Ey: Streikrecht in Gefahr
Ey: Streikrecht in Gefahr © AK Wien
Dezember 2022

Krisenmodus in Europa: EU-Kommission schlägt Notfallinstrument für den EU-Binnenmarkt vor – Rechtsvorschlag gefährdet arbeitsrechtliche Standards und das Streikrecht

Autor: Frank Ey

Mit Beginn der Herbstsaison 2022 hat die Europäische Kommission Maßnahmen zur Bekämpfung von Krisen in den EU-Volkswirtschaften vorgestellt. Mit dem Schritt geht die Kommission zumindest ein kleines Stück vom Glauben an die vier Grundfreiheiten des EU-Binnenmarkts sowie ihre Fähigkeit zur Selbstregulierung und Selbstheilung ab. Was die Kommission bei den Regeln zum Binnenmarkt (leider erneut) außer Acht lässt, sind aber die Rechte der Beschäftigten. Zurecht hagelt es entschiedene Proteste seitens der Arbeitnehmer:innenvertretungen gegen den Vorschlag, denn Arbeitsrechtsstandards und das Streikrecht sind in Gefahr.

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Über den Autor

Frank Ey ist Experte für EU-Binnenmarktpolitik in der Abteilung EU & Internationales der AK Wien sowie Lektor an der WU Wien.
Frank Ey
Frank Ey © AK Wien

Kurz und Knapp

  • Der liberalen Binnenmarktphilosophie fehlt es an Lösungskonzepten in Krisenzeiten.

  • Die Europäische Union muss für Versorgungssicherheit sorgen, statt weiter auf Wettbewerbs- und Renditenmaximierung zu setzen.

  • Eine detaillierte Analyse des Notfallinstruments lässt die Alarmglocken schrillen: Das Streikrecht darf nicht ausgehebelt werden.

Die Schwächen des EU-Binnenmarkts

Anlass für den Vorschlag über ein  (SMEI) war die COVID-19-Krise, die die Schwächen der Binnenmarktphilosophie deutlich machte. Die Grundfreiheiten des Binnenmarktes rückten gegenüber dem nationalstaatlichen Handeln in den Hintergrund und wurden zugunsten einzelstaatlicher Aktionen außer Kraft gesetzt. Einschränkungen für Berufspendler:innen, Exportverbote und Grenzkontrollen waren nur einige der negativen Auswirkungen in der Europäischen Union.

COVID-19 war in der jüngeren Vergangenheit aber bei weitem nicht die einzige Krise, die den Glauben in die Freiheiten des Binnenmarktes erschütterte: Zu erwähnen sind die Finanz- und die Eurokrise, die Lieferkettenkrise oder die Energiekrise. 

Neben Kurskapriolen war und ist die Versorgung mit sensiblen Gütern zum Problem geworden. Fehlende Halbleiter haben dazu geführt, dass die Produktion von Waren wie Kraftfahrzeugen gedrosselt bzw stillgelegt werden musste. Apotheker:innen und Ärzt:innen schlagen Alarm, weil es an dringend notwendigen Medikamenten fehlt, die aufgrund der Staus an den Containerhäfen noch immer nicht aus Indien eingetroffen sind. Die Lebensmittelbranche wiederum ist nicht nur aufgrund stark gestiegener Energiepreise unter Druck, sondern auch aufgrund knapper werdender Zutaten wie beispielsweise Sonnenblumenöl aus der Ukraine. Im Energiesektor fehlt es wiederum an wichtigen Teilen von Photovoltaikanlagen wie Wechselrichtern und den nötigen Speichern. 

Auf Krisensituationen nicht eingestellt

Die an wirtschaftspolitischen Interessen ausgerichtete liberale Binnenmarktpolitik hat kein Konzept, wenn es um Krisen geht. Es bedarf einer Neuausrichtung des EU-Binnenmarkts – darauf hat die AK in den letzten Jahren bereits mehrmals hingewiesen.

Hinzu kommen weitere Fehler aus den letzten Jahrzehnten, die die Europäische Union nun einholen: Statt auf Versorgungssicherheit innerhalb der Union zu setzen, wurde insbesondere auf Wettbewerb und Renditenmaximierung gesetzt. Das hat dazu geführt, dass zahlreiche Unternehmen ihre Güter nicht mehr im EU-Binnenmarkt produzieren, sondern die Herstellung in kostengünstigere Drittländer verlagert oder dorthin verkauft haben. Menschenrechte, Arbeitsbedingungen, Umweltstandards spielen in vielen Drittländern keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Viele der Länder, in die die Produktion westlicher Waren verlagert wurden, sind zudem Autokratien und Diktaturen. Ein Umstand, der zwar bekannt war, sich aber bis heute den sehr einschlägigen Wirtschaftsinteressen unterordnen muss. 

