20.06.2022

Krieg in der Ukraine: Globalisierung am Scheideweg?

Autorin: Miriam Frauenlob

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine führt zu zunehmenden Verwerfungen in der Weltwirtschaft: Im Globalen Süden ist eine Hungersnot zu befürchten, denn die Preise für Weizen und Mais erleben ein Rekordhoch.

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Die weltweiten Verflechtungen mit der ukrainischen und der russischen Wirtschaft treten jetzt deutlich hervor. Auch auf den Märkten für metallische Rohstoffe herrscht Chaos. Sorge bereitet zudem immer mehr, dass die aktuelle Situation dazu genutzt werden könnte, soziale und ökologische Herausforderungen hintanzustellen.

Krieg in der Kornkammer Europas 

Der brutale Angriffskrieg von Putins Armee gegen die Ukraine führt gleichzeitig zu negativen Effekten in Ländern, die zehntausende Kilometer entfernt sind. Russland und die Ukraine zählen nämlich zu den global wichtigsten Produzent:innenländern von Mais, Weizen und Raps. Gemeinsam sind sie für knapp ein Drittel aller Weizenexporte verantwortlich. Viele Länder, vor allem in Afrika, sind im Bereich agrarischer Rohstoffe stark von Importen abhängig. Hier spielen die Exporte aus Russland und der Ukraine eine tragende Rolle. Auch das UN-Welternährungsprogramm wird zu 40 % durch Weizen aus der Ukraine gestützt1

Durch kurzfristige Lieferprobleme und die drohende Gefahr eines Ausfalls zukünftiger Ernten ist der Preis für Weizen in die Höhe geschnellt. Das stellt insbesondere für Menschen in Ländern, in denen ein großer Teil des Einkommens für Lebensmittel ausgegeben werden muss, ein akutes Problem dar. So werden in Ägypten, das besonders stark von Lebensmittelimporten abhängig ist, schon Versorgungsengpässe befürchtet. Expert:innen warnen, dass die aktuelle Situation zu einer Lebensmittelkrise führen könnte, die schlimmer wird, als jene 2007/2008.2 Begründet wird das unter anderem damit, dass viele Länder im Globalen Süden nach zwei Jahren Pandemie ohnehin vor großen ökonomischen Problemen stünden, sei es durch Kapitalflucht, gestiegene Kosten für Schuldentilgung oder sich verschlechternde Wechselkurse. Auch die in den USA schon angekündigten Zinserhöhungen führen dazu, dass sich der fiskalische Spielraum vieler Länder im Globalen Süden verschlechtern kann.3 Nicht zuletzt ist es aber auch die sich zuspitzende Klimakrise, die schon die Ausgangslage vor dem Krieg zu einer schwierigen machte. 

Expert:innen warnen, dass die aktuelle Situation zu einer Lebensmittelkrise führen könnte, die schlimmer wird, als jene 2007/2008.

Lebensmittelspekulation treibt Preise in die Höhe

Während kurzfriste Ausfälle und Engpässe problematisch sind, ist das größere Problem der massive Preisanstieg. Zwischen Februar und Mai stieg der Weizenpreis von knapp 250 auf teilweise über 400$ pro Tonne. Recherchen haben jetzt gezeigt, dass sich die bestehende Preiserhöhung auch durch Spekulation erklären lässt. Während der Markt für agrarische Rohstoffe bis zum Jahr 2000 sehr stark reguliert war, bestimmen seit dem „Commodities Future Modernization Act“ Terminbörsen die Preise für Agrargüter.4 Auf diesen können reine Vermutungen von Knappheit die Preise in die Höhe treiben. Das lässt sich jetzt auch empirisch beobachten. In der ersten Märzwoche 2022 flossen 4,5 Milliarden Dollar in rohstoffgebundene Fonds (Exchange Traded Funds, ETF). Das entspricht dem Wert, der sonst in einem ganzen Monat lukriert wird.5

Höchste Zeit für eine Rohstoffwende 

Doch nicht nur Preise für Weizen sind in Folge des russischen Angriffskriegs stark gestiegen. Öl und Gas erlebten Rekordpreise, was sich an den Tankstellen und bei den Gasrechnungen bemerkbar macht. Die Situation zeigt eindrücklich, wie stark die Abhängigkeiten von fossilen Energieträgern sind und wie diese als globales Machtinstrument genutzt werden können. Aber auch hier wurden die Preissteigerungen für kurzfristige Profite genutzt und Recherchen haben gezeigt, dass Mineralölkonzerne ihre Preise erhöhten, als der Rohölpreis längst schon wieder im Fallen war.6

Neben Weizen, Öl und Gas sind auch die Preise für metallische Rohstoffe in die Höhe geschossen. So ist der Preis für Nickel kurzfristig so stark angestiegen, dass der Handel damit an der London Metal Exchange Anfang März 20022 für einige Tage ausgesetzt wurde. Auch die Preise für Palladium, Aluminium und Eisenerz sind explodiert.7

Preisschwankungen, ausgelöst durch Turbulenzen wie einen Krieg, führen dazu, dass Preise keine aussagekräftigen Informationen über zukünftige Entwicklungen bieten.

