Economic Governance sozial ausrichten
Nowak/Soukup: Die Economic Governance der EU sozial ausrichten © AK Wien: EU & Internationales

Die „Economic Governance“ der EU sozial ausrichten: Kleines Stückwerk oder umfassende Reform? 

Autor:innen: Sarah Nowak und Nikolai Soukup

Die „Economic Governance“ – der wirtschaftspolitische Steuerungsprozess der EU – steht seit Langem in der Kritik, wenig ausgewogen zu sein und Budget- und Wettbewerbsdruck vor soziale und ökologische Ziele zu stellen. Nach einzelnen sozialen Initiativen der letzten Jahre taucht nun ein neuer Begriff auf, der an dieser Kritik anknüpft: Innerhalb des Rats wird über ein „Social Imbalances Procedure“ diskutiert. Doch welche Vorschläge stecken dahinter – und würde ein solches Verfahren die EU-Governance grundlegend auf sozialen Fortschritt ausrichten? 

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Mit einem „Social Imbalances Procedure“ ein schiefes Fundament ins Gleichgewicht bringen?  

Es ist ein gewisses Kuriosum in der Welt des Rats der EU: Will eine Delegation eines Mitgliedstaats Ideen zur Diskussion stellen, die noch nicht fertig ausgearbeitet sind, unterbreitet sie den anderen Regierungsvertreter:innen ein Dokument, das eigentlich gar keines ist: ein sogenanntes „Non-Paper“. Ein solches „Non-Paper“ haben die Regierungen Belgiens und Spaniens – im Vorfeld des Sozialgipfels in Porto im Frühjahr 2021 vorgelegt. Ein genauerer Blick darauf lohnt sich, denn es handelt sich um einen Vorschlag, um die soziale Dimension der EU zu stärken – einschließlich des Begriffs eines sozialpolitischen „alert mechanism“. Ein solcher Warnmechanismus ist mittlerweile unter dem Namen „Social Imbalances Procedure“ Thema von Diskussionen in Ausschüssen des Sozialminister:innen-Rats.

Ein Verfahren zu sozialen Ungleichgewichten? Der Begriff löst wohl bei vielen Beobachter:innen der EU-Wirtschaftspolitik unweigerlich Assoziationen zum bereits vorhandenen „Macroeconomic Imbalances Procedure“ (MIP) aus, dem Verfahren zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte. Die Entstehung dieses 2011 eingeführten Verfahrens steht in enger Verbindung zu den Reformen der „Economic Governance“ im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007/08. Während auf der einen Seite die von den Mitgliedstaaten zu befolgenden Budgetregeln verschärft wurden, wurde auf der anderen Seite ein neues Prozedere ins Leben gerufen, mit dem gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte frühzeitig erkannt und bekämpft werden sollten, um zu verhindern, dass sich gesamtwirtschaftliche Probleme in einem EU-Land auf andere Mitgliedstaaten ausweiten. Das MIP-Verfahren basiert auf einem Set an makroökonomischen Indikatoren und sieht vor, dass die EU-Kommission im sogenannten Warnmechanismusbericht einmal jährlich bewertet, für welche Mitgliedstaaten in der Folge vertiefende Berichte erforderlich sind. Mitgliedstaaten, bei denen ein Ungleichgewicht identifiziert wurde, können vom Rat aufgefordert werden, einen Aktionsplan vorzulegen, und als letzte Konsequenz kann im Zuge des MIP-Verfahrens gegen einen Eurozonen-Mitgliedstaat auch eine finanzielle Sanktion verhängt werden.

Hinter diesen Maßnahmen war ein neoliberales Paradigma klar erkennbar. Die verschärften Fiskalregeln schränkten den budgetpolitischen Handlungsspielraum für konjunkturstabilisierende Maßnahmen und Zukunftsinvestitionen weiter ein. Eine weitere Kritik am MIP-Verfahren war, dass es der Kommission ermöglichen könnte, Druck auf Regierungen auszuüben, Arbeitsrechte einzuschneiden und zu weniger stark steigenden Löhnen beizutragen – unter dem neoliberalen Deckmantel der „Wettbewerbsfähigkeit“. Dazu kommt, dass der Artikel im EU-Primärrecht, auf den das MIP-Verfahren gestützt ist, eigentlich keine Rechtsgrundlage für zentrale Elemente des Verfahrens enthält, wie Lukas Oberndorfer analysierte.

