Zwischen Klimaschutz und Umbruch in der Weltwirtschaft: Der US Inflation Reduction Act und die Antwort der EU
Europa steht vor einer industriepolitischen Wende. Vorrangig geht es dabei darum, den industriellen Wandel hin zur Klimaneutralität intern zu beschleunigen. Aber es geht auch um eine industriepolitische Antwort auf den „Inflation Reduction Act“ der USA und das Streben Chinas nach globaler Technologieführerschaft.Autor: Norbert Templ
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Am 16.8.2022 unterzeichnete US-Präsident Joseph Biden nach monatelangen Verhandlungen den „Inflation Reduction Act“, der Anfang 2023 in Kraft getreten ist. Es handelt sich um ein umfassendes Rechtsinstrument, das eine Reihe finanzieller Anreize enthält, um den Übergang der USA zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft zu beschleunigen und die Klimakrise zu bekämpfen. Es sieht neue Steuereinnahmen in Höhe von 737 Mrd. $ (neue Unternehmenssteuer, verstärkter Steuervollzug, eine Reform der Preisgestaltung für verschreibungspflichtige Medikamente) und Ausgaben in Höhe von 437 Mrd. $ für die Bekämpfung des Klimawandels und die Verbesserung der öffentlichen Gesundheit vor. Der Rest soll der Verringerung des Budgetdefizits dienen.
Mit über 370 Mrd. $ fließt ein Großteil der Ausgaben in saubere Energien, Umweltgerechtigkeit und Klimaschutz. Der IRA ist die wichtigste Klimagesetzgebung in der Geschichte der Vereinigten Staaten und soll die Treibhausgasemissionen der USA bis 2030 um 40% unter das Niveau von 2005 senken. Es wird erwartet, dass mit den vorgesehenen Maßnahmen im nächsten Jahrzehnt Investitionen im Wert von 3.500 Mrd. $ in neue Energieinfrastrukturen angestoßen werden, vor allem in Windkraft- und Solaranlagen, aber auch in die Produktion von Wasserstoff und in die Bereitstellung von Komponenten für saubere Energie wie Batterien, oder die Gewinnung und Verarbeitung kritischer Mineralien. Damit sind endlich auch die USA auf einen Kurs in Richtung Dekarbonisierung und ökologische Modernisierung eingeschwenkt, was grundsätzlich sehr begrüßenswert ist.
Eine „neue Ära für die amerikanische Fertigung“
Eine Vielzahl der vorgesehenen Maßnahmen (z.B. Steuergutschriften für sauberen Strom und saubere Fahrzeuge) zielen gleichzeitig darauf ab, die inländische Produktion zu fördern und damit eine „neue Ära für die amerikanische Fertigung“ einzuleiten. Insgesamt beinhalten rund 60 Prozent aller Steuervergünstigungen eine sogenannte Local-Content-Bestimmung, d.h. die Verfügbarkeit dieser Vergünstigungen ist an die Bedingung geknüpft, dass bspw. heimischer Stahl und andere in den USA produzierte Materialien oder Komponenten verwendet werden. Der Kauf von Elektroautos wird mit bis zu 7.500 $ subventioniert, allerdings nur, wenn die Endmontage der Fahrzeuge in Nordamerika erfolgt und bestimmte Prozentsätze der kritischen Rohstoffe der in den Elektroautos eingebauten Batterien und anderer Batteriekomponenten in Nordamerika hergestellt, oder aus Ländern bezogen werden, mit denen die USA spezielle Freihandelsabkommen abgeschlossen haben. Diese Prozentsätze steigen bei den kritischen Rohstoffen in Stufen bis auf 80% und bei Batteriekomponenten auf 100%.
Neben den Local-Content-Bestimmungen gibt es noch weitere Bedingungen für den Erhalt von Steuervergünstigungen. Insbesondere die Lohn- und Ausbildungsanforderungen sind als durchaus progressiv zu werten.
Wettbewerbsbedenken der EU
Die Europäische Union begrüßt grundsätzlich die Zielsetzung des Inflation Reduction Act, den globalen Klimawandel zu bekämpfen und die politischen Ziele des grünen Übergangs zu fördern. Allerdings löst das US-Gesetz auch ernste Bedenken aus. Die EU befürchtet, dass sich das breite Spektrum der Inlandsanteilklauseln auf EU-Hersteller in Schlüsseltechnologiesektoren wie Automobilbau, Batterien, Wasserstoff und erneuerbare Energien negativ auswirken wird. Aus den betroffenen Sektoren gibt es bereits Warnungen vor einer „Standortflucht“ in die USA und einer Deindustrialisierung Europas. Das scheint übertrieben, allerdings haben bereits mehrere Automobil- und Batteriehersteller neue Investitionen für die Produktion von Elektroautos und Batterien in den USA angekündigt. Auch im Bereich der erneuerbaren Energien löst der Inflation Reduction Act bereits massive Investitionen aus. Befürchtet wird ein schädlicher globaler Subventionswettlauf um Schlüsseltechnologien, wenn auch andere Volkswirtschaften dem US-Beispiel folgen.