Das Chaos auf den Rohstoffmärkten spiegelt die Abhängigkeiten von diesen Metallen wider. Palladium wird etwa für die Produktion von Halbleitern benötigt und kommt zu 37 % aus Russland. Nickel hingegen ist ein wichtiger Produktionsfaktor für Batterien, die aktuell unter anderem durch die Zunahme der Elektromobilität stark nachgefragt werden. Auch Neon, das für die Produktion von Halbleitern benötigt wird, wird in Russland reichlich gefördert und unter anderem in der Ukraine verarbeitet.8 Während die Sanktionen gegen Russland genau diesen Rohstoffsektor nicht treffen, zeigen die Preisschwankungen dennoch eindrucksvoll die Instabilitäten und Abhängigkeiten in diesen globalen Lieferketten. 

Sorgfaltspflichten entlang von Lieferketten

Schon lange belegen zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und systematische Umweltzerstörung, dass es genug Gründe gibt, Sorgfaltspflichten entlang von Lieferketten zu stärken. Auch die aktuellen Abhängigkeiten unterstreichen die Notwendigkeit einer Rohstoffwende im Rahmen progressiver Industriepolitik auf und die Förderung einer Handelspolitik, die gesamtgesellschaftliche Interessen in den Vordergrund stellt. Hinsichtlich metallischer Rohstoffe würde dies bedeuten Menschen- und Arbeitsrechte besser zu verankern, Recycling zu fördern und auch die Substitution von Primärrohstoffen auszubauen.9 Gleichzeitig zeigt die Situation auch auf, wie wenig der Marktmechanismus in der Lage ist, große Transformationen zu organisieren. Preisschwankungen, ausgelöst durch Turbulenzen wie einen Krieg, führen dazu, dass Preise keine aussagekräftigen Informationen über zukünftige Entwicklungen bieten. Investitionen werden allein dadurch profitabel, dass andere auch daran glauben, dass diese profitabel werden. Dies verglich schon Keynes mit einem Schönheitswettbewerb, bei dem man erfolgreich sei, wenn man auf die Kandidat:innen setzte, von denen man glaubte, dass auch die anderen sie für schön befänden.10,11

Was bedeutet das für die Weltwirtschaft? 

Der Krieg in der Ukraine hat somit die Rohstoffmärkte durcheinandergebracht und gezeigt, wie irrational diese oft funktionieren. Er hat aber auch dazu geführt, dass viele der etablierten Glaubensätze in der Handelspolitik hinterfragt werden. Der Krieg hat nun bewirkt, dass wirtschaftliche Eliten erkannt haben, dass die aktuelle Ausgestaltung der Weltwirtschaft nicht zukunftsweisend ist. So hat etwa Larry Fink, der CEO des Hedgefonds BlackRock davon gesprochen, dass die Globalisierung, wie wir sie in den letzten Jahrzehnten kennen, zu Ende sei.12 Auch kritische Stimmen, die sich schon lange für eine andere Form der Globalisierung ausgesprochen haben, wie etwa der Politologe Ferdi De Ville erkennen in der aktuellen Situation ein Momentum hin zu einer anderen Form der Globalisierung.13 Er argumentiert, dass in der aktuellen Situation klar werde, dass geopolitische Konflikte nicht ignoriert, und schon gar nicht durch liberale Handelspolitik gelöst werden können. Die These, dass Handelsbeziehungen zu mehr Frieden führen würden, sieht er widerlegt. 

Wenn von einem Tag auf den anderen die russische Zentralbank sanktioniert und das Vermögen russischer Eliten beschlagnahmt werden kann, könnten auch andere Länder erkennen, dass ökonomische Kooperation Nachrang hat, sobald geopolitische Konflikte im Raum stehen. 

Ähnlich argumentiert auch der Historiker Adam Tooze. Spätestens durch die Sanktionierung der russischen Zentralbank würde auch der Westen „finanzielle Kriegsführung“ betreiben, schreibt er.14 Das könnte in Zukunft zu fallendem Vertrauen der wirtschaftlichen Eliten untereinander führen. Denn wenn von einem Tag auf den anderen die russische Zentralbank sanktioniert werden kann und das Vermögen russischer Eliten beschlagnahmt wird, könnten auch andere Länder erkennen, dass ökonomische Kooperation Nachrang hat, sobald geopolitische Konflikte im Raum stehen. Insofern wird befürchtet, dass die Hochphase globaler ökonomischer Kooperation vorbei sei und wir eine Phase stärkerer ökonomischer Autonomie zwischen feindseligen Blöcken betreten würden. 

Progressive Alternativen stark machen

Während progressive Akteur:innen schon lange davor warnen, dass die aktuelle Form der Globalisierung nicht nachhaltig ist, scheint die Botschaft jetzt breiter anzukommen. Das ist zu befürworten. Denn schon lange führt die neoliberale Handelspolitik zu Lohn- und Sozialdumping, ökologischer Zerstörung und Ausbeutung entlang der Lieferkette. Insofern ist ein Umdenken in der Globalisierung längst überfällig. Gleichzeitig scheinen die Schlussfolgerungen, die viele liberale und konservative Ökonom:innen und Politiker:innen ziehen andere zu sein, als jene der Globalisierungskritiker:innen.