Nun soll zu diesen Bestandteilen des wirtschaftlichen Steuerungsmechanismus ein soziales Ungleichgewichtsverfahren ein Gegenstück bilden. 


Zu den Autor:Innen

Sarah Nowak war im August 2022 Praktikantin in der Abteilung Sozialpolitik der AK Wien und studiert an der Wirtschaftsuniversität Wien „Socio-Ecological Economics and Policy“.

Sarah Nowak
© Sarah Nowak
Nikolai Soukup ist Referent in der Abteilung Sozialpolitik der AK Wien.
Nikolai Soukup
Nikolai Soukup © AK Wien


Kurz & Knapp

  • Ein „Social Imbalances Procedure“ als Gegenstück zum „Macro­economic Imbalances Procedure“.

  • Die mögliche Ausgestaltung des SIP-Verfahrens ist noch nicht geklärt und wird derzeit in verschiedenen Ratsausschüssen debattiert.

  • Das Verfahren darf unter keinen Umständen neoliberale Strukturreformen motivieren, die unter einem sozialen Deckmantel verkauft werden.

  • Die „Economic Governance” braucht eine umfassende Reform, um sozial-ökologischen gesellschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen.

  • Kurzfristig kann das SIP unter bestimmten Bedingungen Verbesserungen anstoßen.

„Soziale Ungleichgewichte“ rücken auf die Agenda der EU-Debatte 

Die Debatte um ein „Social Imbalances Procedure“ geht bereits etwas länger zurück. Der Vorschlag wurde erstmals 2019 in einer Studie des Forschungsinstituts European Social Observatory (OSE) im Auftrag der Arbeitnehmer:innen-Gruppe des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses näher ausgeführt. Im Frühjahr 2021 wurde die Idee des SIP von der spanischen und der belgischen Regierung in dem bereits erwähnten „Non-Paper“ aufgegriffen und im Oktober formell auf der Tagung des Rates der Sozial- und Beschäftigungsminister:innen eingebracht.

Über welche konkreten Konzepte eines solchen Verfahrens in den Ratsgremien diskutiert wird, ist nicht öffentlich zugänglich. Laut der Entschließung des Europäischen Gewerkschaftsbundes soll sich das SIP gemäß dem von Belgien und Spanien eingebrachten Vorschlag am MIP orientieren und mehrere Schritte beinhalten. Zunächst würde im Rahmen der jährlichen sogenannten „gemeinsamen Beschäftigungsberichte“ festgestellt, ob in den Mitgliedstaaten ein Risiko für soziale Ungleichgewichte besteht. In sogenannten „Social In-Depth Reviews“ würde dann die Situation in den betroffenen Mitgliedstaaten näher beleuchtet und in weiterer Folge im Rat diskutiert werden. Mitgliedstaaten mit sozialen Ungleichgewichten würden anschließend entsprechende länderspezifische Empfehlungen zu deren Behebung im Rahmen des Europäischen Semesters erhalten. Im Unterschied zum MIP würde das SIP jedoch keine korrigierende, sondern nur eine präventive Komponente beinhalten und entsprechend auch keine Strafzahlungen zur Folge haben.

Die Definition sowie die Operationalisierung eines „sozialen Ungleichgewichts“ ist noch nicht endgültig geklärt, der belgisch-spanische Vorschlag orientiert sich jedoch offenbar an dem bereits existierenden „Social Scoreboard“, das im Rahmen der europäischen Säule sozialer Rechte geschaffen wurde und verschiedenste Indikatoren in den Bereichen Chancengleichheit, Faire Arbeitsbedingungen und Sozialschutz und soziale Integration umfasst.16 In den Ausschussdiskussionen sprechen sich einige Mitgliedstaaten dafür aus, ein soziales Ungleichgewicht in einem breiten Sinn als „Zustand oder Entwicklung, der/die den Arbeitsmarkt und/oder die soziale Lage in einem Mitgliedsstaat oder in der Union insgesamt erheblich beeinträchtigt oder beeinträchtigen könnte“ zu definieren. Andere betonen, dass noch weiter an der Definition und den Indikatoren gearbeitet werden muss. Gemessen werden soll jedenfalls nicht nur das Niveau, sondern auch die Veränderung der Indikatoren, und als Vergleichsmaßstab soll nicht ein absoluter, sondern ein relativer Referenzwert herangezogen werden, der sich am Durchschnitt der EU-Werte orientiert.

