Rezension: Kompass im Zeitenbruch
Autor: Oliver Prausmüller
Mit „produktiven Provokationen“ gelingt es dem umtriebigen Gewerkschafter und Sozialwissenschafter Hans-Jürgen Urban seit Jahrzehnten immer wieder von Neuem, Bewegung in gesellschaftskritische Strategiedebatten zu bringen. Der Sammelband „Mosaiklinke Zukunftspfade“ würdigt sein Wirken, indem er über vierzig Beiträge zur Diskussion fortschrittlicher Perspektiven „unter den Bedingungen des Gegenwartskapitalismus“ vereint.
Diesen Artikel downloadenEs sind im wahrsten Sinn existenzielle Krisen, die sich gerade überschlagen. Die Rede von der „Polykrise“ oder „Permakrise“ versucht mitunter, diese einzigartige Verknotung von Klimakatastrophen, COVID-19-Pandemie, Teuerung, Krieg, u.v.m. auf den Begriff zu bringen. Doch welche gesellschaftlichen Perspektiven können daraus erwachsen, die über einen verunsicherten und pessimistischen Blick in die Zukunft hinausweisen? Wenn nach Bertolt Brecht Denken etwas ist, das „auf Schwierigkeiten folgt und dem Handeln vorausgeht“, dann stellt sich nicht zuletzt die Frage: Wo versammelt sich dieses kritische Denken, wo findet der zugehörige Austausch überhaupt statt? Welche produktiven Anlässe gibt es für derartige Nachdenkpausen – gerade angesichts des hohen Tempos des aktuellen Krisengeschehens und notpragmatischer Rettungsversuche?
Der vorliegende Sammelband ist dafür ein wichtiges Forum, indem er Fragen nach den Perspektiven und der Transformationsfähigkeit einer „Mosaiklinken“ in den aktuellen Vielfachkrisen diskutiert. In solch einer gesellschaftlichen Kraft müssten sich – wie Hans-Jürgen Urban zuletzt rund um die Covid-19-Krise und ihre europapolitischen Auswirkungen festhielt – „unterschiedliche Organisationen, Bewegungen und Persönlichkeiten unter Beibehaltung ihrer Identitäten zusammenfinden und sich auf ein sozial-ökologisches Reformprojekt verständigen“. Ohne diese Fähigkeit zu einender Vielfalt drohe sonst eine Wiederholung vormaliger Krisenerfahrungen: „Wieder einmal schwächelt der neoliberale Kapitalismus, und wieder einmal fehlt eine Kraft, die die Gunst der Stunde nutzen und die Gesellschaft auf einen progressiven Pfad drängen könnte“. Vor diesem Hintergrund bietet der Sammelband „Mosaiklinke Zukunftspfade. Gewerkschaft-Wissenschaft-Politik“ reichhaltiges Material zum produktiven Umgang mit den Widersprüchen, Gemeinsamkeiten und Lernerfahrungen, mit denen die Frage nach der Allianzfähigkeit für ein derart gegenhegemoniales Projekt im Gegenwartskapitalismus verbunden ist. Der unmittelbare Anlass der Publikation, Hans-Jürgen Urbans 60. Geburtstag zu würdigen, erinnert keineswegs an verunglückte Umsetzungen des Genres „Festschriften“. Introspektive Selbstbeweihräucherung ist darin also nicht angesagt. Vielmehr gelingt der positive Kontrast, indem Hans-Jürgen Urbans Interventionen als Gewerkschafter, politisch Engagierter und Wissenschafter entlang von sechs Themenstationen diskussionsfreudig aufgegriffen, kritisch gewürdigt und solidarisch weiter entwickelt werden. Die Interventionen der versammelten Autor:innenschaft (mehr als 70) lassen sich folglich selbst als lebhafter Beitrag zum Voranbringen eines mosaiklinken Projekts verstehen.
