Infobrief 4_2022: Bresciani_Leubolt: Brasilien nach der Wahl
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Dezember 2022

Brasilien nach der Wahl: Rückkehr zu Rechtstaatlichkeit und Entwicklung

Autoren: Bernhard Leubolt und Luis Paolo Bresciani

Die Stichwahl zum Präsidenten Brasiliens konnte der Mitte-Links Kandidat Lula knapp für sich entscheiden. Damit ist der amtierende Rechtsextreme Bolsonaro abgewählt. Das bedeutet ein Aufatmen für Viele – sowohl in Brasilien wie auch international. Der Beitrag beleuchtet die Hintergründe der Wahl und der brasilianischen Politik: Wofür steht der neue Präsident und was ist von seiner Regierung zu erwarten? Was sind die Unterschiede zum scheidenden Präsidenten und wie ist das alles eingebettet in die Politik des größten lateinamerikanischen Landes?

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Ende Oktober 2022 fand eine der weltweit richtungsweisendsten Wahlen des Jahres statt. Brasilien wählte einen neuen Präsidenten in einer Stichwahl zwischen zwei äußerst unterschiedlichen Kandidaten: Auf der einen Seite Jair Bolsonaro, der amtierende Präsident – ein bekennender Befürworter der Militärdiktatur und Rechtsradikaler. Auf der anderen Seite Luis Inácio ‚Lula‘ da Silva, Präsident einer Mitte-Links Regierung unter der Führung der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores – PT) und eines der bekanntesten Gesichter des Widerstands gegen die Militärdiktatur sowie der demokratischen Gewerkschaftsbewegung. Lula konnte den stark polarisierten Wahlkampf zwischen Rechts und Links knapp für sich entscheiden und siegte in der Stichwahl mit 50,9% aller gültigen Stimmen.

Das Wahlergebnis löste weltweit Erleichterung aus. Nicht zuletzt aus klimapolitischen Gründen: Die unter Bolsonaro beschleunigte Abholzung der brasilianischen Regenwälder in den Regionen Amazonas und Pantanal konterkariert die globale Bekämpfung der Klimakrise. In den Jahren der Präsidentschaft Bolsonaros wurden staatliche Regulierungen und Kontrollen gelockert. Daher konnten Großgrundbesitzende auf legale und illegale Weise die Wälder roden, um Holz oder Rohstoffe zu gewinnen bzw. um neue Flächen für Viehzucht und Soja-Anbau zu gewinnen. Das ging einher mit einem Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Kurz vor dem ersten Wahlgang wurden etwa die Umweltaktivisten Dom Philips und Bruno Pereira ermordet – keine Einzelfälle, da politisch motivierte Gewalt zuletzt zunahm.

Lula verspricht, den anti-demokratischen Tendenzen entgegenzuwirken und sozial-ökologische Ziele zu verfolgen. Kurz nach seiner Wahl (noch vor Amtsantritt, der erst mit 1.1.2023 erfolgt) reiste Lula zur COP27, um mit internationalen Führungspersönlichkeiten globale Umweltpolitik zu diskutieren. Dort trat er dafür ein, dass Brasilien eine Führungsrolle zum Schutz des Weltklimas einnehmen soll. Im Gegenzug sollten die reicheren Staaten solidarisch handeln und Länder wie Brasilien finanziell dafür unterstützen, dass Wälder als Verbesserer des Weltklimas erhalten werden und nicht – wie etwa während der Industrialisierung in Europa – einer einseitigen wirtschaftlichen Entwicklung zum Opfer fallen.


Über die Autoren

Bernhard Leubolt arbeitet in der Abteilung Betriebswirtschaft der AK Wien. 2015 war er Gastforscher an der Staatlichen Universität Campinas in Brasilien.

Bernhard Leubolt
Bernhard Leubolt © AK Wien

Luis Paulo Bresciani ist Professor für Public Management an der Fundação Getulio Vargas São Paulo und Consultant für DIEESE, die brasilianische Gewerkschafts-Forschungsinstitution für Statistik und Sozioökonomische Studien.

Luis Paolo Bresciani
Luis Paolo Bresciani © AK Wien

Kurz und Knapp

  • Geht es nach dem neu gewählten Präsidenten Lula, soll Brasilien eine führende Rolle beim Klimaschutz übernehmen. Reiche Länder sollen im Gegenzug solidarisch die wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung Brasiliens fördern.
  • In armutsbetroffenen Regionen wurde mehrheitlich Lula gewählt.

