säulen vor: 

  1. ein EU-KI-Gesetz als menschenzentrierte und verantwortungsvolle Blaupause für die ganze Welt,
  2. ein Governance-System für KI nach Vorbild des Weltklimarates und 
  3. eine Vertiefung der europäischen Führungsrolle im Bereich Supercomputer durch Öffnung für europäische KI-Start-Ups. 

Ob mit dem EU-KI-Gesetz tatsächlich die Verankerung eines menschenzentrierten und verantwortungsvollen Ansatzes gelingen kann, wird erst der Abschluss der derzeit laufenden Trilogverhandlungen zu diesem Rechtsakt zeigen. Der Kommissionsvorschlag aus 2021 zeichnete sich stark durch einen technik-zentrierter Fokus mit Blick auf den Binnenmarkt aus, welcher den Einsatz von KI am Arbeitsplatz weitgehend unberücksichtigt ließ und im Verbraucher:innenschutz viele Schwachstellen enthielt. Wichtig wäre es, nun den Vorschläge des EU-Parlaments zur Verbesserung des KI-Gesetzes (u.a. klare Ausnahme für nationales Arbeitsrecht, Verbot der Verwendung biometrischer Identifizierung, eigene Regeln für Generative KI, kollektiver Rechtsschutz für Verbraucher:innen) zu folgen und zusätzlich eine eigene Richtlinie für Mindeststandards zu KI in der Arbeitswelt, wie sie etwa auch der EGB fordert, vorzulegen.

Erweiterung & Reform der EU

Neben weiteren Schwerpunkten zu Afrika, zur Ukraine sowie im Bereich Migration und Asyl, enthielt die Rede ein klares Bekenntnis zur Erweiterung der EU („vollendete Union“ auf „mehr als 30 Staaten und über 500 Mio. Menschen“). Die Zukunft der Ukraine, des Westbalkans und Moldaus liege in der EU, so von der Leyen, auch für die Menschen in Georgien sei die EU-Perspektive wichtig. Das ist nachvollziehbar, unverständlich ist jedoch ihre Aussage, dass wir nicht auf eine Vertragsänderung warten können, „um die Erweiterung voranzubringen“. Die „Schwarz-Weiß-Diskussionen“ über die Erweiterung müssten überwunden werden, es gehe nicht darum, „ob wir entweder die Integration vertiefen oder die Union erweitern“. Diese Zuspitzung ist entbehrlich, denn beides hängt unmittelbar zusammen. Ohne Vertiefung durch weitreichende Reformen ist die EU nicht aufnahmefähig. Die Aufnahmefähigkeit der EU ist zudem integraler Bestandsteil der Kopenhagener-Kriterien. Ratspräsident Charles Michel hat in diesem Zusammenhang Ende August d. J. erstmals in einer Rede ein konkretes Datum genannt – bis 2030 soll die EU für die Erweiterung bereit sein. 

Die in der Rede im Zusammenhang mit der Erweiterung angekündigten Vorhaben, die Berichte über Rechtsstaatlichkeit auch für Beitrittsstaaten zu öffnen, sowie eine Überprüfung von Politikfeldern und des Haushalts durch die EU-Kommission einzuleiten, sind wichtig, aber bei weitem nicht ausreichend, um die EU aufnahmefähig zu machen. Die Forderung nach Einberufung eines Konvents zur Reform der EU-Verträge, wie sie vom EU-Parlament oder der Arbeiterkammer erhoben wird, muss daher ganz oben auf die EU-Agenda gesetzt und auch von der EU-Kommission uneingeschränkt unterstützt werden. Das enge Korsett der EU-Verträge mit den einseitigen wirtschaftspolitischen Festlegungen und dem Erfordernis der Einstimmigkeit schränkt die sozial-ökologische Weiterentwicklung und die demokratische Handlungsfähigkeit Europas stark ein. Eine Reform der Verträge muss diese Blockaden überwinden und ist aus AK-Sicht eine der zentralen Voraussetzungen, dass die EU neue Mitgliedstaaten aufnehmen kann.

Das bestätigt auch eine deutsch-französische Expertengruppe, die kürzlich weitreichende Vorschläge zur Reform der EU vorgelegt hat. Diese reichen von der Größe und Zusammensetzung der EU-Organe, der Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen, einem größeren EU-Budget und der Möglichkeit der gemeinsamen Schuldenaufnahme nach dem Vorbild des Wiederaufbaufonds bis hin zu einem
„Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“.

Abschließend ist festzuhalten, dass die letzte Rede der amtierenden Kommissionspräsidentin zur Lage der Union einige substanzielle Aussagen enthält, der sozialen Perspektive aber nicht das notwendige Gewicht zugemessen wird. Aus Arbeitnehmer:innensicht braucht es jedenfalls auch einen neuen Schub für ein starkes soziales Europa, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein! 

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