Russlands Krieg: Das Ende der Globalisierung, wie wir sie kennen
Autor: Ferdi De Ville
Während der Ausgang des Krieges in der Ukraine noch immer nicht absehbar ist, können wir die globalen wirtschaftlichen Folgen mit größerer Sicherheit abschätzen. Der russische Einmarsch in der Ukraine und die beispiellosen Sanktionen, mit denen der Westen reagiert hat, werden einen Wendepunkt in der Entwicklung der Weltwirtschaft darstellen.
Diesen Artikel downloadenDie Folgen der wirtschaftlichen Isolierung Russlands werden lange über die Dauer des Krieges und der Sanktionen hinausgehen. Die Globalisierung wird sich von diesem Schlag niemals vollständig erholen.
Nachdem Russland am 24. Februar 2022 eine umfassende Invasion in der Ukraine gestartet hatte, reagierten die westlichen Länder mit außergewöhnlich harten Wirtschaftssanktionen.1 Die Europäische Union als Russlands wichtigster Handelspartner, auf den 38 % der russischen Exporte entfallen, spielte dabei eine Schlüsselrolle. Ihre Position als wichtigstes Exportziel Russlands verleiht ihr ein gewisses Druckmittel, das jedoch durch ihre eigene Abhängigkeit von russischen Gas- und Ölimporten teilweise neutralisiert wird. Infolgedessen wurde der EU oft vorgeworfen, Russland mit Samthandschuhen anzufassen. Auf die Besetzung der Krim durch Russland und den Abschuss des Flugzeugs MH17 im Jahr 2014 reagierte die EU hauptsächlich mit diplomatischen Sanktionen und restriktiven Maßnahmen, die sich auf Einzelpersonen und bestimmte Unternehmen beschränkten.
Ziel der Sanktionspakete gegen Russland ist es, die Finanz- und Materialströme zur Unterstützung des russischen Krieges in der Ukraine auszutrocknen.
Die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Reaktion der EU auf den russischen Einmarsch in die Ukraine kam daher für viele überraschend. Deutschland, das oft zu den zögerlichsten EU-Mitgliedstaaten gehört, wenn es um die Anwendung von Sanktionen im Allgemeinen und gegen Russland im Besonderen geht, beschloss, die Pipeline Nord Stream-2 auf Eis zu legen. Die EU schloss ihren Luftraum für alle russischen Fluggesellschaften. Am 2. März wurden sieben russische und drei belarussische Banken aus dem in Brüssel ansässigen SWIFT-Finanznachrichtensystem ausgeschlossen und damit von den internationalen Finanzmärkten ferngehalten – ein Schritt, der noch eine Woche zuvor als „finanzielle Atomwaffe“ angesehen wurde. Mindestens ebenso folgenreich war das Verbot von Transaktionen und das Einfrieren von Vermögenswerten der russischen und belarussischen Zentralbanken.
Außerdem weitete die EU das Einfrieren von Vermögenswerten auf weitere russische Personen aus, darunter Präsident Putin und Außenminister Lawrow, und verschärfte die Exportkontrollen in den Bereichen Energie, Verkehr und Technologie. Zusammen mit anderen Ländern hat die Union die Meistbegünstigung Russlands im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) aufgehoben, so dass sie weitere Beschränkungen für Importe aus Russland verhängen kann.
Globale Wertschöpfungsketten, die lange als Höhepunkt wirtschaftlicher Effizienz galten, werden nun als Ursache für Störungen in den Lieferketten und für Stagflation angesehen.
Ziel dieser Sanktionspakete ist es, die Finanz- und Materialströme zur Unterstützung des russischen Krieges in der Ukraine auszutrocknen. Der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire erklärte sogar undiplomatisch, das Ziel sei es, „den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft herbeizuführen“ – ein Zitat, das er später zurückzog. Die EU versucht sogar, ihre Einfuhren von russischem Öl und Gas rasch zu reduzieren, stößt dabei aber auf den Widerstand der importabhängigen Mitgliedstaaten und insbesondere von Ungarn. Russland reagiert darauf mit eigenen Gegensanktionen, wie Beschränkungen der Rohstoffexporte und der Drohung, westliche Unternehmen zu verstaatlichen.