  • Lula wurde populär durch erfolgreiche Armutsbekämpfung.

  • Neo-Keynesianismus: Konsum der Ärmeren sorgt für wirtschaftliche Dynamik.

  • Neoliberale Reformen durch kaum demokratisch legitimierte Regierung.

  • Regierung Bolsonaro: Neoliberalismus, Großgrundbesitz, Evangelikale, Waffenlobby und Gewalt

  • Regierung Lula: breites politisches Bündnis gegen rechtsradikalen Demokratieabbau

Armutsbetroffene Regionen entscheidend für Wahlausgang

Bei genauerer Betrachtung des Wahlergebnisses ist die regionale Verteilung der Stimmen besonders auffällig. Während die reicheren Regionen mehrheitlich für Bolsonaro stimmten, votierten die Menschen in den ärmsten Regionen des Landes – v.a. im Nordosten und Norden – mit teilweise sehr deutlichen Mehrheiten für Lula.

Präsidentschaftswahl Brasilien 2022 – Mehrheiten nach Bundesstaaten
Präsidentschaftswahl Brasilien 2022 – Mehrheiten nach Bundesstaaten © AK Wien

Die regionale Verteilung der Stimmen zeigt, dass Lula viele Stimmen von Armutsbetroffenen bekam. In seiner ersten Amtszeit (2003-2006) setzte Lula vor allem auf die Beseitigung des Hungers und die Bekämpfung der Armut in einem Land mit extremen sozialen Ungleichheiten. Am Ende seiner zweiten Amtszeit (2010) war er der populärste Präsident der brasilianischen Geschichte. Danach beugte sich Lula dem Gesetz, das eine dritte Amtszeit verbietet. Dilma Rousseff wurde als seine designierte Nachfolgerin und PT-Kandidatin bei den Wahlen 2010 und 2014 Brasiliens erste Präsidentin.

Karte  der Armut Brasilien
Brasilien: Karte der Armut © AK Wien


Die Regierungen unter Lula und Dilma (2003-2016) setzten auf den konsequenten Ausbau von Sozialpolitik und die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns. Für viele armutsbetroffene Brasilianer:innen ist der Mindestlohn die wichtigste Grundlage für ihr Einkommen, während Familien der Mittel- und Oberschichten ein Vielfaches des Mindestlohns verdienen. Inflationsbereinigt wurde der Mindestlohn zwischen 2003 und 2016 etwa verdoppelt.

Mindestlohn Brasilien
Mindestlohn Brasilien, inflationsbereinigt © AK Wien


Diese Maßnahmen waren mit einem umfassenden Ausbau des Sozialstaats verbunden : Das wichtigste Programm wurde „Bolsa Família“ (Familienbeihilfe), das armutsbetroffenen Familien ein niedriges Monatseinkommen garantierte (ähnlich wie eine Notstandshilfe, jedoch für etwa ein Viertel der brasilianischen Bevölkerung). Zusätzlich setzte die Regierung auf den Aufbau sozialstaatlicher Leistungen – vom flächendeckenden Aufbau eines Programms für Mahlzeiten in der Schule über Investitionen in öffentliche Krankenhäuser und Schulen bis hin zur Stärkung und Aufbau neuer staatlicher Universitäten. Diese Maßnahmen waren eingebettet in eine neo-keynesianische Wirtschaftspolitik: Wirtschaftswachstum durch Konsum für neue gesellschaftliche Gruppen förderte die Dynamik der lokalen Wirtschaft: Immer mehr Brasilianer:innen konnten sich nicht nur ausreichend Nahrung, sondern auch Haushaltsgeräte oder Autos leisten.

Krise, Proteste und Demokratie-Abbau

2015 begannen fast zeitgleich mit dem Amtsantritt von Dilma Rousseff zahlreiche Protestmärsche in Brasiliens Städten, die sich gegen die PT und insbesondere gegen Dilma und Lula richteten. Rechts-gerichtete Demonstrant:innen forderten den Rücktritt der Präsidentin und dass sie und Lula wegen Korruption eingesperrt werden sollten. Konservative Gruppen kritisierten die „kommunistische“ Orientierung der PT. Besonders aktiv waren evangelikale Freikirchen – denen schon etwa 26% der brasilianischen Bevölkerung angehören. Gestützt auf den Druck der Straße wendeten sich der rechte Koalitionspartner der PT von der Regierung ab.