Vorsicht ist angebracht, wenn ein Rückbau globaler Kooperation vor dem Hintergrund von Sicherheitsinteressen und wechselseitigem Misstrauen argumentiert wird. Wenngleich Bestrebungen zu mehr Autonomie in der Produktion besonders hinsichtlich kritischer Güter zu befürworten sind, ist sicherheitspolitisch motivierte Deglobalisierung weder Garant für Frieden noch die Lösung für globale Herausforderungen. Ganz im Gegenteil, argumentiert Ferdi de Ville, dass eine ökonomische Abkopplung militärische Konflikte sogar noch wahrscheinlicher machen könnte. 

Geopolitische Konflikte werden genutzt, um neoliberale Handelsabkommen voranzutreiben: verschiedenerseits wird eine Neuauflage von TTIP gefordert.

Schon jetzt ist zu beobachten, dass die Situation auch genutzt wird, um die Bewältigung sozialer Herausforderungen hintanzustellen. So behauptete etwa der deutsche Ökonom Lars Feld15, dass durch die Kosten für die Aufrüstung soziale Ziele der deutschen Regierung jetzt Nachrang hätten. Gleichzeitig werden geopolitische Konflikte genutzt, um neoliberale Handelsabkommen mit „freundlichen“ Partner:innen voranzutreiben und von verschiedenen Seiten wird schon eine Neuauflage des zwischen der EU und USA vor ein paar Jahren geplanten TTIP gefordert. Auch hier ist acht zu geben, dass die Situation nicht genutzt wird, um soziale und ökologische Einwände in Handelsbeziehungen hintanzustellen. Denn in der Form, in der TTIP zuletzt verhandelt wurde, hatten Konzerninteressen erste Priorität. 

In diesem Sinne muss die aktuelle Debatte rund um die Globalisierung genutzt werden, um unsere Visionen einer gerechten Weltwirtschaft stark zu machen. Es ist gut, dass Skepsis an der aktuellen Ausgestaltung der Globalisierung geäußert wird. Dabei dürfen aber ökologische und soziale Fragen keinen Nachrang haben. Schon die Corona-Pandemie zeigt, dass es ein Umdenken in der Handelspolitik braucht und die neoliberale Form der Globalisierung nicht zukunftstauglich ist. Großflächige Investitionen in erneuerbare Energien, eine nachhaltige Rohstoffstrategie und eine gerechte Gestaltung von Handelsabkommen wären erste Vorstöße, von denen alle profitieren. 

Miriam Frauenlob, AK Wien

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Dieser Beitrag erschien zuerst am 5.5.2022 als A&W-blog-Artikel16 und ist hier in leicht adaptierter Form abgedruckt.



  1.  https://ourworldindata.org/ukraine-russia-food, abgerufen am 16.05.2022
  2.  Betting on Hunger’: Market Speculation Is Contributing to Global Food Insecurity, abgerufen am 16.05.2022
  3.  Tapering in a time of conflict: Trade and Development Report update (unctad.org), abgerufen am 16.05.2022
  4.  Lebensmittelpreise: Der Krieg tobt nicht nur in der Ukraine, sondern auch auf den Tellern (mosaik-blog.at), abgerufen am 16.05.2022
  5. Ukraine-Krieg: Finanzspekulation treibt Millionen in den | Attac Österreich, abgerufen am 16.05.2022
  6.  www.momentum-institut.at/news/benzinpreise-mineraloelkonzerne-vervielfachten-gewinnspanne, abgerufen am 16.05.2022 
  7.  Höchste-Eisenbahn-für-die-Rohstoffwende-31032022-1.pdf (power-shift.de), abgerufen am 16.05.2022
  8.  Chip-Krise: Ein Ende ist nicht in Sicht - FOCUS Online, abgerufen am 16.05.2022
  9.  Why Onshoring Critical Minerals Mining to the Global North Isn’t Climate Justice (foreignpolicy.com), abgerufen am 16.05.2022
  10. The Whole Field | Phenomenal World, abgerufen am 16.05.2022
  11. Price Wars w/ Rupert Russell & Isabella Weber - The Dig (thedigradio.com),abgerufen am 16.05.2022
  12. Larry Fink and Howard Marks Warn of the End of Globalization - The New York Times (nytimes.com), abgerufen am 23.05.2022
  13. The End of Globalisation As We Know It — Ghent Institute for International and European Studies — Ghent University (ugent.be), abgerufen am 16.05.2022. Siehe auch Übersetzung des Artikels in dieser Infobrief-Ausgabe.
  14. The world is at financial war - New Statesman, abgerufen am 16.05.2022
  15. Rüstungshaushalt: Investitionen & Soziales nicht gefährden! | DGB, abgerufen am 23.05.2022
  16. Folgen des Ukrainekriegs für die Weltwirtschaft - Arbeit&Wirtschaft Blog (awblog.at)



 

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