Erweiterung gewerkschaftlicher Machtressourcen
Dafür haben die Herausgeber:innen Brigitte Aulenbacher (Univ. Linz), Frank Deppe (Univ. Marburg, em.), Klaus Dörre (Univ. Jena), Christoph Ehlscheid (IG Metall) und Klaus Pickshaus (vormals IG Metall, freier Publizist) eine kluge thematische Struktur gewählt. Sie vermag es, die politisch-intellektuellen Beweggründe des Jubilars anhand seiner zentralen Wirkungsbereiche gut einzufangen. Den Einstieg bildet die eingehendere Verständigungsarbeit dazu, was die „Mosaiklinke“ sein kann, sie fordert und vor welchen künftigen Bewährungsproben sie steht (1. Zur Zukunft der Mosaiklinken). Nach diesem Einstiegsteil richtet sich das Augenmerk auf die gesellschaftliche „Homebase“ von Hans-Jürgen Urban: Seine Verdienste um ein erweitertes Verständnis gewerkschaftlicher Machtressourcen, ihre Weiterentwicklung im Zeichen der „ökonomisch-ökologischen Zangenkrise“ (Dörre) und die Rolle von Gewerkschaften als transformative Kraft (2. Zum politischen Mandat der Gewerkschaften). Der dritte Abschnitt knüpft daran direkt an, indem er die Perspektiven demokratischen Wirtschaftens, Widersprüche von sog. „Systemrelevanz“ in kapitalistischen Krisen und die Gefahr von rechten Gegenbewegungen zur „Marktgesellschaft“ (Polanyi) diskutiert (3. Transformation, Rechtspopulismus und Wirtschaftsdemokratie im 21. Jahrhundert). Der Folgeteil widmet sich wiederum einer „unverzichtbaren Institution zur Humanisierung und Demokratisierung unserer Gesellschaft“ (Urban): Der Sozialstaat wird darin – mit vornehmlichem Zuschnitt auf Deutschland – entlang seiner zuletzt pandemiebedingt stark geforderten Sicherungsfunktionen und Rolle für eine sozial-ökologische Wende verhandelt (4. Zur Aufgabe der sozialstaatlichen Erneuerung). Daran knüpft in der vorletzten Themenstation der Fokus auf verschärfte Belastungen in der Arbeitswelt und den Bedarf zur Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes. Dabei dienen mitunter die Digitalisierung und Corona-Pandemie als ein Brennglas dafür, aktuelle Herausforderungen in diesem gewerkschaftlichen Kerngebiet zu diskutieren (5. Aufgaben einer Arbeitspolitik). Der Schlussteil dieser Tour durch wichtige Interventionsfelder des „belesenen Gewerkschaftsintellektuellen“ (so die Charakterisierung von Hans-Jürgen Urban durch Klaus Dörre) widmet sich seinem europapolitischen Aktionsradius. Damit erfährt nicht nur der langjährige Einsatz für einen sozial-ökologischen Paradigmenwechsel der EU eine kritische Würdigung. In diesem Abschnitt eröffnet sich darüber hinaus der Raum dafür, das spannungsgeladene Verhältnis zwischen einem radikalisierten deutschen Exportregime und einer internationalistisch orientierten Mosaiklinken zu diskutieren (6. Aufgaben der Europapolitik).
Zum Buch
Mosaiklinke Zukunftspfade
Gewerkschaft-Politik-Wissenschaft
Verlag Westfälisches Dampfboot,
2021
418 Seiten
Herausgegeben von
Brigitte Aulenbacher, Frank Deppe,
Klaus Dörre, Christoph Ehlscheid,
Klaus Pickshaus
Mosaiklinke Verständigungsarbeit
Diese reichhaltige Aufsatzsammlung liest sich weder schnell „in einem Stück“ noch eignet sie sich als Einstiegslektüre. Dafür ist womöglich einer der vielen Zeitschriften- und Blog-Beiträge des Originals (oder Interviews) zunächst die bessere Wahl. Diese sind mit einem Besuch auf Urbans persönlicher Homepage auch einfach gefunden, ebenso wie ein Überblick zu seinem Schriftenverzeichnis (worauf der Sammelband verzichtet). Zugleich lädt der Sammelband „Mosaiklinke Zukunftspfade“ aus der Perspektive des Jahrs 2021 – also vor der vollen Eskalation des Ukraine-Kriegs – dazu ein, angesichts der dramatisch beschleunigten Krisenumbrüche innezuhalten und auf mögliche Orientierungshilfen in diesem Zeitenbruch zu reflektieren. Dafür müssen an dieser Stelle auszugsweise zwei Beispiele aus dem umfangreichen Diskussionsstoff genügen.