Im Rahmen einer Arbeitsgruppe mit den USA drängt die EU daher auf Änderungen im Gesetz, stößt aber bislang auf wenig Entgegenkommen. Die EU fordert die USA auf, die problematischen Elemente des Gesetzes zu beseitigen und für Elektroautos und Produkte für erneuerbare Energien den EU-Unternehmen einen ähnlichen Zugang zum US-Markt einzuräumen wie für Kanada und Mexiko. In letzter Konsequenz steht auch eine WTO-Klage im Raum, da aus Sicht der EU einzelne WTO-Bestimmungen verletzt werden.
Eine Änderung des Gesetzes ist nicht zu erwarten, zumal der US-Kongress zustimmen müsste. Nach den letzten Zwischenwahlen, bei denen die Republikaner die Mehrheit im Repräsentantenhaus erlangt haben, ist dies noch weniger denkbar geworden. Zuletzt haben die USA jedoch in den Durchführungsrichtlinien ein gewisses Entgegenkommen signalisiert. So sollen die Steuervergünstigungen auch für saubere Nutzfahrzeuge aus der EU („Commercial Clean Vehicle Credits“) gelten.
Umbruch in der Weltwirtschaft – die chinesische Herausforderung
Im Grunde reiht sich das Gesetz in eine Entwicklung ein, die zu einer verstärkten Regionalisierung der weltweiten Wertschöpfung führt. Die EU wird nicht umhinkommen, ähnliche Anreizsysteme einzuführen (und wird diesbezüglich auch bereits von den USA ermutigt). Insbesondere Macron und Scholz haben sich in diesem Sinne bereits geäußert. Damit könnte diese Entwicklung zur Herausbildung einer Strategie „Made in Europe 2030“ führen, wie Scholz in seiner Rede4 zur Zukunft Europas Ende August 2022 bereits vorgeschlagen hat.
Nicht übersehen werden darf, dass der IRA auch eine Reaktion auf die „Made in China 2025“-Strategie ist. Mit dieser 2015 beschlossenen Strategie zielt die Volksrepublik China auf globale Technologieführerschaft in zentralen Sektoren der Wirtschaft ab. Gleichzeitig will China die Abhängigkeit vom Rest der Welt verringern und schließlich einen hohen Grad an Autarkie erreichen.
Wie erfolgreich China diese Strategie umsetzt, zeigt sich am Beispiel der Solarzellen: 2006 betrug der Weltmarktanteil Chinas ungefähr 10 Prozent. 2020 „kontrolliert Peking praktisch alle Rohstoffe und einen Anteil von über 70 Prozent an der globalen Produktion“. China ist nicht nur führend bei der Produktion von Solarzellen, ein Großteil der weltweiten Produktion von Batteriezellen findet in China statt. Aktuell drängen chinesische Windräder und E-Autos auf den europäischen Markt. Bei den E-Autos ist China in der Batterietechnologie führend, bei den Windrädern hat es technologische Parität erreicht: „Es gibt kaum bis gar keine qualitativen Unterschiede mehr zwischen chinesischen und europäischen Herstellern“. Gegen die chinesische Erfolgsstrategie scheint Europa bisher machtlos zu sein – im Gegensatz zu den USA, die sich mit dem Inflation Reduction Act und weiteren ambitionierten Investitionsprogrammen der chinesischen Herausforderung stellen. Allerdings sollte Washington dabei schon auf seine Partner Rücksicht nehmen: der IRA zielt auf China, trifft aber auch Europa.
Die Antwort der EU: ein neuer Industrieplan
Die EU-Kommission hat den Ernst der Lage erkannt. In ihrer Rede auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos am 17.1.2023 hat Präsidentin von der Leyen die Herausforderung klar angesprochen: „Wir sind Zeugen aggressiver Versuche, unsere industriellen Kapazitäten abzuwerben, nach China oder anderswo hin. Wir müssen den Übergang zur Klimaneutralität vollziehen, ohne in neue Abhängigkeiten zu geraten. Und wir wissen, dass künftige Investitionsentscheidungen davon abhängen, was wir heute tun“. VdLeyen kündigte in ihrer Rede einen „Industrieplan für den Grünen Deal“ an, der am 1. Februar 2023 im Rahmen einer Mitteilung von der Kommission vorgelegt wurde.
Bereits in der Einführung zum Plan verweist die Kommission auf China: „So sind die Subventionen Chinas im Verhältnis zum BIP seit Langem doppelt so hoch wie in der EU. Dies hat Marktverzerrungen nach sich gezogen und dazu geführt, dass die Fertigung einer Reihe klimaneutraler Technologien derzeit von China dominiert wird, das die Subventionierung von Innovationen in saubere Technologien und Fertigung zu einer Priorität seines Fünfjahresplans gemacht hat“.