Angeführt von Vize-Präsident Temer enthob die konservative Mehrheit im Kongress 2016 Dilma aus fadenscheinigen Gründen ihres Amtes. Temer wurde ohne Wahl zum Präsidenten mit der geringsten Zustimmung in Brasiliens Geschichte. Bis zur nächsten Wahl 2018 hatte Brasilien eine demokratisch kaum legitimierte Regierung, die einen neoliberalen Staatsumbau einleitete. Besonders einschneidend war die Reform des Arbeitsrechts im Jahr 2017: Durch Flexibilisierung und Deregulierung des Arbeitsrechtes konnten Unternehmen Kosten senken. Die Kaufkraft der Beschäftigten sank, die schwächelnde Wirtschaft konnte sich nicht erholen.

Gleichzeitig kamen viele Korruptionsskandale an die Öffentlichkeit, die alle großen Parteien betrafen. Während die Justiz die meisten Politiker:innen konservativer Parteien verschonte, ging sie mit aller Härte gegen führende Persönlichkeiten der PT vor – besonders gegen Lula. Mit äußerst dünnen Beweisen wurde ihm der Prozess gemacht. Dennoch wurde er wegen Korruption verurteilt und musste ins Gefängnis. So verhinderte die brasilianische Justiz, dass der prominenteste Politiker Brasiliens 2018 ein weiteres Mal zur Präsidentschaftswahl antreten konnte. Das Ansehen der PT wurde ebenso beschädigt wie das vieler traditioneller Parteien. Erst im Juni 2021 stellte der brasilianische Oberste Gerichtshof fest, dass der Richter im Verfahren gegen Lula gleichzeitig als Ankläger agierte und hob die Entscheidung wegen schwerwiegenden Verfahrensfehlern auf.

Das politische Vakuum konnte Jair Bolsonaro für sich nutzen. Bis zu dieser schweren politischen Krise fiel der unehrenhaft aus dem Militär entlassene Ex-Militär eher als „politischer Clown“ auf, der extrem rechte Positionen vertrat. Bis heute befürwortet er nicht nur die Militärdiktatur, sondern auch den großzügigen Gebrach von Schusswaffen seitens Militär und Polizei. Seine wichtigsten politischen Verbündeten kommen aus den Reihen der konservativen Freikirchen, Großgrundbesitzer:innen und der Waffenlobby.

Bolsonaro – Rechtsextremismus in der Regierung

Das wichtigste einende Element von Bolsonaros Regierungsmannschaft ist der Hass gegen „Kommunismus“, d.h. gegen humanistisch oder progressiv orientierte Menschen. Die Regierung setzt sich zusammen aus ehemaligen Militär-Vertretern (z.B. Vize-Präsident Morão), Evangelikalen wie etwa Damares Alves (Ministerin für Menschenrechte und Familie), Großgrundbesitzenden (z.B. Landwirtschaftsministerin Tereza Cristina) und Neoliberalen (z.B. Wirtschaftsminister Guedes).

Wirtschaftspolitisch forcierte die Regierung Privatisierungen sowie die Deregulierung wirtschaftlicher Aktivitäten. Darunter fielen u.a. auch Umweltauflagen und staatliche Aufsicht der Regenwälder. Zugunsten des Agrobusiness wurde die „Agrargrenze“ immer weiter in die Regenwälder verschoben. Indigene Gemeinschaften mussten der Rinderwirtschaft, dem Soja-Anbau oder der Rohstoffgewinnung Platz machen, weil Großgrundbesitzende sie gewaltsam vertreiben ließen.