Beklatschte Systemrelevanz
Wenn etwa Brigitte Aulenbacher in ihrem Aufschlag zur „>Mosaik-Linken< in der Transformation des Kapitalismus“ hervorhebt, dass letzterer eine „strukturell sorglose Gesellschaftsformation“ sei, dann gewinnt dieser Befund in der kriegerisch verschärften Vielfachkrise nochmals an Deutlichkeit: Die Folgen dieser Sorglosigkeit wurden in der Corona-Krise zuletzt markant als „beklatschte Systemrelevanz“ auf den Begriff gebracht. Das Verdrängen gesellschaftlicher Reproduktionsfragen aus der ökonomischen und staatlichen Wahrnehmung zeigt sich in der austeritätspolitischen Beschädigung, Privatisierung und (Re)Familiarisierung von Sorgearbeiten in Bereichen wie etwa Gesundheit, Pflege, Bildung oder Kinderbetreuung. Dazu tritt die unmittelbare Brutalität, mit der diese Sorglosigkeit das gerade auch energiepolitisch strauchelnde Europa einholt: Das verdrängte Zerstörungspotential der fossilistischen Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten zeigt sich nicht nur in den Katastrophenfolgen der vertieften Klimakrise. Dazu kommt aktuell die energiepolitische Kriegsführung mit Kohle, Öl und Gas, die Europa drastisch seine wirtschaftlichen und sozialen Schwachstellen vor Augen führt. Aulenbachers Plädoyer für einen mosaiklinken Zukunftspfad, der „gesellschaftliche Sorgenverantwortung und Wirtschaftsdemokratie“ zusammenführt, gewinnt solchermaßen nochmals an Dringlichkeit. Zum einen sind hier Urbans langjährige Arbeiten für ein erneuertes Konzept von Wirtschaftsdemokratie hoch relevant: Etwa wenn es um die gesellschaftliche Rückbindung wirtschaftspolitischer Entscheidungen, die Radikalisierung von gewerkschaftlicher Verteilungspolitik in diesen zugespitzten Transformationskonflikten und die Eingriffe in Verfügungsrechte fossilistischer Großkonzerne für den Übergang zu einer „öko-sozialen Wirtschaftsdemokratie“5 geht. Zum anderen erinnert Aulenbachers Intervention daran, dass das mosaiklinke Projekt zwar vielfach vom Ideal einer neu begründeten Kooperationskultur zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Arbeitsbereichen sowie feldübergreifender Alltagserfahrungen und Expertise getragen ist. Doch dieses wechselseitig ermächtigende Potential soll zugleich nicht verdecken, dass das mosaiklinke Projekt im Gegenzug auch mit der destruktiven Kehrseite der real existierenden, „sorglosen“ gesellschaftlichen Arbeitsteilung konfrontiert ist. Das kann sich nicht zuletzt im Gefälle in der politischen Interessensorganisation und der Deutungshoheit über gegenhegemoniale Prioritäten zeigen: Wenn z.B. die niedrige Gratifikation von Arbeit „am Menschen“ in Sorgesektoren wie Gesundheit und Pflege auf die höher gratifizierte Arbeit in technologieintensiven Exportsektoren trifft (samt gespaltener Erfahrungswerte z.B. in der Corona-Krise). Die Forderung nach einem ausgeweiteten gesellschaftlichen Einfluss auf „die“ Wirtschaft muss für Aulenbacher umso mehr ihre alltäglichen (re)produktiven Grundlagen, die Rückbindung an ihre „Lebensdienlichkeit“ und den „Bruch mit allen Herrschaftsverhältnissen“ einschließen.