Notfallinstrument für den Binnenmarkt als Retter in der Not?

Mit dem nun vorgestellten Gesetzespaket, bestehend aus zwei Verordnungen und einer Richtlinie, soll für Notfälle vorgebaut werden. Es sind drei Krisenstufen vorgesehen:

In Stufe 1, wenn keine Krisensituation besteht, sollen Strukturen wie ein Frühwarnsystem geschaffen werden, um bei der Entwicklung eines Notfalls rasch reagieren zu können. 

Stufe 2, die sogenannte Binnenmarktüberwachung, wird aktiviert, wenn Probleme am Binnenmarkt festzustellen sind. Lieferketten von strategisch wichtigen Waren und Dienstleistungen sollen dann überwacht und Reserven aufgebaut werden. Grundsätzlich sollen auch Maßnahmen zur vereinfachten Beschaffung getroffen werden können.

Stufe 3 schließlich kommt bei einem Binnenmarktnotfall zur Anwendung, wenn eine konkrete Krise bei Gütern und Dienstleistungen besteht, z.B. diese nicht oder nur schwer beschafft werden können. Neue „Beschränkungen“ für den freien Binnenmarkt soll es während dieser Phase laut Kommission nicht geben dürfen. Die Mitgliedstaaten erhalten Empfehlungen bezüglich der Bereitstellung von krisenrelevanten Waren, auch die Erweiterung oder Umwidmung von Produktionsanlagen ist möglich. Genehmigungsverfahren können zudem beschleunigt werden. Die Kommission kann die krisenrelevanten Güter auch selbst im Namen der Mitgliedstaaten beschaffen. Im äußersten Fall ist es auch möglich konkrete Informationen von Unternehmen einzufordern und die Betriebe zur Durchführung vorrangiger Bestellungen zu veranlassen. Auch gezielte Ausnahmen von harmonisierten Produktvorschriften wären in solchen Situationen möglich.

Begleitet werden sollen die Stufen 2 und 3 von einer Beratungsgruppe, die aus Vertreter:innen der Kommission und der Mitgliedstaaten besteht. Beobachter:innen wie die Sozialpartner können hinzugezogen werden. 

Der Teufel steckt im Detail: Bedrohtes Streikrecht

Was auf den ersten Blick begrüßenswert klingt, lässt bei einer detaillierten Analyse allerdings die Alarmglocken schrillen:

Die geplanten Regelungen könnten das Streikrecht sowie arbeits- und sozialrechtliche Bestimmungen infrage stellen: Gerade die sogenannte „Erdbeer“-Verordnung, die das Recht auf Kampfmaßnahmen seitens der Arbeitnehmer:innenvertretungen in Artikel 2 enthält, wird in dem neuen Gesetzespaket gestrichen. Zudem hält die Kommission fest, dass es im Krisenmodus keine neuen Beschränkungen am Binnenmarkt geben darf. Vor dem Hintergrund der EuGH-Judikatur wird der Begriff der Beschränkungen jedoch sehr weit ausgelegt: Demnach wäre fast das gesamte Arbeits- und Sozialrecht erfasst. Derartige Regeln sind aus AK- und Gewerkschaftssicht strikt abzulehnen.

Auch die Beratungsgruppe ist mit Skepsis zu sehen. Die Entscheidungen werden von Vertreter:innen der Mitgliedstaaten und der Kommission getroffen. Die Sozialpartner und andere haben nur den Status als Beobachter:innen. Gerade die Mitglieder der Sozialpartner stehen in der Frage des Binnenmarkts aber in der Mitte des Geschehens und müssen aus AK-Sicht mit Stimmrecht voll eingebunden werden, was bislang nicht vorgesehen ist.

Insgesamt ist das gesamte Vorhaben mit großer Vorsicht zu sehen: Erneut wird das Modell des freien Binnenmarkts in das Zentrum gerückt und alles im Umfeld davon angepasst. Notwendig jedoch wäre eine komplette Neuausrichtung des Binnenmarkts, die sich an Art 3(3) des EU-Vertrags orientiert und Vollbeschäftigung, Versorgungssicherheit in der EU gewährleistet sowie ein ausgewogenes Wirtschaftswachstum in einer sozialen Marktwirtschaft vorsieht. Bis dahin dürfte es jedoch noch ein weiter Weg sein und die Skepsis bzw ablehnende Haltung der Arbeitnehmer:innenorganisationen ist ausgehend vom Kommissionsvorschlag völlig berechtigt.

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