Vom liberalen Frieden zur bewaffneten Abhängigkeit
Die Ereignisse der letzten Monate erschüttern einige uralte Überzeugungen über das Verhältnis zwischen Wirtschafts- und Außenpolitik. Lange Zeit glaubte man, dass die zunehmende wirtschaftliche Integration zur Ausbreitung der Demokratie in jeden Winkel der Welt führen und Kriege im Zeitalter der Globalisierung undenkbar machen würde. Diese „liberale Friedenstheorie“2, berühmt geworden durch Thomas Friedmans Diktum, dass zwei Länder, in denen es McDonald‘s gibt, keinen Krieg gegeneinander führen würden3, galt als eines der wenigen wahren „Gesetze“ der Politik. Dieses Gesetz ist nun widerlegt worden. Die Globalisierung bzw. die Präsenz von McDonald’s hat Russland nicht davon abgehalten, in die Ukraine einzumarschieren, aber der Krieg hat McDonald‘s nun gezwungen, seine Tätigkeit in Russland einzustellen.
Die Vorstellung, dass wirtschaftliche Abhängigkeit internationale politische Stabilität und Freundschaft garantiert, hatte schon vor dem Krieg in der Ukraine ihren Glanz verloren. Das von Henry Farrell und Abraham Newman 2019 geprägte Konzept der „bewaffneten Abhängigkeit“4, das besagt, dass asymmetrische Abhängigkeit von Staaten zur Verfolgung strategischer Interessen genutzt werden kann, hat sich schnell durchgesetzt. Die Verwendung von SWIFT als Waffe zur Lahmlegung des russischen Finanzsystems ist ein lupenreines Beispiel für diese These.
Nicht nur Wissenschaftler:innen, sondern auch Entscheidungsträger:innen aus der Politik haben in den letzten Jahren begonnen, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass Handels- und Außenpolitik sauber voneinander getrennt werden können oder dass sich ihre Ziele immer gegenseitig verstärken. In der EU wird diese Ansicht, die noch vor einem Jahrzehnt vorherrschend war, heute weithin als „naiv“ angesehen. Der Mangel an medizinischer Schutzausrüstung in den ersten Wochen nach dem Covid-Ausbruch, der dazu führte, dass sich die EU-Mitgliedstaaten um Masken und Handschuhe bemühten, und die demütigende chinesische „Masken-Diplomatie“ gegenüber Italien und anderen Ländern machten deutlich, dass die Abhängigkeit von Importen eine Frage der öffentlichen Gesundheit und der nationalen Sicherheit sein kann und nicht nur ein wünschenswertes Merkmal einer optimalen globalen Arbeitsteilung. Ganz allgemein wurden globale Wertschöpfungsketten und Just-in-Time-Geschäftsmodelle, die lange Zeit als Höhepunkt wirtschaftlicher Effizienz galten, nun als Ursache für Störungen in den Lieferketten und für Stagflation angesehen.
Die Europäische Union reagierte auf die Covid-Pandemie und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen, indem sie ihre Handelspolitik überdachte. In ihrer Überprüfung der Handelspolitik im Jahr 2021 schlug sie die „offene strategische Autonomie“ als neues Leitprinzip vor. Dies bedeutet, dass die Handelspolitik der EU dazu beitragen sollte, dass die EU in der Lage ist, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und die Welt im Einklang mit ihren strategischen Interessen und Werten zu gestalten, anstatt diese Fähigkeit zu untergraben. Die praktische Ausgestaltung dieses neuen Grundsatzes war jedoch alles andere als revolutionär. Offene strategische Autonomie wurde nicht als Imperativ zur Verringerung der gegenseitigen Abhängigkeit interpretiert, sondern eher als Anreiz zur Diversifizierung der Abhängigkeiten, ergänzt durch den Aufbau von Produktionskapazitäten und Reserven bei einer begrenzten Anzahl strategischer Güter.5
Diesmal ist es anders
Während es der Globalisierung in der jüngsten Vergangenheit gelungen ist, nicht nur eine Pandemie, sondern auch eine globale Finanzkrise6, Populismus, Ungleichheit und die Herausforderungen des Klimawandels zu überstehen, könnte es dieses Mal anders sein. Jetzt wird mit Russland eine ganze Volkswirtschaft, die neuntgrößte der Welt (wenn man die EU als Ganzes mitzählt), von der Weltwirtschaft oder zumindest von der westlichen Hemisphäre abgeschnitten. Russland, das sich zwar auf zusätzliche Sanktionen vorbereitet hatte, aber nicht in dem Ausmaß und der Strenge, wie sie sich herausstellten, kämpft nun darum, seine Wirtschaft und sein Finanzsystem neu zu ordnen, um weitgehend unabhängig vom Westen zu werden (vorerst mit Ausnahme der Energieexporte) und stützt sich dabei auf etwas Hilfe von Ländern wie China und Indien.
