EU-Chile-Handelsabkommen: Vorbild für klimaneutrale und sozial-gerechte Weltwirtschaft?
Die EU hat Ende 2022 die Ausweitung des bestehenden Handelsabkommens mit Chile bekannt gegeben. Dieses umfasst nun die gesamte Palette des Warenhandels, Dienstleistungen, das öffentliche Beschaffungswesen, Investitionen sowie Rohstofffragen. Eingebettet in die Neuausrichtung der EU-Handelspolitik soll es zur Lösung der Klimakrise sowie zur Verbesserung von Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards beitragen. Doch wird das Abkommen diesen Ansprüchen gerecht?
Autorin: Monika Feigl-Heihs
Diesen Artikel downloadenWeshalb muss die EU-Handelspolitik neu ausgerichtet werden?
Um die Handelsbeziehungen zwischen der EU und Chile zu verstärken, verhandelten die beiden Partner seit 2017 die Ausweitung des bestehenden Abkommens. Das nun vorliegende EU-Chile-Handelsabkommen soll mit der Neuausrichtung der EU-Handelspolitik kompatibel sein, die von der EU-Kommission Ende 2020 eingeleitet wurde. In deren Zentrum steht, die Handelspolitik der EU auf eine sozial gerechte, umweltfreundliche und klimaneutrale Weltwirtschaft auszurichten. Damit soll sie einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der Klimakrise sowie zur Verbesserung von Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards leisten. Denn vielfältige Forschungen zeigen, dass dies mit der bisherigen EU-Handelspolitik und ihrem weltweiten Netz aus Handelsabkommen mit Drittstaaten nicht gelungen ist.
Einem jüngsten Bericht des Forschungsinstituts der Vereinten Nationen für soziale Entwicklung (UNRISD) zufolge müsste das weltweite Wirtschaftssystem grundsätzlich auf neue Beine gestellt werden. Denn die neoliberale Hyperglobalisierung, die den Welthandel seit Jahrzehnten prägt, erzeugt Ungleichheit, reproduziert diese, tendiert zu Konjunkturschwankungen und überschreitet die ökologische Belastungsgrenze der Erde. Es handelt sich dabei nicht etwa um Fehlentwicklungen, die innerhalb des Systems zu korrigieren wären, sondern sie sind im System angelegt. Deshalb drängen die Autor:innen des UNRISD-Berichts darauf, alternative Wirtschaftsansätze zu verfolgen, die auf soziale Gleichheit und Schutz der Umwelt sowie des Klimas abzielen und das Verhältnis zwischen Staat, Markt und Gesellschaft neu austarieren.
Wie ist nun vor diesem Hintergrund das erweiterte EU-Handelsabkommen zwischen der EU und Chile einzuschätzen? Ist dieses geeignet, um als Vorbild für eine klimaneutrale und sozial-gerechte Weltwirtschaft zu dienen?
Was beinhaltet das erweiterte EU-Chile-Handelsabkommen?
Das bisherige Abkommen zwischen EU und Chile aus 2002 umfasst im Wesentlichen den Handel mit Industrieprodukten und im Landwirtschaftsbereich die Abschaffung von Zöllen bzw. Ausweitung von Quoten einiger agrarischer Produkte (z.B. Obst, Gemüse, Rind- und Schweinefleisch). Nun sollen die gesamte Palette des Warenhandels, Dienstleistungen, das öffentliche Beschaffungswesen, Investitionen sowie Rohstofffragen erfasst werden. Eine Ausdehnung der Handelstätigkeit ist auch im Agrar- und Lebensmittelhandel vorgesehen. Während Chile etwa im Milchsektor, bei Getreide, einigen Pflanzenölen seinen Markt vollständig für EU-Unternehmen öffnen wird, gewährt die EU eine Erhöhung von zollfreien Kontingenten bei z.B. Rind-, Schaf-, Schweine- und Geflügelfleisch sowie für Olivenöl, Apfelsaft oder Schokolade.
