
Bourdieu, Bildung und Ungleichheit
Die Arbeiten des französischen Soziologen Pierre Bourdieu zur sozialen Ungleichheit prägen bis heute die soziologische und bildungswissenschaftliche Forschung. Aktuelle Entwicklungen wie der Klimawandel, die COVID-19-Pandemie oder die Auswirkungen aktueller Kriege verschärfen soziale Ungleichheit und schlagen sich auch in wachsender Bildungsungleichheit sowie steigender demokratischer Exklusion nieder. Ihre Auswirkungen müssen Bildungsinstitutionen – vom Kindergarten über die Schule bis hin zur Erwachsenenbildung – gezwungenermaßen bearbeiten, moderieren und kompensieren.
Konferenz "Rising Complexities in Education"
Vom 3. bis 5. September 2025 veranstaltete die Arbeiterkammer Wien mit der Britischen Gesellschaft für Soziologie sowie den Universitäten Wien, Innsbruck und Tübingen deshalb die Internationale Bourdieu Konferenz "Rising Complexities in Education: Opportunities and Inequalities". Über 200 Teilnehmer:innen aus Europa, Amerika, Asien und Australien präsentierten und diskutierten dort aktuelle Forschungsergebnisse zur Rolle von Bildung bei der Verfestigung und Überwindung von sozialer Ungleichheit.
Silvia Hruška-Frank strich die Bedeutung der Sozialpartnerschaft hervor
AK-Direktorin Silvia Hruška-Frank eröffnete die Konferenz und verdeutlichte dem internationalen Publikum die besondere Errungenschaft der Sozialpartnerschaft, der Arbeiterkammer und ihr Zusammenwirken mit Gewerkschaften sowie Betriebsrät:innen im Dienste der Interessen der 4 Millionen Beschäftigten in diesem Land. Kaum ein Ort in Österreich verbinde Fragen der sozialen Gerechtigkeit, Bildung und Demokratie so glaubwürdig wie die Arbeiterkammer und ihr Bildungszentrum.
Ann-Marie Bathmaker: Berufshabitus erlernen
In der Eröffnungskeynote betonte Ann-Marie Bathmaker (Universität Birmingham) mit Blick auf „Bourdieus Lehren für die Rolle von Bildung für Berufslaufbahnen“, dass in der beruflichen Bildung nicht nur fachliche Kompetenzen sondern auch spezifische berufliche Verhaltensweisen, Auftreten und Haltung – der Habitus des jeweiligen Berufsfelds – erlernt werden müssten, um im Beruf anerkannt zu werden. Kann dieser Berufshabitus nicht erlernt werden oder passt dieser nicht zum individuellen Möglichkeitsspektrum eines Lernenden, führe das oftmals zu Frustration und Ausbildungsabbrüchen. Präsentation downloaden
Tarabini, Gamsu, Rowell: Gewerkschaftlicher Aktivismus an Hochschulen
Aina Tarabini (Universität Barcelona), Sol Gamsu (Universität Durham) und Carli Rowell (Universität Sussex) diskutierten „gewerkschaftlichen Aktivismus und politische Veränderung im Kontext von Hochschulen“, deren Beschäftigte mit immer prekäreren Beschäftigungsbedingungen und Berufsaussichten konfrontiert sind.
Sol Gamsu sprach sich dabei für die stärkere Nutzung des Internationalismus von Hochschulen aus, um die Arbeitskämpfe und Bewältigung der sozialen Herausforderungen von heute unter politisch-bewussten Hochschulbeschäftigten besser zu vernetzen. Präsentation downloaden
Aina Tarabini forderte den Kampf für einen feministischen akademischen Habitus an Hochschulen ein, der Fürsorge sowie Kooperation in Lernräumen fördert und der derzeitigen konfrontativ-kompetitiven Hochschullogik gegenüberstellt, die letztlich persönliche Isolation und Selbstausbeutung produziere. Präsentation downloaden
Ilkim Erdost: Räume für demokratische Teilhabe schaffen
Am zweiten Tag setzte sich eine Podiumsdiskussion mit dem Thema „Demokratische Teilhabe und die Rolle von Bildung“ auseinander. Bereichsleiterin Ilkim Erdost unterstrich dabei die Aufgabe der Arbeiterkammer, nicht nur die Mitbestimmungsrechte für ihre Mitglieder einzufordern, sondern selbst aktiv Räume und praktische Möglichkeiten für erlebbare demokratische Teilhabe zu schaffen.
Jürgen Czernohorszky: Wiener:innen für die Gestaltung gewinnen
Wiens Stadtrat Jürgen Czernohorszky stellte die Aktivitäten Wiens als Europäische Demokratiehauptstadt 2024/25 vor: Neben einem neu geschaffenen „Büro für Mitwirkung“ zählen dazu unter anderem der Ausbau von Grätzloasen, die Förderung von 270 Partizipationsprojekten und die Abhaltung von 300 Veranstaltungen, alles mit einem Ziel – Wiener:innen zusammenzubringen und für die Beteiligung an der Gestaltung ihrer Stadt zu gewinnen.
Harriet Rowley: Junge Menschen ernst nehmen
Harriet Rowley von der Universität Manchester nannte drei zentrale Punkte, damit die politische Partizipation von Jugendlichen gelingt: (1) Junge Menschen respektieren und ernst nehmen; (2) Demokratie nicht lehren, sondern Jugendliche selbst erfahren lassen; (3) Räume zum Experimentieren schaffen, in denen neue Ideen wachsen. Präsentation downloaden
Tom Kehrbaum: Erfahrungen statt reiner Theorie
Tom Kehrbaum von der IG Metall betonte, dass der Arbeitsplatz ein wichtiger Ort für das Erlernen und Erleben von Demokratie sein kann: Erfolgreiche Lernprozesse und politisches Handeln im Kontext der gewerkschaftlichen Bildung bräuchten aber kooperatives Lernen, Nähe und persönliche Begegnung, Erfahrungen statt reiner Theorie und letztlich Praxisorientierung sowie problemlösungsorientierte Formate. Präsentation downloaden
Steven Threadgold über Soziale Ungleichheit im digitalen Zeitalter
In seiner Abschlusskeynote setzte sich Steven Threadgold von der Universität Newcastle mit „Bourdieu in einer digitalisierten und finanzorientierten Welt“ auseinander. Er gab Einblicke, wie große Unternehmen im digitalen Raum die Klassifizierungslogiken von Bourdieu nutzen, um aus den Daten ihrer Nutzer:innen maschinengenerierte Profile zu erstellen, automatisierte Ungleichheiten („digitalisierte Distinktionen“) zu schaffen und damit Profite zu generieren.
Nutzerverhalten im Netz beeinflusse dann nicht nur, welche Produkte einem in der Werbung angezeigt werden, sondern selbst die eigene Krediteinstufung, den Versicherungsstatus bis hin zu Gesundheitsleistungen. Digitale Bildung müsse diese Zusammenhänge viel stärker bewusst machen, um mit Bourdieu auch die nächsten Generationen für die Analyse von sozialer Ungleichheit im digitalen Zeitalter zu rüsten. Präsentation downloaden