Spätrücktritt bei Lebensversicherungen
Nach einer grundlegenden Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) aus 2013 (C‑209/12) und der ersten Entscheidung des Obersten Gerichtshofes (OGH) dazu aus 2015 (7 Ob 107/15h) steht einem Versicherungsnehmer/einer Versicherungsnehmerin bei fehlender oder fehlerhafter Belehrung des Versicherers über das bei Lebensversicherungen bestehende Rücktrittsrecht ein unbefristetes Rücktrittsrecht zu, der sogenannte "Spätrücktritt". Seitdem wurden von den Versicherungen viele Argumente gegen diesen “Spätrücktritt“ vorgebracht.
Grundsatzfragen entschieden
1. Beschränkung auf Rückkaufswert unzulässig
Der EuGH stellte klar, dass eine Beschränkung auf den Rückkaufswert unzulässig ist.
2. Rücktrittsrecht erlischt nicht nach Kündigung
Das Rücktrittsrecht erlischt nicht, wenn die Lebensversicherung bereits vorzeitig rückgekauft wurde.
3. Fehlerhafte Rücktrittsbelehrung
Nicht jede fehlerhafte Rücktrittsbelehrung berechtigt aber zum Spätrücktritt, sondern nur eine „grob fehlerhafte“. Eine solche liegt vor, wenn den Versicherungsnehmern durch die fehlerhafte Rücktrittsbelehrung die Möglichkeit genommen wurde, ihr Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen auszuüben, wie bei richtiger Rücktrittsbelehrung.
Zum Spätrücktritt berechtigt laut OGH aber, wenn die Rücktrittsbelehrung
- gänzlich fehlt (7 Ob 11/20y)
- unrichtig eine Frist von 2 Wochen statt von 30 Tagen nennt (7 Ob 107/15h)
- die Ausübung des Rücktrittsrechts an gesetzlich nicht vorgesehene Bedingungen knüpft (7 Ob 10/20a)
- im Antragsformular unrichtig und in der Polizze richtig erfolgte (7 Ob 146/20a oder 7 Ob 200/20t, wo auch von „Widerspruchserklärung“ die Rede ist; siehe auch 7 Ob 20/20x, keine Widersprüchlichkeit nahm der OGH aber in 7Ob43/20d an)
Zum Spätrücktritt berechtigt laut OGH aber auch, wenn die Rücktrittsbelehrung nach § 5b VersVG fehlt oder fehlerhaft ist. Dieses Rücktrittsrecht bestand zusätzlich zum Rücktrittsrecht von Lebensversicherungen dann, wenn die Versicherung oder deren Beauftragte (Mitarbeiter/-innen, Versicherungsagenten/-innen; nicht Versicherungsmakler/-innen) bestimmte Informationspflichten nicht eingehalten hatten, zum Beispiel wenn bei Unterfertigung des Versicherungsantrags dem Antragsteller/der Antragstellerin die Bedingungen oder der Antrag nicht ausgehändigt wurden (7Ob194/20k).
Nicht zum Spätrücktritt berechtigen laut OGH aber
- wenn für den Rücktritt die Schriftform verlangt wurde
- die Belehrung über den Fristbeginn mit „Zustandekommen des Vertrags“ anstelle mit der „Verständigung vom Zustandekommen des Vertrags“ (7 Ob 6/20p).
- keine oder eine fehlerhafte Belehrung über die Rücktrittsfolgen (7 Ob 6/21i).
- wenn die Belehrung erst in der Polizze erfolgte und nicht schon im Antrag (7 Ob 121/21a))
- wenn die Belehrung nach § 165a VersVG im Antrag erfolgte und in der Polizze nicht wiederholt wurde, weil dort nur über die Rücktrittsrechte nach § 5b VersVG und § 8 FernFinG informiert wurde (7Ob180/21b)
Folgen des Spätrücktritts
Betroffene Versicherungsnehmer haben Anspruch auf:
- Rückerstattung der geleisteten Netto-Versicherungsprämien (d.h. abzüglich der Versicherungssteuer sowie allfälligen Risikoprämien wie z.B. für den gewährten Ablebensschutz)
- Auch Wertverluste einer fondsgebundenen Lebensversicherung zwischen Ankauf und Rückabwicklung sind von der Versicherung zu ersetzen (7 Ob 117/20m)
- (zumindest) Zinsen für die letzten 3 Jahre
- Rückerstattung der Versicherungssteuer – aus dem Titel des Schadenersatzes (7Ob185/21p)
Vorsicht bei Anwerbungen über soziale Medien
Vorsicht ist allerdings geboten, wenn Ihnen die Rückabwicklung über diverse Kanäle angeboten oder Sie unaufgefordert von Ihnen unbekannten Beratern kontaktiert werden. Oft wird dann gleichzeitig der Neuabschluss eines vermeintlich lukrativen Vertrages vorgeschlagen. Nicht selten gelangen KonsumentInnen damit vom Regen in die Traufe.
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