Als Land mit reichlich Lithium- und Kupfervorkommen ist Chile für die EU ein wichtiger Rohstofflieferant, insbesondere da Lithium beispielsweise für den Ausbau erneuerbarer Energie oder Elektromobilität ein begehrtes Gut ist. In einem eigenen Kapitel werden im Abkommen nun auch Energie- und Rohstofffragen behandelt. Darin enthalten ist ein Verbot von Ausfuhr- und Einfuhrmonopolen für Rohstoffe ebenso wie die Verpflichtung Chiles, keine Ausfuhrbeschränkungen gegenüber der EU zu erlassen. Verankert ist auch das Ende für die derzeit in Chile bestehende doppelte Preispolitik für Rohstoffe. Derzeit sind 25 Prozent der Produktion für lokal ansässige Unternehmen zu Vorzugspreisen reserviert. Mit dem Abkommen verpflichtet sich Chile, nach dessen Inkrafttreten keine Vorzugspreise zu vergeben, die unter dem niedrigsten Marktpreis der letzten zwölf Monate liegen. Darüber hinaus ist ein gemeinsames Engagement von EU und Chile für einen nachhaltigen Bergbau inklusive Umweltverträglichkeitsprüfungen vorgesehen.
Wie alle EU-Handelsabkommen der letzten Jahre beinhaltet auch die Neuauflage des EU-Chile-Abkommens ein Nachhaltigkeitskapitel. In diesem finden sich Absichtserklärungen, Handelstätigkeit mit Klimafragen, internationalen Arbeitsnormen, biologischer Vielfalt usw. in Einklang zu bringen. Als Neuerung und damit große Besonderheit heben die beiden Handelspartner in ihrer gemeinsamen Erklärung ein eigenes Kapitel zu „Handel und Gleichstellung der Geschlechter“ hervor. Doch auch wie bereits bei anderen EU-Handelsabkommen kritisiert, handelt es sich bei sämtlichen Formulierungen zu Nachhaltigkeitsfragen lediglich um unverbindliche Willenserklärungen. Neu ist nun, dass dem Abkommen eine Vereinbarung beigelegt ist, dass die EU und Chile nach in Krafttreten des Abkommens innerhalb eines Jahres die Nachhaltigkeitskapitel überarbeiten werden. Die EU zielt dabei darauf ab, ihren neuen Ansatz bei Nachhaltigkeitsfragen in dieses Abkommen aufzunehmen. Verstöße gegen Nachhaltigkeitsfragen (z.B. gegen das Pariser Klimaabkommen, gegen schwerwiegende Verletzungen von Internationalen Arbeitsstandards), die im Rahmen des vorgesehenen Streitbeilegungsverfahrens nicht behoben werden können, sollen in Zukunft mit Handelssanktionen belegt werden.
Welche Ergebnisse liefert die Nachhaltigkeitsprüfung des Abkommens?
Zur Abschätzung der Folgewirkungen des Abkommens beauftragte die Europäische Kommission eine Nachhaltigkeitsprüfung, die seit 2019 vorliegt. Darin wird untersucht, wie sich die geplante Liberalisierung des Handels zwischen EU und Chile sowohl ökologisch als auch ökonomisch und sozial einordnen lässt. Auch wenn es vielfältige Kritik an der methodischen Vorgehensweise zur Errechnung der Effekte von Handelsabkommen gibt, kann die Studie als Anhaltspunkt zur Beurteilung dieser Fragen dienen.
Beitrag zur Senkung der Treibhausgasemissionen?
Hinsichtlich der Entwicklung von Treibhausgasemissionen durch das geplante, erweiterte Abkommen wird in der EU-Studie einerseits eine Zunahme der Emissionen in Sektoren mit Produktionsanstieg ausgewiesen. Für Chile ergeben sich diese bei landwirtschaftlichen Produkten wie Gemüse, Früchten, Nüssen oder Ölsaaten; für die EU im Industriebereich (zB Kraftfahrzeuge, Transportausrüstung, Maschinenbau). Andererseits kommt es in den beiden Regionen durch die Verluste von Marktanteilen in den jeweils anderen Bereichen zu einer Abnahme von CO2-Emissionen. Das exakte Ausmaß der abgeschätzten Emissionsentwicklung findet sich in den Studienunterlagen allerdings nicht. Die Autor:innen des Berichts gehen jedoch davon aus, dass sich aufgrund des Abbaus von Handelshemmnissen bessere Möglichkeiten für den Handel mit Gütern und Dienstleistungen mit niedrigerer Kohlenstoffintensität bieten. Daraus ziehen sie den Schluss, dass „der Gesamteffekt des modernisierten Abkommens auf die Emission von Treibhausgasen begrenzt sein dürfte.“ Dies lässt die Interpretation zu, dass durch das Abkommen keine Treibhausgase eingespart werden dürften. Vielmehr ist aufgrund der spekulativen Annahmen zum treibhausgassenkenden Potenzial des Abkommens im Umkehrschluss von einem Anstieg der Emissionen auszugehen.