Der Plan besteht aus vier Säulen und wurde vom Europäischen Rat auf seiner außerordentlichen Tagung am 9.2.2023 erstmals diskutiert:
- ein günstiges Regelungsumfeld für die Netto-Null-Industrie,
- ein schnellerer Zugang zu Finanzmitteln,
- die richtigen Kompetenzen für Arbeitskräfte und
- ein offener Handel für widerstandsfähige Lieferketten
Aus AK-Sicht enthält der Plan etliche begrüßenswerte Elemente. Insbesondere die dritte Säule – Verbesserung der Kompetenzen – ist sehr wichtig. Gerade in den klimarelevanten Sektoren gibt es einen steigenden Arbeitskräftebedarf. Die Transformation in Richtung Klimaneutralität hat große Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Neue Qualifizierungen, Aus- und Weiterbildung sowie Umschulungen werden nötig sein, gleichzeitig werden neue Berufsfelder geschaffen. Konkret schlägt die Kommission u.a. vor, „Akademien für eine klimaneutrale Industrie einzurichten“, um Weiterbildungs- und Umschulungsprogramme in für den grünen Wandel strategischen Industriezweigen wie der Rohstoff-, Wasserstoff- und Solarindustrie einzuführen. Das ist sehr unterstützenswert, im Weiterbildungsbereich muss mehr investiert werden. Allerdings müssen sich auch die Unternehmen stärker daran beteiligen. Die AK fordert seit Langem einen Weiterbildungsfonds, in den auch Unternehmen einzahlen müssen.
Im Rahmen der ersten Säule wird die Kommission einen „Rechtsakt über die klimaneutrale Industrie“ vorlegen, um die industrielle Herstellung von Schlüsseltechnologien in der EU zu unterstützen. Der Akt zielt vor allem die Stärkung der Herstellungskapazität von Produkten, die für die Erreichung des Ziels der Klimaneutralität von zentraler Bedeutung sind, wie Batterien, Windräder, Wärmepumpen, Solaranlagen, Elektrolyse sowie Technologien zur Kohlenstoffabscheidung und -speicherung. Dazu sollen Genehmigungsverfahren beschleunigt und Finanzmittel auf europäischer und nationaler Ebene aufgebracht werden. Umstritten ist dabei, dass die Kommission die Beihilfenregeln für staatliche Zuschüsse erneut aufweichen will. Befürchtet wird ein Subventionswettlauf innerhalb der EU, von dem nur die finanzstarken Mitgliedstaaten profitieren würden. Auch die Kommission ist sich bewusst, dass staatliche Beihilfen nur eine begrenzte Lösung sein werden, auf die nur wenige Mitgliedstaaten zugreifen können. Daher soll mittelfristig ein „Europäischer Souveränitätsfonds“ geschaffen werden, um den Übergang zu sauberen Technologien in der gesamten Union zu unterstützen.
In Bezug auf die Beihilfenregeln muss es aus AK-Sicht noch eine vertiefende Debatte geben. Bei der Anwendung und Ausgestaltung von neuen Subventionsprogrammen für die europäische Industrie ist es aus arbeitnehmer:innenpolitischer Perspektive notwendig, die strukturpolitischen und sozialen Komponenten zu stärken. Industrieunternehmen, die in der Dekarbonisierung mit großen staatlichen Förderungen und/oder strategischen Investitions- und Innovationsförderungen unterstützt werden, müssen sich zu Auflagen zur Standort- und Beschäftigungssicherung, zur Ausbildung von Jugendlichen und zur Mitbestimmung der Beschäftigten im gesamten Prozess bekennen und verpflichten.
Ebenso muss die vierte Säule – die Handelspolitik – einer kritischen Analyse unterzogen werden. Aus AK-Sicht müssen die Handelsbeziehungen der EU auf soziale und ökologische Nachhaltigkeit ausgerichtet werden.
Schlussbemerkung
In Reaktion auf die USA und China ist die EU derzeit dabei, eine industriepolitische Wende einzuleiten. Eine aktive EU-Industriestrategie für die großen gesellschaftlichen Herausforderungen rund um ein erneuerbares und leistbares Energieversorgungssystem und klimaneutrale Produktion in Europa ist wichtig und erforderlich. Vorsicht ist geboten, dass diese neue Politik nicht von Unternehmensinteressen vereinnahmt wird. Wenn es um Entscheidungen über Investitionen in die Technologien und Infrastrukturen einer klimaneutralen und ressourcenschonenden Zukunft geht, braucht es eine möglichst breite gesellschaftliche Debatte, damit es nicht zu Fehlentwicklungen kommt, die später nur schwer wieder rückgängig gemacht werden können. Was es braucht ist ein „Moonshot“ für das 21. Jahrhundert sowie „das Commitment und die Einbindung aller AkteurInnen, damit eine entscheidende, gerecht organisierte Wendung für Beschäftigung, Wohlstand und soziale Teilhabe für eine nachhaltige und digitale Zukunft entwickelt werden kann“.
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