Stimmen zu den Vorschlägen 

Dem konkreten Vorschlag zufolge könnte das Verfahren bei sozialen Ungleichgewichten relativ unkompliziert und ohne Gesetzesänderungen erfolgen, da es gänzlich auf den bereits bestehenden Strukturen des Europäischen Semesters basiert und kein korrektives Element enthält. Mehrere Mitgliedstaaten fordern weitere Diskussionen hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung des Verfahrens und dessen tatsächlichen Mehrwerts gegenüber den bereits vorhandenen Instrumenten, einige Länder sprechen sich aber für einen freiwilligen Pilotversuch aus.

Der Europäische Gewerkschaftsbund begrüßt den Vorschlag eines Verfahrens bei sozialen Ungleichgewichten, da die Einführung eines solchen Mechanismus bereits eine langjährige Forderung darstellt und die soziale Dimension der EU stärken würde. Gleichzeitig darf das Verfahren aber unter keinen Umständen neoliberale Strukturreformen motivieren, die unter einem sozialen Deckmantel verkauft werden. Darüber hinaus betont der EGB die Wichtigkeit der Einbeziehung der Sozialpartner in das gesamte Verfahren, um dessen Wirkmächtigkeit zu stärken und den Prozess demokratischer zu gestalten. Ergänzend macht der EGB weitere Vorschläge zur Ausgestaltung des Verfahrens. Beispielsweise könnte es neben dem präventiven Arm auch einen unterstützenden Arm geben, über den die EU von übermäßigen sozialen Ungleichgewichten betroffene Mitgliedstaaten technisch oder finanziell unterstützt und eine Schuldenfinanzierung von öffentlichen Investitionen erlaubt. Zudem denkt der EGB darüber nach, auch ein Verfahren bei ökologischen Ungleichgewichten vorzuschlagen, um die Umweltdimension ebenso in der Steuerung zu berücksichtigen.

Die EU-Governance muss auf gesellschaftlichen Fortschritt ausgerichtet werden  

Eines ist klar: Das Ziel, die soziale Ausrichtung der EU zu stärken, ist wichtig – und angesichts der sozialen Schieflage der EU-Governance und großer sozialer Herausforderungen dringend notwendig. In den letzten Jahren wurden mehrere sozialpolitische Rechtsakte von der EU-Kommission vorgeschlagen und zum Teil von Rat und EU-Parlament fertig ausverhandelt. Zudem haben mehrere Initiativen auf EU-Ebene die Bedeutung von Sozialpolitik diskursiv stärker hervorgehoben – etwa die europäische Säule sozialer Rechte und die Neugestaltung der Dokumente, die das koordinierende Europäische Semester einleiten, welche von „Jahreswachstumsbericht“ auf „Jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum“ umbenannt wurden. 

Wenn es um die „Economic Governance“ geht, sind jüngste Innovationen vor allem kleinteilige Ergänzungen oder Initiativen, denen vor allem Symbolwirkung zukommt. Aufgrund der Covid-Krise wurden die Fiskalregeln temporär ausgesetzt und das Europäische Semester pausierte für ein Jahr. Doch wie soll es grundsätzlich und längerfristig weitergehen mit den wirtschafts- und sozialpolitischen Abstimmungs- und Koordinierungsprozessen zwischen den Mitgliedstaaten? Weiter wie bisher, ergänzt um ein Verfahren, das konsequentere Empfehlungen aus den sozialpolitischen Indikatoren ableitet? 

Wichtig ist aus unserer Sicht, dass die „Economic Governance“ der EU insgesamt kritisch diskutiert und neu gedacht wird. Hierbei geht es um eine politische Debatte unter Einbeziehung breiter gesellschaftlicher Akteur:innen – die technische Diskussion über Indikatoren und Berichte kann dies nicht ersetzen. Der Aufruf der Ratsschlussfolgerungen zu einer „Ökonomie des Wohlergehens“, wonach „bei der Gestaltung der Politik die Menschen und ihr Wohlergehen in den Mittelpunkt“ gestellt werden sollen, muss mehr als ein symbolisches Bekenntnis werden und vielmehr in den Mittelpunkt des EU-Governance-Rahmens rücken. Davon ausgehend gilt es dann, Unterziele und geeignete Indikatoren zu verankern, mit denen der Fortschritt auf dem Weg zur Zielerreichung verfolgt werden kann. Die EU-Fiskalregeln sind grundlegend zu reformieren. Das derzeitige makroökonomische Ungleichgewichtsverfahren ist zudem ungeeignet für einen Governance-Rahmen, der auf sozial-ökologischen gesellschaftlichen Fortschritt abzielt. Klar ist auch, dass die Sozialpartner substanziell in den EU-Governance-Rahmen einbezogen werden müssen und das Europäische Parlament als direkt demokratisch gewählte EU-Institution aufzuwerten ist. Diese und weitere Forderungen hat die AK bereits im Rahmen der Konsultation zur Reform der „Economic Governance“ eingebracht.