Höherer Wertschöpfungsanteil für Chile?
Wie oben bereits dargelegt, werden durch das Abkommen die Exporte von Industrieprodukten aus der EU nach Chile steigen. Da allerdings nur ca. 0,5 Prozent der EU-Exporte auf Chile entfallen, werden die gesamtwirtschaftlichen Effekte sowie die Auswirkungen auf die Beschäftigung in der EU als vernachlässigbar eingestuft. Umgekehrt liegen die Profite des Abkommens auf Seite Chiles im Agrar- und Bergbaubereich. Dies einerseits durch die Erhöhung der Quoten für diverse Fleischsorten und auch von Obst und Gemüse, andererseits durch den Ausbau der Bergbauaktivitäten. Folglich wird für Chile ein Beschäftigungsplus in der Landwirtschaft sowie ein Beschäftigungsrückgang beispielsweise im Maschinenbau von ca. 2,9 Prozent erwartet.
Damit verfestigt sich das derzeitige Muster der ungleichen Handelsbeziehungen, bei dem Chile noch stärker in die Rolle des Rohstofflieferanten für die europäische Wirtschaft gedrängt wird. Dies geht Hand in Hand mit einem Rückgang der chilenischen Industrieproduktion, was zumindest zwei Probleme aufwirft: Die Verarbeitung von Rohstoffen zu höherwertigen Produkten sowie der Ausbau von Industrieanlagen bedeutet einerseits einen höheren Wertschöpfungsanteil für das Land, andererseits handelt es sich dabei in der Regel um Branchen mit gut bezahlten Arbeitsplätzen. Die chilenische Industrie kommt infolge des Abkommens nicht nur stärker unter Druck, sondern es legt dem Land auch Steine in den Weg, beispielsweise eine eigene Industrie zur Produktion von Lithiumbatterien aufzubauen.
Bergbau: Schutz der Bevölkerung und ihrer Lebensgrundlagen?
Für die EU ist Chile nicht zuletzt als größter Lieferant von Lithium ein strategisch wichtiger Handelspartner. Der Bergbau verursacht allerdings massive ökologische Schäden sowie Konflikte mit der lokalen – oft indigenen – Bevölkerung. Ein unrühmliches Beispiel dafür ist der Lithiumabbau, der bereits deutliche Spuren am Atacama-Salzsee hinterlassen hat: Wassermangel oder Verunreinigung durch giftige Chemikalien sind Zeugnisse dafür. Vor allem die Nutzung und Verschmutzung von Wasser sowie Verletzungen der von Chile ratifizierten UN-Konvention über die Rechte indigener Gruppen sowie des ILO-Übereinkommens 169 über die Rechte indigener Völker zählen zu den häufigsten Auseinandersetzungen mit den Minenbetreibern. Obwohl Chile diese internationalen Normen ratifiziert und umgesetzt hat, werden sie bei konkreten Minenprojekten nur mangelhaft umgesetzt. Wegen des Lithiumbooms ist die Verdreifachung der derzeitigen Förderkapazitäten geplant. Weitere massive Schädigungen der Umwelt, Eingriffe in den Lebensraum der Bevölkerung vor Ort und Missachtung der Rechte indigener Gemeinschaften sind vorprogrammiert. Nicht selten bleiben indigene Bevölkerungsgruppen bei Bergbauprojekten, die auf ihren angestammten Territorien geplant werden, außen vor. Auch deren Beteiligung am Ertrag der Bodenschätze ist in der Regel nicht vorgesehen. So stehen sie doppelt auf der Verlier:innenseite.