Seit dem Krieg in der Ukraine und den Sanktionen gegen Russland können sich Regierungen und Unternehmen nicht mehr den Luxus leisten, bei ihren Entscheidungen die Geopolitik zu ignorieren. Die Regierungen werden eine übermäßige Abhängigkeit von Importen strategischer Güter immer weniger tolerieren. Dies wird weder auf fossile Brennstoffe noch auf Russland beschränkt bleiben. Die Dynamik, die sich in den letzten Monaten entfaltet hat, wird bei den politischen Entscheidungsträger:innen die Bedenken verstärken, sich bei der Einfuhr von Arzneimitteln, kritischen Rohstoffen7, Mikrochips und ähnlichem auf (potenzielle) strategische Rivalen zu verlassen. Investitionen im In- und Ausland werden noch kritischer auf Sicherheitsrisiken geprüft werden. Die Regierungen werden versuchen, sich aus Netzen zu befreien, in denen sie sich selbst in einer verwundbaren Position befinden. China und Russland haben bereits Alternativen zu SWIFT erkundet und erwägen, ihre Kräfte in dieser Hinsicht zu bündeln.
Auch Privatunternehmen werden bei ihren Investitions- und Lieferkettenentscheidungen die höhere Wahrscheinlichkeit von Konflikten und Sanktionen berücksichtigen müssen, die zu Störungen führen können. Viele westliche multinationale Unternehmen haben sich in den letzten Wochen aus Russland zurückgezogen, um den Kollateralschäden der Sanktionen zu entgehen oder um ihr Firmenimage zu schützen. Die Kosten für den Abbau von Betrieben in Russland von einem Tag auf den anderen sind hoch. Allein der Verlust, den BP durch den Verkauf seiner 20%igen Beteiligung an der russischen Ölgesellschaft Rosneft erleidet, wird auf 25 Milliarden Dollar geschätzt.8
Selbst wenn der Krieg bald enden würde und das unwahrscheinliche Szenario eintritt, dass die Sanktionen gegen Russland aufgehoben werden, ist es unwahrscheinlich, dass ausländische Unternehmen das Risiko eingehen würden, in diesem Land so zu investieren, wie sie es in der Vergangenheit getan haben. Diese Logik geht über Russland hinaus. Investoren und Unternehmen müssen mit einer viel größeren Wahrscheinlichkeit eines Konflikts rechnen, auf den störende Sanktionen folgen könnten, wie etwa nach einem chinesischen Einmarsch in Taiwan.9
Sicherheitsgetriebene Deglobalisierung
Es ist nicht abwegig, sich vorzustellen, dass der Krieg in der Ukraine und die Sanktionen des Westens gegen Russland die Weltwirtschaft zunehmend in (mindestens) zwei Teile spalten werden. Globale Wertschöpfungsketten, die schon immer regionaler waren, als ihr Name vermuten lässt, könnten innerhalb einer westlichen und einer östlichen Hemisphäre neu verdrahtet werden. Der Krieg in der Ukraine könnte auf diese Weise ein gewisses Maß an Deglobalisierung mit sich bringen, was Aktivist:innen, die sich für mehr soziale und globale Gerechtigkeit einsetzen, schon lange als Ziel verfolgen.
Die sicherheitsgetriebene Deglobalisierung könnte einige positive Nebeneffekte, wie eine Verstärkung der Bemühungen um eine Dekarbonisierung der Wirtschaft haben.
Die sicherheitsgetriebene Deglobalisierung könnte einige positive Nebeneffekte haben. Sie könnte zu einer Verstärkung der Bemühungen um eine Dekarbonisierung der Wirtschaft führen, um die Abhängigkeit von autokratischen Ländern, die fossile Brennstoffe exportieren, zu verringern. Dies hat die Europäische Kommission mit ihrem Plan „REPowerEU“ vorgeschlagen hat, der weniger als zwei Wochen nach Kriegsbeginn angekündigt wurde. Sie könnte auch auf mehr Transparenz bei Finanztransaktionen hinauslaufen und Programme für den „goldenen Pass“ abschaffen, mit denen finanzschwache Länder versuchten, Oligarchen zu ködern. Sie könnte die Lieferketten verkürzen, die Transportkosten und die damit verbundenen negativen externen Effekte verringern und den regulatorischen Wettbewerb einschränken, da die Möglichkeiten der Unternehmen zur Auslagerung und Standortverlagerung beschnitten werden.