Vor diesem Hintergrund erscheint klar: Die kolportierten im Rat diskutierten Vorschläge, die bestehende „Economic Governance“ um ein soziales Ungleichgewichtsverfahren zu ergänzen, greifen zu kurz. Eine grundlegende Reform der „Economic Governance“ ist notwendig. 

Ein Schritt in die richtige Richtung?  

Stellt sich die Frage, ob ein „Social Imbalances Procedure“ zumindest ein hilfreicher Schritt in die richtige Richtung wäre, sollte sich bei einer grundlegenden Reform des EU-Steuerungsrahmens in naher Zukunft nicht viel bewegen? Ein sinnvoll ausgestaltetes Verfahren hätte gewiss das Potenzial, Verbesserungen anzustoßen – das hängt aber von mehreren Voraussetzungen ab: 

Erstens darf ein solches Verfahren nicht dazu führen, den Bestrebungen zu einer grundsätzlichen und umfassenden Reform der „Economic Governance“ in Richtung eines Governance-Rahmens, der auf sozial-ökologischen Fortschritt abzielt, Wind aus den Segeln zu nehmen. Mögliche Argumente, dass es hierbei keinen Spielraum mehr gebe, weil zuvor ohnehin ein SIP-Verfahren eingerichtet wurde, dürfen nicht gelten gelassen werden.

Eine zweite Voraussetzung ist, dass sichergestellt werden muss, dass ein SIP-Verfahren zu keinem Druck in Richtung des Absenkens von sozialen Standards zugunsten einseitig verstandener „Wettbewerbsfähigkeit“ führen darf. 

Drittens muss gelten, dass progressive sozialpolitische Empfehlungen nicht durch andere EU-Mechanismen konterkariert werden dürfen. Würden einer Regierung einerseits stärkere Anstrengungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Armutsgefährdung empfohlen und ihr andererseits ein budgetpolitischer Sparkurs abverlangt, würde kein kohärenter zukunftsorientierter Koordinierungsrahmen erreicht werden. 

Viertens sollten sich sozialpolitische Empfehlungen nicht ausschließlich an quantitativen Indikatoren – seien sie auch noch so sorgfältig ausgewählt – ableiten, sondern diese einen Teil einer breiten Grundlage politischer Diskussionsprozesse bilden. So könnten Empfehlungen zu einer gerechteren Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeitszeit und einer Verkürzung der allgemeinen Lohnarbeitszeit auf der Grundlage gesellschaftlicher Debatten über sozialen Fortschritt entstehen. Auf Basis solcher Debatten – unter Einbeziehung der Sozialpartner und anderer gesellschaftlicher Akteur:innen – sollten auch Empfehlungen erarbeitet werden, die auf einen sozial gerechten Übergang zu einer klimaneutralen Ökonomie („Just Transition“) abzielen. Die Bereitstellung von Indikatoren allein löst noch keine fortschrittlichen politischen Weichenstellungen aus, nicht zuletzt deshalb, weil deren Werte immer einer Interpretation bedürfen, um daraus Handlungsmaßnahmen ableiten zu können. Diese Interpretation sollte jedenfalls nicht allein der EU-Kommission und dem Rat überlassen werden. 

In Ergänzung zu der angesprochenen breiten politischen Debatte sollten fünftens alle Entscheidungen in einem solchen Verfahren vom – direkt gewählten – Europäischen Parlament mitentschieden werden. 

Als Antwort auf die Kritik an der Unterordnung des sozialen Fortschritts in der EU-Governance führt die Einführung eines einzelnen Verfahrens zu kurz. Ob ein „Social Imbalances Procedure“ jedoch zumindest kurzfristig gesehen Verbesserungen anstoßen kann, hängt nicht nur davon ab, ob es sinnvoll ausgestaltet wird, sondern auch davon, welche Akteur:innen in diesem Verfahren mitgestalten und mitentscheiden können.


Die vollständigen Quellenangaben finden Sie
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