Im Abkommen zwischen der EU und Chile wird zwar vereinbart, dass die höchsten Nachhaltigkeitsstandards in diesem Bereich einzuhalten und vor der Erteilung von Bergbauprojekten Umweltverträglichkeitsprüfungen durchzuführen sind. Doch die drei Absätze, die sich im Rohstoffkapitel dazu finden, sind vage formuliert und geben lediglich bestehende Regeln wieder. Diese sind allerdings mangelhaft und reichen bei Weitem nicht aus, um den Schutz der Bevölkerung und ihrer Lebensgrundlagen zu gewährleisten und vor allem die Rechte indigener Gruppen zu wahren.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Die dargestellten Beispiele legen den Schluss nahe, dass das erneuerte Handelsabkommen der EU mit Chile dem von der EU selbst gestellten Anspruch, die EU-Handelspolitik in den Dienst von Klima, Umwelt und Beschäftigten zu stellen, nicht gerecht wird. Selbst wenn nach in Krafttreten des Abkommens die Überprüfung der Nachhaltigkeitskapitel in die Aufnahme von Sanktionen als letztes Mittel bei Verstößen münden könnte, bleibt das Handelsabkommen mit seiner grundlegenden Ausrichtung weiterhin hochproblematisch. Ein modernes Handelsabkommen müsste vielmehr ein klar definiertes Ziel enthalten, wie der sozial-ökologische Umbau der jeweiligen Wirtschaftsräume vorangetrieben werden kann. Dies könnte beispielsweise über den Aus- und Aufbau der Industrie vor Ort erfolgen, die auf neuesten technologischen, klimaneutralen Standards fußt.
Im Sinne der Notwendigkeit von alternativen Wirtschaftsansätzen müsste im EU-Chile-Handelsabkommen der Ausbau bestehender regionaler Wertschöpfung und kritischer Infrastruktur, der Aufbau von Produktionskapazitäten vor Ort in strategisch wichtigen Bereichen sowie die Umsetzung einer Kreislaufwirtschaft vorangetrieben werden. Dafür sollten Pläne erarbeitet werden, wie sich die EU und Chile mit ihren Ressourcen und mit ihrem technologischen Wissen gegenseitig dabei unterstützen, die Dekarbonisierung der Wirtschaft voranzutreiben, gute Arbeitsbedingungen zu schaffen und Menschenrechte, insbesondere die Rechte der indigenen Bevölkerung, zu schützen. Mit der Stärkung der jeweils regionalen Wirtschaftskreisläufe kann es gelingen, einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz und zum sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaftssysteme zu leisten. Dafür muss Chile der notwendige Handlungsspielraum eingeräumt werden, seinen heimischen Markt vor der Konkurrenz europäischer Produkte und Unternehmen zu schützen und die Verarbeitungskapazitäten für Rohstoffe in höherwertige Produkte auszubauen.
Darüber hinaus müssten gemeinsame Pläne zur Reduktion des Rohstoffverbrauchs erstellt werden. Für den verbleibenden Rohstoffbedarf müssen höchste Standards für den Bergbau vereinbart werden, die sowohl die Einhaltung von Menschenrechten und internationalen Arbeitsnormen garantieren als auch den Einsatz modernster verfügbarer Technologien zum Schutz der Umwelt und des Klimas beinhalten. Auch die Förderung erneuerbarer Energien vor Ort und ein Plan, wie der Ausstieg aus fossiler Energie gelingen kann, wären weitere, längst überfällige Anknüpfungspunkte für eine moderne, im Zeichen des Klimas, der Bevölkerung und der Beschäftigten stehenden EU-Handelspolitik. Doch all diese Anforderungen erfüllt das nun vorliegende EU-Chile-Handelsabkommen nicht. Es entspricht immer noch der alten EU-Handelsdoktrin, die im Sinne der Analyse des eingangs erwähnten UNRISD-Berichts als systemimmanente Fehlkonstruktion wahrgenommen werden kann.
Diesen Artikel downloadenKontakt
Kontakt
Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien
Abteilung EU & Internationales
Prinz Eugenstraße 20-22
1040 Wien
Telefon: +43 1 50165-0
- erreichbar mit der Linie D -