Die Regierung Bolsonaro förderte die Ausübung von Gewalt besonders über gesetzliche Erleichterungen für Waffenbesitz. Seit 2019 hat sich der private Waffenbesitz verdoppelt. Brasilien ist weiterhin eines der Länder mit den höchsten Mordraten. Für die Demokratie besonders bedenklich ist die deutliche Zunahme von politisch motivierter Gewalt. Eine aktuelle Studie zeigt, dass Gewalt in Form von Drohungen, Entführungen und Morden an Poltiker:innen oder deren Angehörigen seit 2019 beständig zunahm – vor allem gegen Angehörige der Linksparteien PT und PSOL. Traurige Höhepunkte der politischen Gewalt waren die Ermordungen der linken Stadträtin und Menschenrechtsaktivistin Marielle Franco sowie des PT-Politikers Marcelo de Arruda durch Bolsonaro Anhänger.

Auch Sozial- und Gesundheitspolitik litten während der letzten Jahre. Für Bolsonaro handelte es sich bei Covid-19 bloß um eine „kleine Grippe“. Die Pandemiebekämpfung der Regierung war so mangelhaft, dass fast 700.000 Menschen an Covid-19 starben. Die Sterblichkeit war in Brasilien etwa drei Mal so hoch wie im internationalen Durchschnitt. Während die Bekämpfung der Pandemie keine Priorität genoss, war sie aber Anlass, um die finanziellen Beihilfen an die Ärmsten anzuheben. Die Regierung verabschiedete 2020 ein Nothilfeprogramm und sorgte dafür, dass im Wahljahr 2022 die staatlichen Beihilfen weiter angehoben wurden. Gleichzeitig müssen die Gelder aus anderen Bereichen abgezogen werden – besonders betroffen waren Bildungspolitik und Wohnbau. Die populistische Maßnahme war jedoch nur bedingt erfolgreich. Bei der Wahl stimmten die Regionen mit den meisten Armutsbetroffenen mehrheitlich für Lula.

Ausblick auf die Regierung Lula

Die Regierung Lula ist vor allem ein politisches Bündnis gegen den rechtsradikalen Demokratieabbau. Lulas Vize-Präsident Geraldo Ackmin war viele Jahre in konservativer bzw. neoliberaler Opposition zur Regierung Lula. Ebenso wie die im ersten Wahlgang drittplatzierte Kandidatin Simone Tebet unterstützte er nun Lula. Wichtige Gründe dafür waren die Pandemiepolitik Bolsonaros und der Demokratieabbau während der letzten Jahre. Das politische Bündnis Lulas für die Wahl war äußerst breit. Neben wichtigen liberal-konservativen Persönlichkeiten beteiligten sich auch linke Persönlichkeiten wie etwa der bekannte Obdachlosen-Aktivist Guillerme Boulos.

Im Wahlkampf Lulas waren daher deutlich moderatere sozial- und wirtschaftspolitische Forderungen präsent als in vergangenen Jahren. Dafür gibt es nun ein klareres Bekenntnis zu Umweltpolitik und zum Schutz der indigenen Gemeinschaften. Die frühere Umweltministerin und renommierte Umwelt-Aktivistin Marina Silva soll als zukünftige Umweltministerin dafür sorgen, dass die Regierung Lula die Erhaltung des Regenwaldes fördern wird. Das soll ein wichtiger Schritt dafür sein, damit die brasilianische Regierung auf dem internationalen Parkett wieder eine größere Rolle spielt.

Durch die Krisen und die rechte Politik der letzten Jahre steht die neue Regierung vor großen Herausforderungen. Daher setzt die neue Regierung ihre Schwerpunkte vor allem auf Demokratie und nachhaltige Entwicklung. Lula versprach, gemeinsam mit den Gewerkschaften eine Reform der Arbeitsgesetzgebung umzusetzen. Es wird jedoch äußerst schwierig werden, dafür Mehrheiten im konservativ dominierten Abgeordnetenhaus zu finden. Unter diesen Voraussetzungen sind nicht nur neue Programme mit erheblichen Hürden konfrontiert. Selbst die Rückkehr zu den Tugenden der früheren PT-Regierungen wird schwierig: Seit 2016 wurde der Mindestlohn real nicht mehr erhöht und der öffentliche Sektor geschwächt.

Die Liste der Notwendigkeiten ist lang und der Realpolitiker Lula wird all seine Künste aufbieten müssen, um zumindest einige wenige Bereiche zum Besseren bewegen zu können. Doch für den Moment scheint nun gesichert: Der Abbau von Demokratie und Menschenrechten sowie die Zerstörung der Umwelt können aufgehalten oder zumindest verlangsamt werden.

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