Aber eine Deglobalisierung, die von einem gegenseitigen Misstrauen gegenüber der Bedrohung, dass die gegenseitige Abhängigkeit als Waffe eingesetzt werden könnte, angetrieben wird, sollte nicht uneingeschränkt begrüßt werden. Wenn Wirtschaft und Handel überwiegend durch eine geopolitische Brille betrachtet werden, könnte dies dazu führen, dass Sicherheit und Verteidigung nicht nur Vorrang vor Effizienz, sondern auch vor Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit erhalten. Außerdem sollten wir nicht dem Trugschluss erliegen, dass Autonomie den Frieden garantiert, weil Abhängigkeit keinen Krieg verhindert hat. Die Entkopplung zwischen den Großmächten würde die wirtschaftliche Waffe der Sanktionen obsolet machen, so dass nur noch Abwarten oder militärische Mittel übrigblieben.
Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass Autonomie den Frieden garantiert – Abhängigkeit hat keinen Krieg verhindert.
Schließlich werden die Länder des Globalen Südens den handelspolitischen Kurswechsel des Westens mit bitterer Ironie beobachten. Sie haben seit langem gewarnt, dass der Freihandel ihre Sicherheit bedroht, und zwar nicht in militärischer Hinsicht, sondern im Hinblick auf die Gewährleistung ausreichender Nahrungsmittel für ihre Bevölkerung. Die Antwort, die sie erhielten, lautete, dass die Nahrungsmittelsicherheit besser durch billige Importe als durch die Unterstützung der heimischen Produktion oder durch Vorratshaltung gewährleistet ist. Durch den Krieg in der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland besteht nun die Gefahr, dass es in einigen der ärmsten Länder der Welt, von denen viele bei Weizenimporten stark von der Ukraine oder Russland abhängig sind, zu Nahrungsmittelengpässen kommt. Die Welt hat die Pflicht, Hungersnöte als weitere tragische Folge dieses Krieges zu verhindern. Und wenn die Verbindung zwischen Handel und Sicherheit neu definiert wird, dürfen die Interessen und Ansichten des Globalen Südens nicht vergessen werden.
Ferdi De Ville, ao Prof. am Institut für internationale und europäische Studien in Gent; Forschungsschwerpunkt: politische Ökonomie der Europäischen Union, insbes. Außenhandelspolitik
Diesen Artikel downloadenDieser Beitrag erschien zuerst im März 2022 unter dem Originaltitel “The End of Globalisation As We Know It”, Ghent Institute for International and European Studies – Ghent University (ugent.be). Er wurde für diese Ausgabe leicht adaptiert und aus dem Englischen übersetzt von Miriam Frauenlob und Monika Feigl-Heihs auf Basis einer kostenlosen Version von deepL.com.
- Ich möchte mich bei Niels Gheyle und Jan Orbie für Kommentare zu einer früheren Version dieses Beitrags bedanken.
- Siehe etwa: Doyle, Michael W. “Three Pillars of the Liberal Peace” in American Political Science Review 93 no. 3 (2005): 463.
- Friedman, Thomas L. “The Lexus and the Olive Tree: Understanding Globalization”. New York: Picador, 1999.
- Farrell, Henry, and Abraham L. Newman. „Weaponized interdependence: How global economic networks shape state coercion“ International Security 44, no. 1 (2019): 42-79. See also Krickovic, Andrej. „When interdependence produces conflict: EU–Russia energy relations as a security dilemma.“ Contemporary Security Policy 36, no. 1 (2015): 3-26.
- Vgl. Jacobs, Thomas, De Ville, Ferdi, Gheyle, Niels and Orbie, Jan. “The hegemonic politics of ‘strategic autonomy’ and ‘resilience’: COVID-19 and the dislocation of EU trade policy” Journal of Common Market Studies (2022, forthcoming).
- De Ville, Ferdi, and Jan Orbie. „The European commission‘s neoliberal trade discourse since the crisis: Legitimizing continuity through subtle discursive change.“ The British Journal of Politics and International Relations 16, no. 1 (2014): 149-167.
- Vgl. Tobias Gehrke, “Putin’s critical raw materials are a threat to EU economic security”. Egmontinstitute.be, 15 March, 2022.
- Ron Bousso and Dmitry Zhdannikov, “BP quits Russia in up to $25 billion hit after Ukraine invasion”. Reuters.com, 28 February, 2022.
- Hudson Lockett and Edward White, “Investors in Taiwan seek to hedge against risk of conflict with China”. FT.com, 15 March, 2022.
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