Orientierungshilfe im Zeitenbruch
An dieses Plädoyer für ein konsequentes Zusammenführen von „gesellschaftlicher Sorgeverantwortung und Wirtschaftsdemokratie“ lässt sich die Diskussion zu Urbans strategischer Intervention in die sogenannte „Wachstumsdebatte“ gut anschließen: Diese ist von seiner Diagnose getragen, dass kapitalistische Gegenwartsgesellschaften nicht nur als „Überfluss-“, sondern auch als „Defizitgesellschaften“ zu verstehen sind. Daraus resultiert seine Orientierung an einem selektiven Wachstumsbegriff: In den Vordergrund rückt damit die Frage, welche gesellschaftlichen Bereiche in der sozial-ökologischen Transformation notwendigerweise rück- und welche gezielt ausgebaut werden müssen. Vor diesem Hintergrund teilt Ulrich Brand in seinem Beitrag „Wohlstand statt Wachstum!“ zwar die Perspektive eines notwendigen Ausbaus in „defizitären“ Bereichen wie etwa Gesundheit, Pflege, Bildung, erneuerbare Energie, öffentlicher Verkehr, u.v.m. Auch treffen sich die beiden Perspektiven naheliegenderweise dort, wo es um ein anderes Wohlstandsverständnis geht. Doch für künftige Auseinandersetzungen wäre es durchaus aufschlussreich, einen „produktiven Dissens“ über die Widersprüche zu vertiefen, die aus einem derart strategisch selektiven Wachstumsverständnis erwachsen können. So hebt Brand etwa hervor, dass sich die Postwachstums-Perspektive nicht auf eine Dekarbonisierung der industriellen Wertschöpfung beschränkt. Wie weit reicht in diesem Zusammenhang das geteilte Verständnis für notwendige Eingriffe in gesellschaftliche Macht- und Eigentumsverhältnisse? Erweiterte Klärungsarbeiten und Konfliktfähigkeit – auch in den Reihen einer Mosaiklinken – stehen hier beispielsweise noch an, wenn es um die Kriterien für und die Entscheidungsmacht über einen – so Brand – „notwendigen Rückbau industrieller Versorgungssysteme insbesondere in den hochindustrialisierten Ländern“ geht. Damit sind nicht zuletzt die drückenden Fragen nach der gerechten globalen Verteilung klimapolitisch beschränkter Produktionskapazitäten zwischen Nord und Süd, nach der (Über)Nutzung noch vorhandener natürlicher Ressourcen, der Verfügungsmacht über kritische Rohstoffe der Dekarbonisierung (z.B. Lithium, Kobalt) und nach den Grenzen aktueller Rufe nach „strategisch autonomer“ Versorgungssicherheit auf einem brennenden Planeten verbunden. Wie tragfähig ist eine mosaiklinke Perspektive auf die (Post)Wachstumsdiskussion, wenn sie ihre globale Dimension konsequent berücksichtigt? Davon sind geradewegs auch die sozial-ökologischen Grenzen des exportistisch-merkantilistischen Wachstumsmodells Deutschlands und seiner europäischen Ableger berührt. Sie vertiefend im Lichte einer Suche nach Alternativen zur weiteren Verschärfung geoökonomischer Standort-Rivalitäten zu diskutieren, wäre jedenfalls eine weiterführende Debatte wert.
Bruch mit der polit-ökonomischen Erblast
Zuletzt hob die deutsche Wirtschaftswoche hervor, dass den Exportweltmeister gerade eine „Sinnkrise“ plage. Vor dem Hintergrund der explodierenden Energiekosten wird eine „Kranker-Mann-Falle“ für das „Made in Germany“ befürchtet. Kann die Mosaiklinke diese Sinnkrise für einen Bruch mit alten Pfadabhängigkeiten nutzen? Hans-Jürgen Urban hebt in einem aktuellen Beitrag hervor, dass sein Plädoyer für eine „öko-soziale Wirtschaftsdemokratie“ gerade als Kontrast zu einer bloßen „grünen Modernisierung des gegenwärtigen Wachstumsmodells“ zu verstehen ist. Doch was heißt die neuerliche Radikalisierung der globalen „Poly-“ und „Permakrise“ für die Durchsetzungschancen eines mosaiklinken Projekts? Dafür ist der Sammelband zwar in entscheidenden Strategiefeldern eine Orientierungshilfe. Ob das Projekt einer Mosaiklinken in dieser einzigartigen Krisenkonstellation genug Konfliktfähigkeit und gegenhegemoniale Ausstrahlungskraft entwickeln kann – das kann die Aufsatzsammlung freilich nicht beantworten. Über das „Ob“ und „Wie“ lässt sich aber anhand der dort reichlich aufgegriffenen „produktiven Provokationen“ von Hans-Jürgen Urban vortrefflich diskutieren und streiten.
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